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Chronist des Holocaust. Claude Lanzmann (27.11.1925 bis 5.7.2018) in Paris.

© Joel Saget/AFP

Zum Tod von Claude Lanzmann: Ein Mann, ein Jahrhundert

Gegen die Endlichkeit und das Vergessen: Der Autor und Filmemacher Claude Lanzmann ist tot.

Von Gregor Dotzauer

Er war vom Schlage derer, die den eigenen Tod für ausgeschlossen halten. Vielleicht rechnete Claude Lanzmann in irgendeiner Kammer seines unbeugsamen Herzens mit der Möglichkeit seines Ablebens, weil er so viele andere hatte sterben sehen. Doch gegen die unausweichliche Tatsächlichkeit, die ihn nun am Donnerstag in Paris mit 92 Jahren ereilte, lehnte er sich ein Leben lang auf, einem Gott zürnend, an den er nicht zu glauben vermochte. „Der Tod ist ein Skandal“, erklärte er vor fünf Jahren in seinem letzten Gespräch mit dieser Zeitung, aus Anlass des Ehrenbären, den ihm die Berlinale für sein filmisches Werk verlieh.

Das Thema hatte ihn früh heimgesucht. Claude Lanzmann, am 27. November 1925 in Paris geboren, erwartete in einer Art Leibgefühlsstörung mit dem Namen Koenästhesie schon als Kind den Tod, wie er in seiner Autobiografie „Der patagonische Hase“ (Rowohlt Verlag) berichtet. In Alpträumen sah er, wie das Fallbeil der Guillotine auf ihn niedersauste. Die Neurose stattete ihn mit jener maßlosen Liebe zum Leben aus, in der er sich wohl bis zuletzt als Siegfried erlebte. Zugleich verwandelte er sie in eine moralische Empörung, die ihn zu einem Gegner der Todesstrafe machte.

Lanzmann münzte viele libidinöse Energien in Haltungen um. Selbst die besten unter ihnen trug er aber mit einer Arroganz vor, die weder Widerrede duldete noch Konkurrenz. Als er den „Patagonischen Hasen“ 2010 im Berliner Ensemble vorstellte, saß beim anschließenden Essen der schon schwer parkinsonkranke Imre Kertész neben ihm, jener ungarische Literaturnobelpreisträger, mit dem ihn nicht nur ein problematisches Judentum verband, sondern auch das Thema Auschwitz – nur dass Kertész das Lager selbst erlebt hatte. Lanzmann würdigte Kertész den ganzen Abend lang kaum eines Wortes. Beim Hinausgehen soll Kertész in seinem österreichisch eingefärbten Deutsch gesagt haben: „Hochmut kommt vor dem Fall.“

Selbstinszenierung im unversiegbaren Saft der Kräfte

Ein Mann, eine Kraftnatur, ein Jahrhundert. Das waren die Erinnerungen, die er im „Patagonischen Hasen“ festgehalten hatte. Eine Selbstimagination als Kerl und Koloss, eine Inszenierung im unversiegbaren Saft der Kräfte, voller lautstarkem Stolz, auch die schlimmsten Schrecken seines Lebens überwunden zu haben. Seinem Studium an der Sorbonne nach war er Philosoph und hatte über die Monadenlehre von Leibniz promoviert. Aber es zog ihn zum Journalismus, und wie er es von sich selbst erwartete, wurde er ein Star. Zwischen dem Schauspielerporträt und dem politischen Essay betätigte er sich in vielen Genres. Von der damals publizistisch noch bedeutenden französischen „Elle“ bis zur Zeitschrift „Les Temps Modernes“, zu der ihn sein Mentor und Freund Jean-Paul Sartre geholt hatte, bediente er zahlreiche Medien. Eine 1958 veröffentlichte Reportage wie die über den Prozess gegen den „Cure d’Uruffe“, einen lothringischen Priester, der eine 20-Jährige geschwängert hatte, sie vor der Entbindung erschoss, das Kind aus dem Leib schnitt, taufte, mit der Letzten Ölung versah und verstümmelte, enthält schon Lanzmanns ganzen Sinn für Grausamkeit sowie seine Opfer- und Täterempathie, die ihn befähigte, „Shoah“ zu drehen. Der Text eröffnet seine Textsammlung „Das Grab des göttlichen Tauchers“ (2015).

Die neuneinhalb epochalen Stunden von „Shoah“ (1985), in denen Lanzmann mit Zeitzeugen aus den Lagern und Ghettos von Auschwitz, Treblinka, Warschau und Vilnius kalt insistierende Gespräche über das Handwerk des Tötens führte, ohne einen einzigen Leichnam zu zeigen, waren da noch fern. Aber man muss gerade Lanzmanns junge Jahre würdigen, um die Talente und Obsessionen zu verstehen, die ihn erst jenseits der vierzig zum Dokumentarfilm führten. 1972 debütierte er mit „Warum Israel“ (1972). In drei Stunden legte er darin mit zahllosen prominenten und wenig prominenten Interviewpartnern die Notwendigkeit der Staatsgründung aus zionistischer Sicht dar. Was der intellektuelle Haudegen während des Zweiten Weltkriegs als Résistancekämpfer und Partisan als militärischen Mut bewundern lernte, projizierte er später überdies in die israelische Armee. Davon zeugt sein Film „Tsahal“ (1994), der als Schlussstein seiner sogenannten jüdischen Trilogie gilt.

