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Zum Nachlesen: Etwas von der Arbeit

In unserer gedruckten Samstagsbeilage "Mehr Berlin" vom 24. August 2013 haben wir versucht, die Schauplätze des Textes "Etwas von der Arbeit" im heutigen Berlin zu besuchen, den Franz Hessel in seinem 1929 erschienenen Band "Spazieren in Berlin" erstmals veröffentlichte. Hier finden Sie Hessels "Original".

Sicherlich ist in andern Städten der Lebensgenuss, das Vergnügen, die Zerstreuung bemerkenswerter. Dort verstehn es vielleicht die Leute, sich sowohl ursprünglicher als auch gepflegter zu unterhalten. Ihre Freuden sind sichtbarer und schöner. Dafür hat aber Berlin seine besondere und sichtbare Schönheit, wenn und wo es arbeitet. In seinen Tempeln der Maschine muss man es aufsuchen, in seinen Kirchen der Präzision. Es gibt kein schöneres Gebäude als die monumentale Halle aus Glas und Eisenbeton, die Peter Behrens für die Turbinenfabrik in der Huttenstraße geschaffen hat. Und von keiner Domempore gibt es ein eindrucksvolleres Bild als, was man von der Randgalerie dieser Halle sieht, in der Augenhöhe des Mannes, dessen Luftsitz mit Kranen wandert, welche schwere Eisenlasten packen und transportieren. Auch ehe man versteht, in welcher Art die metallenen Ungeheuer, die da unten lagern, zur Bereitung ähnlicher und andersartiger Ungeheuer dienen, ist man von ihrem bloßen Anblick ergriffen: Gussstücke und Gehäuse, noch unbearbeitete Zahnkranztrommeln und Radwellen, Pumpen und Generatoren halb vollendet, Bohrwerke und Zahnradbetriebe fertig zum Einbau, riesige und zwergige Maschinen auf dem Prüfstand, Teile von Turbogeneratoren in der betonierten Schleudergrube.

Während wir in dieser Halle mehr bestaunen als begreifen, wird uns in den kleineren Werkstätten manches zugänglicher. Wir sehen, wie Nickelstahl in Stangenform auf der Schaufel gefräst und geschliffen wird, wie in die Rinnen der Induktorwelle blecherne Zähne eingeschoben werden, wie die gewickelten Erregerspulen zwischen das Zahnwerk greifen. Wir besuchen die Schmiede, wo die Arbeiter glühende Eisenstücke unter den Dampfhammer halten, der sie kerbt und hobelt wie weiches Wachs.

Sehen, wie wie Kohle aus dem Spreekahn mit der Laufkatze herübergekrant

Wir stehn am Wasser vor der Transformatorenfabrik und sehen, wie Kohle aus dem Spreekahn mit der Laufkatze herübergekrant wird in eine Art Eisenhammer, um dort ganz ohne Menschenhand in Kohlenstaub verwandelt zu werden. Wir treten in die Halle, in der niemand zugegen ist, und sehn die Verbrennung in glühender Grotte. Nach den Räumen mit den großen Maschinen besuchen wir Säle, wo Arbeiterinnen ganz dünnen Draht spulen, Hartpapier walzen und zu Schichten ganz leichter harter glatter Rollen pressen, wo von Hand zu Hand das schmale Stanzplättchen wandert, das geglüht, geölt, geschnitten wird .

In der Zählerfabrik macht ein Griff der Maschine aus der Blechplatte eine Schüssel mit hochgebogenem Rand, ein zweiter durchlocht sie. Funkensprühend wird sie genietet und geschweißt. Magnete werden eingefügt. Das ganze Haus ist eine Kette der Arbeit, die ununterbrochen die Werkbänke hin von Stockwerk zu Stockwerk wandert und in weitertragende Schachte geschoben wird. Alle Teile und Teilchen, die den sitzenden Frauen zur Hand liegen, werden dem werdenden Zähler eingefügt, angesetzt, eingeschraubt und geprüft; und zuletzt wird das ganze Zählergebäude verpackt. Stahlbänder schieben sich um Kisten, die auf Rollen zum Fahrstuhl gefordert und auch dort nicht von Menschenhand, sondern mittels eines Hebels an­ gehoben werden. Alle Kraftvergeudung und schwächende Anstrengung wird erspart; immer mehr wird der Arbeiter nur noch Wächter und Anlasser der Maschine. Und wie die Maschinenteile, so wandern auf laufendem Bande auch Tassen und Becher, in welche die Mädchen ihren Tee, Kaffee und Kakao getan haben, und der kommt dann von seinem Rundgang durch die Küche gekocht und fertig zu ihnen zurück. Jede, die da sitzt, hat hinter dem laufenden Band nur ein kleines Stückchen Tisch für sich, und doch ist Platz genug, daß die Nachbarinnen der, die heute Geburtstag hat, ein paar bunte Tassen, Teller und Löffelchen aufschichten konnten, die hinter dem Wanderwerk rührend stillstehn.

