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Andrzej Wirth in seiner Wohnung neben der Uniform seines Vaters, der Mitglied der polnischen Exilregierung war.

© Mike Wolff

Zum Tod von Andrzej Wirth: Der letzte Zeuge des Warschauer Aufstands

Er war ein Mann der Geschichte, Universalgelehrter und großer Theatergeist. Jetzt ist Andrzej Wirth mit 91 Jahren in Berlin gestorben.

Wir waren Freunde und in Berlin-Charlottenburg fast Nachbarn. Vor einigen Tagen erst rief er mich an, wie zuletzt immer mit leiser, etwas brüchiger Stimme, in der sonst doch immer noch eine Spur seines Humors, seiner weltweisen Ironie mitschwang. Diesmal klang er ungewohnt traurig: „Ich bin auf den Kanaren, auf Lanzarote.“ Ich dachte, wie schön, aber Andrzej Wirth sagte: „Es ist kalt hier. Ich fühle mich allein und werde ein Flugzeug zurück nehmen.“ Wir wollten uns dann bald zum Abendessen treffen.

Auf Lanzarote war er in einem „Anthroposophischen Zentrum“, wo manchmal auch Dieter Kosslick einkehrt. Doch Andrzej, der im April 92 Jahre alt geworden wäre und früher dem deutschen Winter gerne nach Kalifornien oder an den Golf von Mexiko entflohen ist, er suchte wohl eher die klimatische als die anthroposophische Wärme. Wieder in Berlin hat er mir vergangenen Donnerstag noch einen seiner legendären poetisch aphoristischen „Kurztexte“ gemailt, eine Botschaft, die er Freunden auf deren Flug nach Australien mit auf den Weg gab:

„G O T T IS / A SUPERIOR ANIMAL“. Überschrieben war der Text: „Eine bessere Welt“, auch dies in Versalien. Und jetzt ist er selbst in einer – anderen Welt. Denn in der Nacht zum Montag ist der große Theater- und Kulturwissenschaftler, der Übersetzer und Essayist Andrzej Wirth in einem Berliner Krankenhaus an einem Nierenversagen gestorben.

Der berühmteste Theaterlehrer Mitteleuropas

Am Ende war er der wohl berühmteste und nach eigener sarkastischer Einschätzung auch berüchtigste Theaterlehrer Mitteleuropas. Andrzej Wirth hatte 1982, nachdem er zuvor an den illustren Universitäten von Stanford, Harvard, Yale sowie in Oxford und früher schon an der FU in Berlin doziert und auch inszeniert hatte, im stillen hessischen Gießen das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft gegründet. Zu seinen Schülern gehörten René Pollesch, Hans-Werner Kroesinger, Moritz Rinke, die Köpfe der Gruppen Rimini Protokoll, She She Pop (gerade wieder zum Berliner Theatertreffen eingeladen) oder Gob Squad.

Nach dem Vorbild der angelsächsischen Drama Departments stellte Wirth die schiere Theaterwissenschaft auch auf die bühnenpraktischen Füße und ließ während des Studiums immer wieder spielen und inszenieren, improvisieren und experimentieren. Die so genannte neue deutschsprachige Theaterszene verdankt ihm, der bis zum Schluss ein durchaus eigenes Deutsch mit amerikanischen und polnischen Untertönen sprach, mehr als jedem Anderen. An Theorie (denn er war ein scharfsinniger, universell gebildeter Intellektueller) wie an unmittelbarer künstlerischer Inspiration.

Nach Gießen kam auf Wirths Einladung plötzlich die Welt und gab Workshops, Kurse, hielt Vorträge. Von Robert Wilson bis Heiner Müller. Und er war zumindest in Deutschland der letzte Augenzeuge des Warschauer Aufstands 1944, den er als 17-jähriger Schüler und und Botengänger im Geschosshagel miterlebt hat.

Sein Vater war zu dieser Zeit als Offizier Mitglied der polnischen Exilregierung in London, die Uniformjacke hat der Sohn in seiner Charlottenburger Wohnung gut bewahrt und mit dem ihm eigenen Sinn für schwarzen Humor und hellen Respekt auf Parties gelegentlich wie ein Mannequin der Weltgeschichte auch selbst getragen.

Geboren wurde er in der Nähe von Sobibor

Im Nachkriegspolen hatte er nach dem Studium der Philosophie und Literatur über Brecht promoviert und, zum Teil mit seinem etwas älteren Freund Marcel Reich-Ranicki, Kafkas „Schloss“, Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, den frühen Günter Grass oder Max Frisch ins Polnische übersetzt. Geboren 1927 auf einem Landgut im Dreiländereck zwischen Ostpolen, Weißrussland und der Ukraine, nahe dem späteren NS-Vernichtungslager Sobibor, prägten Andrzej die Erinnerungen daran, wie er als mutiger Junge den Warschauer Aufstand überlebt hatte und danach den Stalinismus, selbst wenn er das mit seinem Charme oft überspielte.

Im Tauwetter nach Stalins Tod war er unter anderem Redakteur der legendären Zeitschrift „Nowa Kultura“ und entkam der neuen stalinistischen Eiszeit durch ein Stipendium in den Westen. Dort lehrte Wirth als Gastprofessor und gehörte durch seine Verbindung zu Grass und Frisch alsbald zur Gruppe 47, deren Auslandstreffen er in Princeton, mit dem aufsehenerregenden ersten Revoluzzer-Auftritt von Peter Handke, mit organisiert hat. Jetzt wird er fehlen, wenn sein legendärer weißer Dandyschal ihn und uns nicht mehr umweht.

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