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Der Traum, der selbst schon die Erfüllung ist.  Wir veröffentlichen Peter Handkes Foto für den Sammelband „Als das Wünschen noch geholfen hat“ – aufgenommen im Winter 1974 in der Nähe seiner Wohnung an der Porte d’Auteuil in Paris – mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags.

©  Peter Handke/Suhrkamp Verlag

Zum Jahreswechsel: Die Kraft des Wünschens: Es wird einmal

"Als das Wünschen noch geholfen hat" - so beginnen zwei Grimm'sche Märchen. Die Kraft des Wünschens inspiriert zum Nachdenken über den Jahreswechsel in einer von Krieg und Terror infizierten Zeit.

Es mag zunächst wie ein Eintrag aus dem Lexikon des unnützen Wissens erscheinen, aber eifrige Textanfangsforscher haben herausgefunden, dass nur etwa 40 Prozent von Grimms Märchen mit „Es war einmal“ beginnen. Die meisten anderen variieren diesen Einstieg bloß graduell: Auch in ihnen springt die Geschichte beherzt in eine als tatsächlich ausgegebene Vergangenheit, angesiedelt in konkreten Räumen und belebt durch fassbare Figuren. Dass sich fortan in diesem Setting absonderliche Dinge zutragen? So sind Märchen nun einmal, wie jede Fiktion, die ihre eigene Realität keck behauptet, mit dem Zuhörer – oder Leser – als willigem Komplizen.

Nur zwei Märchenanfänge unter den rund 200, die die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm Anfang des 19. Jahrhunderts ihren Zeitgenossen abgelauscht haben, machen da eine signifikante Ausnahme. Eines ist „Der Froschkönig oder Der eiserne Heinrich“, das erste der zweibändigen Sammlung. Die abenteuerlich windungsreiche Geschichte beginnt so: „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön. Aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien.“ Der Relativsatz „wo das Wünschen noch geholfen hat“ verweist eindeutig auf die Irrealität von Zauber und Hexerei, behauptet aber gleichzeitig, es habe einmal jene „alten Zeiten“ gegeben – programmatischer und beiläufiger zugleich lässt sich der Grundwiderspruch aller Märchenwelt nicht formulieren.

Warum mir gerade in diesen Tagen, in denen auch das Märchen(vor-)lesen wieder mal helfen mag, dieser raunende Nebensatz so ins Ohr geht? In erster Linie, weil wir uns schon zu Weihnachten individuell – und materiell – ganz besonders wünschen, dass bereits das Wünschen helfen möge. Und weil wiederum mit dem Jahreswechsel allerseits die guten Vorsätze grassieren, die nichts anderes sind als die Wünsche, die wir an uns selber richten. Vor allem aber, weil auch im globalen Rahmen dringend eine neue Zeit herbeizuzaubern wäre, in der das bloße Wünschen wieder hilft.

Das friedliche Europa, seit Jahrzehnten Hoffnungsträger für die Welt: Es war einmal

Denn woher derzeit den Optimismus nehmen, der doch in die Zukunft führen soll oder zumindest in ein neues Jahr? Im Nahen und Mittleren Osten tobt seit Jahren ein Krieg, der die Welt immer spürbarer infiziert. Der regionale Terror treibt Millionen in die Flucht. Der Staatenverbund Europa, ihr Ziel, löst sich angesichts der Unfähigkeit, gemeinsam die Flüchtlinge aufzunehmen, zusehends auf – hinzu kommt der Schrecken angesichts von Anschlägen in der Heimat. Parteien wiederum, die auf zivilisatorische Errungenschaften wie Toleranz und Gewaltenteilung pfeifen, schüren Fremdenfeindlichkeit und Terrorangst, um die Demokratie auszuhöhlen – und setzen ihre Ziele tatkräftig um, sind sie erst einmal selber an der Macht, nach demokratischen Wahlen, versteht sich. Das friedliche Europa, seit Jahrzehnten Hoffnungsträger für die Welt: Es war einmal.

Mit diesen Sorgen gehen nicht nur notorische Zweifler in das neue Jahr. Weil allerdings auch sie wollen, dass das Wünschen helfen möge, registrieren sie aufmerksam etwa die jüngste Syrien-Resolution des UN-Sicherheitsrats oder den Widerstand, der sich in Polen gegen die neue Regierung formiert. Doch neigen sie eher zu einem grammatischen Nebensinn des Wünschens, wie er in dem zweiten Grimm’schen Märchen mit der genannten Eingangsformel angedeutet ist. In „Der Eisenofen“ heißt es: „Zur Zeit, wo das Wünschen noch geholfen hat, ward ein Königssohn von einer alten Hexe verwünscht, dass er im Walde in einem großen Eisenofen sitzen sollte.“ Richtig, im Feld der Zauberkräfte ist das Verwünschen dem Wünschen mindestens gleichwertig. Auch der Realität ist diese Bedeutungsvariante keineswegs fremd.