"All das machen die Maschinen, die Menschen stellen nur an, nehmen heraus, schieben weiter."

Es ist nicht nötig, alles zu verstehn, man braucht nur mit Augen anzuschauen, wie da etwas immerzu unterwegs ist und sich wandelt. Da ist in einer dieser Stätten andächtigen Eifers ein Metall, von dem man dir erzählt, dass es einen besonders hohen Schmelzpunkt hat und sehr schwer verdampft. In Öfen kann's nicht geschmolzen werden, die würden in Stücke gehn, darum muss das aus dem Mineral gewonnene Metallpulver durch Pressen, Sintern, Hämmern und wieder Glühen allmählich zum festen Stab und weiter zum Draht geformt werden. Und nun kannst du sehn, wie der Draht durch Hämmermaschinen und durch Ziehsteine geht, an den Enden gespitzt und solange geglüht und gezogen wird, bis er zum haarfeinen Fädchen geworden ist, das in der Glühlampe gebraucht wird. All das machen die Maschinen, die Menschen stellen nur an, nehmen heraus, schieben weiter. Und während tausend solcher dünnen und immer dünneren Drähte entstehn, wachsen in andern Sälen tausend Lampenkörper. An runden Maschinentischen, die vor ihren Händen sich drehn, sitzen die Geduldigen, reichen den Griffen zu und nehmen ihnen ab, und gehorsam quetscht die Maschine den Lampenfuß, setzt Halter ein, bespannt das Gestell, schmelzt, pumpt aus, sockelt, lötet, ätzt, stempelt und verpackt. Aber das ist wieder nur ein Teil der Arbeit. Da wird noch geprüft, gemessen und sortiert,  da wird mattiert und gefärbt.

All das geschieht unablässig in Siemensstadt, Charlottenburg, Moabit, Gesundbrunnen, hinter der Warschauer Brücke und an der Oberspree

Und so großartig es ist, im Saal, von der Treppe, von der Galerie auf die kreisenden und surrenden Maschinen zu sehn, so ergreifend ist der Anblick der Nacken und Hände derer, die da werkeln, und die Begegnung des Auges mit ihren aufschauenden Augen.

Um den Fleiß von Berlin zu begreifen, musst du aber auch durch die kleinen Fabriken gehn

Aus dem, was diese Menschen schaffen, kommt Licht in dein kleines Zirnn1er und wandert Häuserfronten entlang, bestrahlt, preist an, wirbt und baut um. Leuchtende Kannelüren an der Decke eines Riesenraums bilden ein festliches Zeltdach von Licht. Konturenbeleuchtung gliedert die Fassade eines Hauses, Flutlicht durchblutet Schaufenster, blaue Taglichtlampen strahlen im Seidensaal, und der Stoff, den der Verkäufer vorlegt, hat die Farbe, die ihm sonst die Sonne gibt. Draußen gehn Wanderschriften über Transparente, Buchstaben formen sich zu Worten und verschwinden, Bilder tauchen auf und wechseln, farbige Räder rollen stumm.

Ganze Häuser entstehen bereits in Hinblick auf die Gliederung des Baukörpers durch das Licht. Man ahnt das Kaufhaus der Zukunft, dessen Wand und Decke Glas sein wird und das Ganze eine Helle. Tags die überall hindringende Sonne, nachts das von Menschen und Maschinen geschaffene Licht.

Daran arbeiten die in den großen Hallen des Eisens und der Elektrizität, um den Fleiß von Berlin zu begreifen, musst du aber auch durch die kleinen Fabriken gehn. Mußt eintreten in einen der Gebäudekomplexe und Höfe des Südostens. Besuche, wie ich es tat, im Viertel der Leder­ und Galanteriewarenbranche, die Rahmenfabrik. Auf den Böden lagert das Holz, wie es aus der Sägerei kommt, und trocknet bei leichtem Durchzug. Wird es dann zugeschnitten, behält jede Scheibe noch am Rand ein Stückchen Wald. So kommt sie in eine Kerbmaschine mit feinen Zähnen, die Ecken einbeißen zum Verzahnen der Rahmenteile und durch die Exhaustoren fliegen die Späne. Mit der Kreissäge werden di langen Leisten verkleinert. Wenn in den großen Maschinenhallen die Männer klein neben Kolossen erscheinen und wie Seeleute oder Bergleute vorsichtig am Rand der elementaren Gewalten bleiben, so beherrschen sie hier ihr Maschinentier mit Bändigerblicken. Ich muss immer wieder den Buckligen ansehn dort an der Kreissäge, dessen Backenmuskeln zornig und herrisch zucken, so oft auf seinen Druck das Messer ins Holz greift.

Bei den siedenden Leimtöpfen und bei Glas und Pappe, die den Rahmen eingefügt werden, hausen viel Mädchen und Frauen. Die Leimerinnen sind ein derberer Schlag als die Kleberinnen und Poliererinnen. Und an diesen könnte man Studien machen über die Beziehungen zwischen dem einen Handgriff, der zu vollführen ist, und der Hand, die hin vollführt. Wie feine Finger hat die, welche immer nur winzige Nägelchen in die Pappschicht hinterm Rahmen einsetzt. Wie geduldig sind die langen Hände jener, die Bilderränder so beschneidet, dass sie gut hinter das Glas passen. Wie kindlich rund sind die Händchen der Blassblonden, die eine Blechform in die kreidige Masse drückt und das Geformte angefeuchtet aufs Holzbrett abstreift, wie es Kinder mit ihren Sandformen auf dem Spielplatz tun. Ihre Arbeit ist ein sympathisches Sonderwerk, denn die Rokoko-Ornamente, die sie dem Rahmen gibt, werd en nicht soviel gebraucht wie die gradlinigeren, sie sind teurer herzu stellen und nicht so zeitgemäß. Das gibt ihnen und ihrer ahnungslosen Schöpferin eine besondre Schönheit. In abgetrennten Räumen arbeiten die Vergolder. Sie haben Gasmasken vor dem Gesicht gegen den Bronzestaub, der den Lungen gefährlich ist. Leider will das Publikum und wollen dementsprechend die vielen kleinen Geschäfte, die Öldrucke verkaufen, nur Goldrahmen. Seit den Tagen der Inflation braucht der Deutsche wieder Glanz in seiner Hütte. Selbst die Rahmen für Photographien müssen vergoldet werden. Das gute alte Mahagoni ist nicht mehr erwünscht. Über die Photographienrahmen bekomme ich noch etwas zeitgeschichtlich Interessantes erzählt. Früher waren Sammelrahmen beliebt, in die mehrere Bilder gingen, eine ganze Sippe etwa, jetzt wird jedes Bild lieber einzeln aufgestellt.

Wie der Markt von Bagdad seine Basare, so hat Berlin seine Stadtviertel

So sind wir von den Rahmen zu dem Umrahmten gekommen: der liebenswürdige Leiter der Fabrik führt mich in den Ausstellungsraum der beliebtesten Öldrucke. Der ist sehr lehrreich. Denn unter den nicht gerade lebensnotwendigen Gegenständen, die man je nachdem als Luxusartikel oder geistiges Volksnahrungsmittel bezeichnen kann, spielt der Öldruck eine große Rolle. Er möbliert unendliche Mengen von Zimmern und Seelen.