Bei Handke hat "Als das Wünschen noch geholfen hat" einmal auf den Buchtitel geschafft

Der Traum, der selbst schon die Erfüllung ist.  Wir veröffentlichen Peter Handkes Foto für den Sammelband „Als das Wünschen noch geholfen hat“ – aufgenommen im Winter 1974 in der Nähe seiner Wohnung an der Porte d’Auteuil in Paris – mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags.
Der Traum, der selbst schon die Erfüllung ist.  Wir veröffentlichen Peter Handkes Foto für den Sammelband „Als das Wünschen noch geholfen hat“ – aufgenommen im Winter 1974 in der Nähe seiner Wohnung an der Porte d’Auteuil in Paris – mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags.

©  Peter Handke/Suhrkamp Verlag

Vielleicht ist deshalb besonders dieser Jahreswechsel geeignet, sich scharf auf die Ursprünge des säkular scheinenden Silvester-Brauchtums zu besinnen, das im Kern der Mythen- und Märchenwelt entspringt. So begrüßen die feiernden Feuerwerker nicht etwa fröhlich ein neues Jahr, sondern vertreiben die bösen Geister, die sie aus der dunkel unbekannten Zukunft auf sich zukommen sehen. Genauso gut ließe sich zur Abwechslung das grausig verlaufene 2015 verwünschen. So wären die Böller zum Gebrüll umzudeuten, mit dem die Menschheit explizit das alte Jahr verabschiedet, und die Raketen wären die Lichtgrenze, hinter der es endgültig im Orkus der Zeiten verschwindet.

Assad, Orbán, Putin, Erdogan, Kaczynski - wie gestalt- und leblos sind die Masken der Macht

Bei Peter Handke hat es die so flirrend fiktional sehnsüchtige Märchenfloskel „Als das Wünschen noch geholfen hat“ sogar mal auf einen Buchtitel geschafft. Vor fast 42 Jahren hatte der Schriftsteller, damals Anfang dreißig, mit seiner kleinen Tochter Amina eine Wohnung in Paris bezogen, am Boulevard Montmorency nahe dem Bois de Boulogne. Den Titel, ausdrücklich dem „Froschkönig“ entnommen, setzte er gegen Ideen seines Lektors und auch des Verlegers Siegfried Unseld durch. „Der kommt“, so ließ er später zur Erklärung schlicht wissen, „vom Märchenvorlesen am Abend.“

Das Büchlein, ein Nebenwerk, versammelt ein paar Langgedichte, Zeitungstexte und Aufsätze des großen Melancholikers und Misanthropen, darunter seine bemerkenswerte Dankesrede zum Büchnerpreis 1973. Darin bekennt Handke sich pointiert zum „poetischen Denken“: „Was mich unfähig und unwillig zu einer politischen Existenz macht, ist nicht der Ekel vor der Gewalt, sondern der Ekel vor der Macht; (...) als gestalt- und leblos empfinde ich bis heute fast alle, die mächtig sind.“ Wie aktuell wirkt diese entschiedene Distanz angesichts all der Assads, Orbáns, Putins, Erdogans und Kaczynskis, die derzeit am Ruder sind – und jener ähnlicher Couleur, die in ihren Ländern ans Ruder drängen.

Das Eindrucksvollste aber an dem Taschenbuch sind die Fotos, die Handke 1974 selbst gemacht hat in „seinem“ – man möchte sagen: selig vorterroristischen – Paris. Dazu gehört eine Serie mit Schwarzweiß-Winterbildern der im Bau befindlichen Hochhausvorstadt La Défense, so diesig trüb, als albträumte Handke sich bereits den Pekinger Smog von 2015 herbei. Zwei Farbfotos fassen die verstreuten Texte ein, aufgenommen an der Porte d’Auteuil, das eine morgens, das andere in einer blass besonnten Abenddämmerung. Im einzigen eigens für das Buch verfassten Text, dem Prosa-Gedicht „Die Sinnlosigkeit und das Glück“, heißt es: „An einem kalten, hellen Morgen, / noch beatmet von einem langen, beseligenden Traum,/ in dem man das war, was man sein kann, / – der Traum war selber schon die Erfüllung – /kriegt man beim Anblick des weiten Himmels hinter dem Stadtrand zum ersten Mal die Lust, alt zu werden“.

Der Traum, der „selber schon die Erfüllung“ ist: Er kommt dem Topos des helfenden Wünschens als self fulfilling prophecy sehr nahe. „Es wird einmal“ wäre hierfür die passende Märchenformel. Und es wird gut, so gehört sich das im Märchen, das grundsätzlich happy zu enden hat, sonst wäre es keines. Und 2016? Es möge zumindest besser werden.

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