Der „bestseller“ der Branche ist seit Jahren immer noch die heilige Büßerin Magdalena, die in ihrem blauen Gewande weich aufgestützt lagert und buhlerisch kontemplativ auf den Totenschädel schaut. Nicht nur bei den Frommen scheint sie begehrt zu sein wie andre Reproduktion en aus dem Bereich der Bibel und Legende, auch die Kinder der Welt wollen sie haben. Lagernde leichtbekleidete Damen haben überhaupt viel Chance. Und als Ralmen ihres von Amoretten umspielten, ins Wolkenweiche verschwimmenden „Pfühls“ ist ein nicht hohes, aber ziemlich breites Format beliebt, das sich gut überm Bett ausnimmt. Haben junge Paare, die solche Glückseligkeits-Öldrucke kaufen, es ernstlich auf Nachkommenschaft abgesehn, so richtet die Schöne im Bilde sich ein wenig auf und betreut ein oder mehrere Kinder. Es wird auch gern gesehn, dass etliche Haustiere das Familienglück noch vollständiger machen. An einer der beliebtesten dieser lagernden, beziehungsweise sitzenden Damen wurde kürzlich, wie mir mein erfahrener Führer erzählt, auf Wunsch des Publikums eine zeitgemäße Änderung vorgenommen, ihr reiches Lockenhaar musste zugunsten des Bubikopfs entfernt werden. Auf andern Gebieten bleiben die Käufer unmodern: das allbekarn1te Bild „Beethoven“, eine Versammlung auf dämmernden Diwanen hockender oder hingegossener Männer und Frauen, die einem Klavier lauschen, hat noch keiner Jazzbanddarstellung Platz gemacht. Von berühmten Männern hat der Reichspräsident nicht mehr soviel Zuspruch, seit er in Zivil ist; und mit seinen Waffenrockbildnissen hat sich die deutsche Familie meist schon während des Krieges eingedeckt.

Die Jahreszeiten mit ihren beliebten Arbeiten und Vergnügungen: Säemänner, Garbenbinderinnen, Jäger usw. in der dazu gehörigen Landschaft „gehen“ immer, und zwar jede speziell zu ihrer Zeit. Das wunderte mich etwas, ich hatte gedacht: im Winter hätte man Frühlingssehnsucht, im Herbst Sommerheimweh.

Wie der Markt von Bagdad seine Basare, so hat Berlin seine Stadtviertel

Ich fange an, mich für Statistik zu interessieren. Ich möchte genauer feststellen: Wieviel Magdalenen braucht Magdeburg? Wieviel Damen auf Pfühl verlangt Breslau? Wo läuft der Alte Fritz Böcklins „Schweigen im Walde“ den Rang ab? Wie hat sich in München von 1918 bis 1928 der Öldruckgeschmack geändert? In welchen Provinzen und Städten überwiegt das Bedürfnis nach Dame mit Kind, Kindern oder Tieren dasjenige nach Dame mit nur Amoretten? Ich fange an, mich für Statistik zu interessieren.

Wie der Markt von Bagdad seine Basare, so hat Berlin seine Stadtviertel für die verschiedenen Betriebe. Der Spittelmarkt, sagt man mir, trenne das Quartier der Konfektion von dem der Mäntel. Ich besuche auf er Konfektionsseite eine Hutfabrik, werde zu den Zeichnern geführt, die nach Pariser Modellen aus Pappe Formen schneiden, zu den Mädchen, die diese Formen in Stoff und Leder nachschneiden in den surrenden Saal der Näherinnen und schließli.ch in einen Raum, wo Eisenformen elektrisch erhitzt werden. Auf ihnen erhält der fertiggenähte und zurechtgebogene Hut seine endgültige Gestalt. Aus einem Schlauch wird er mit Dämpfen behandelt und dann in eine Art Backofen getan, wo er im Stillen weiterschmort. Für den Kulturhistoriker ist es nicht unwichtig zu erfahren, dass es zwar fast gar keine Garnituren mehr gibt, daß aber die Appretur bisweilen Schleifenformen und Bandeaux nachahmt. Vielleicht auch, dass, seit die Mode der knappen Baskenmützen aufgekommen ist, viel Kappen gemacht werden, die aber nicht baskisch streng bleiben, sondern etwas breiter und pagenhafter ausfallen. In dieser Fabrik, die den morgens bestellten Hut bereits abends liefert, entsteht fast alles ganz im Hause vom Zeichentisch bis zur Verpackung. Nur ein kleiner Teil der Hüte wird aus den sogenannten Betriebswerkstätten bezogen, welche Heimarbeiterinnen beschäftigen. Man belehrt mich über die große Rolle, die sonst in der Berliner Konfektion diese Art Arbeitsteilung spielt, bei der der „Zwischenmeister“ von den großen Firmen nach Musterung der Kollektionen die Stoffe übernimmt und teils in seinen eigenen Räumen bearbeiten lässt, teils an Heimarbeiterinnen weitergibt.

"Ein ganzes Studium wäre die Basareinteilung von Berlin."

Solche Zwischenmeister arbeiten zum Beispiel für die große Schürzenfabrik, die ich in einem der Riesenhöfe der Köpenickerstraße besuche. Die hat im Vogtland ihr eigenes Haus, wo der Stoff hergestellt wird. Hier kommt er dann in Maschinen, die viele Lagen auf einmal zerschneiden, in fleißige Hände, die jede von ihrer kleinen Maschine mit einem Griff Hohlsaum oder drei Falten oder Saum­ spitzen machen und Knöpfe am1ähen lassen, welche fester sitzen als die von Menschenhand. In diesem Betriebe darf ich auch in die Büroräume eintreten und die neuen Verbesserungen des kaufmännischen Ressorts kennen lernen. Da sehe ich Rechenmaschinen, die multiplizieren, Markenkleb- und Aufdruckmaschinen, neuartige Kartotheken und an der Wand Karten mit den Wanderplänen der Reisenden, auf die unten in der Garage die Musterkoffer zu zwanzig und zwanzig in großen Autos warten.

Am Moritzplatz ist das internationale Exportlager gewisser Artikel

Ein ganzes Studium wäre die Basareinteilung von Berlin. Es gibt da, abgesehen von den großen Quartiers der Tischlerei und Metallbearbeitung, der Hausindustrie, der Wollwaren, der Konfektion noch besondere Spezialitäten, zum Bespiel eine Straße, in der seit vielen Jahrzehnten Beleuchtungskörper hergestellt werden, die Ritterstraße. Am Moritzplatz ist das internationale Exportlager gewisser Artikel, die aus dem Erzgebirge, Thüringen und Nordböhmen kommen, wie Schaukelpferde, Teepuppen, Frisierkämme, Jesusfiguren, Zinnsoldaten und Gummikavaliere. Die ganze Seydelstraße entlang stehen gespensterhaft in den Schaufenstern die Puppen der Büsten- und Wachskopffabriken, die Attrappen und „Stilfiguren“ der „Schaufensterkunst“, die in Tausenden von Exemplaren durch ganz Deutschland und weiter wandern, um Hemden, Kleider, Mäntel und Hüte zu tragen. Interessant, was für Gesichter die wachsköpfigen Mannequins schneiden! Mit spitzen Mündern fordern sie dich heraus, schmale Augen ziehen sie, aus denen der Blick wie Gift tropft. Ihre Wangen sind nicht Milch und Blut, sondern fahles Gelbgrau mit grüngoldenen Schatten. Kein Wasserstoffsuperoxyd kann ein so böses Blond hervorrufen, wie die Tönungen ihres Haars es haben. Oft sind die Gesichter nur skizzenhaft modelliert und die angedeuteten Mienen sind dann von besondrer Verderbtheit. Sowohl in der Steife wie in der sportlichen Elastizität ihrer Bewegungen ist eine kühle Mischung von Frechheit und Distinktion, der du Armer nicht wirst widerstehen können. Aufregend sind die Grade ihrer Entblößung. Ganz goldnackte strotzen und silberne blinken, die nichts anhaben als bräunliche Schuhe; freibusige behalten, sich dir zu entziehen, eine Art Leibschurz und Strümpfe an. Bemerkenswert sind auch die Männerköpfe, auffallend die vielen Männer der Tat mit dezidiertem Ausdruck und winzigen Klebeschnurrbärtchen. Soweit sie Leiber haben und nicht nur ein Gliederpuppengestell, müssen sie sie in schwarzen Trikots verbergen, es sei denn, dass sie sich ganz bekleidet im Frack und Smoking zwischen den nackten Damen bewegen und dabei noch über Kinder hinwegschauen, die in blauen Kleidchen und roten Flatterkrawatten uns etwas vortummeln.

Aber es gibt im Büstenhof auch Beine einzeln. Und rätselhafte Gestelle, unten eine Goldkugel, darauf eine Art Frauentorso, der in einen stilisierten Arm und einen abgeschnittenen Armstumpf endet. Das wird alles seine praktische Bewandtnis haben, aber ich starre unwissend in diese Fülle von Wesen und Wesensteilen, Gestellen und Gesichtern, von denen einige sogar Brillen tragen.

Der Text erschien 1929 in Franz Hessels "Spazieren in Berlin". Heute zu kaufen gibt es das gesamte Werk zum Beispiel hier.

Franz Hessel

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