Lanzmann macht noch aus seinen Dummheiten das Beste

Nach dem Krieg ging er nach Tübingen und Berlin, wo er 1949 zwei Semester als Lektor an der Freien Universität verbrachte. Ein zweitägiges Symposion zu seinem 90. Geburtstag im November 2015 brachte ihn noch einmal nach Dahlem zurück. Es folgten Reisen in alle Welt sowie Ehen mit der Schauspielerin Judith Magre und der 2016 in Berlin verstorbenen Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff. Dazu kommen sieben eheähnliche Jahre mit Simone de Beauvoir, über die er amüsant im „Patagonischen Hasen“ berichtet. Lanzmann glaubte, noch aus seinen Dummheiten das Beste gemacht zu haben. Sonst hätte er nicht berichtet, wie er sich mit Simone de Beauvoir zweimal ohne jeden Sonnenschutz, nur mit Espadrilles ausgerüstet, in die Alpen wagte. Die Strafe folgte auf dem Fuße.

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Umwerfend auch das Porträt der stotternden Mutter Paulette, die ihre drei Kinder verlässt, um nach Jahren mit einem Liebhaber wieder aufzutauchen. Und ergreifend die Geschichte seiner Schwester Evelyne Rey, die sich als 16-Jährige hoffnungslos in den Philosophen Gilles Deleuze verliebt, dann eine von Sartres Konkubinen wird, in eine Verstrickung mit dem Regisseur Claude Roy gerät und, von ihrer schauspielerischen Arbeit überfordert, mit 36 Jahren Selbstmord beging. Man übertreibt nicht, wenn man in diesem einschneidenden Verlust einen weiteren entscheidenden Antrieb von Lanzmanns trotzigem Lebensdrang sieht.

Er hatte dieses Buch nicht wirklich geschrieben – er hatte es diktiert. „Ich saß neben Juliette Simont, die tippte, was ich sagte, und gegenüber befanden sich ein Notebook und ein großer daran angeschlossener Bildschirm“, berichtete er 2010 mit kratziger Stimme in Berlin. Die Woche zuvor war er in Paris verschwitzt von seinem Rennrad gestiegen und hatte sich erkältet. Sein Zustand schien ihn erst recht dazu zu animieren, das Ergebnis in den höchsten Tönen zu loben. „Eine große Qualität meines Buches ist seine Ehrlichkeit“, sagte er. Und, fügte er hinzu, „es ist ausgezeichnet geschrieben. Claude Lanzmann kann einfach schreiben. Es gibt Sätze von zwanzig Zeilen Länge, die es verdienen, in literarischen Handbüchern zitiert zu werden, Sätze von klassischem Zuschnitt. Dieses Buch ist ein Stück echter Literatur.“

Seine Tagebücher weisen auch Ungenauigkeiten auf

Gerade weil er dabei weder auf Tagebücher noch sonstige Aufzeichnungen zurückgreifen konnte, ist es nicht frei von Ungenauigkeiten. Zum Beispiel hält Lanzmann daran fest, dass Edwin Redslob, Ende der vierziger Jahre Rektor der Freien Universität, Emmy Göring bewundernde Sonette gewidmet habe. Nach der französischen Veröffentlichung klärte der Historiker Jochen Staadt über die Umstände auf. Die nach dem Krieg in der „Berliner Zeitung“ erschienenen Gedichte waren eine kommunistische Denunziation. Wenn in diesem Fall die subjektive Erinnerung über die Fakten siegte, mag es auch sonst vereinzelt zu Stilisierungen gekommen sein. Doch anders als seine Filme und die aus ihnen entstandenen Bücher, handelt es sich eben um ein Memoir mit allen Vorzügen und Nachteilen.

„Der patagonische Hase“ ist Lanzmanns spätes opus magnum. Ein Buch, das ihm bewies, dass er auch beim Schreiben hätte bleiben können, wie es sein jüngerer Bruder, der 2006 verstorbene Jacques Lanzmann getan hatte. Er wurde vor allem als Texter von Jaccques Dutronc berühmt. „Er hat einige sehr schöne Bücher geschrieben und großartige Chansons“, gestand er ihm zu. „Er hat insgesamt aber zu viel veröffentlicht; und nicht alles ist gut. Aber vom ersten Buch meines Bruders, ,La glace est rompue’, das er mir als Manuskript geschickt hatte, war ich ergriffen, obwohl so viele syntaktische und grammatische Fehler darin waren. Er konnte wegen des Krieges ja nie studieren. Ich zeigte das Manuskript Sartre. Wir haben es dann redigiert, damit es veröffentlicht werden konnte.“

"Shoah“ ist eine erschütternde Inspektion des Grauens

„Shoah“, diese durch ihre Sentimentalitätsverweigerung besonders erschütternde Inspektion des Grauens, bleibt indes sein filmisches Hauptwerk. Die analytischen Gespräche mit Opfern und Tätern, die langen Fahrten über ein Gelände, das sich wieder in aller Unschuld zeigt, sind sowohl in ihrem ästhetischen Zugriff wie in der historischen Zeugenschaft ohne Beispiel. Das Gros der nachfolgenden Filme – die Nordkorea-Dokumentation „Napalm“ (2017) ausgenommen – wuchs daraus oder benutzte sogar Material, das beim Drehen von „Shoah“ liegengeblieben war.

Dazu gehört vor allem das große Interview mit dem Rabbiner Benjamin Murmelstein, das Lanzmann 1975 führte, aber erst 2013 unter dem Titel „Der Letzte der Ungerechten“ ins Kino brachte und 2017 als Buch veröffentlichte. Murmelstein war im Theresienstädter Ghetto von September 1944 an der letzte sogenannte Judenälteste. Lanzmann verteidigte ihn gegen den Vorwurf, mit den Nazis kollaboriert zu haben. Murmelstein, behauptete er, habe keine Freiheit zu moralischem Handeln gehabt. Auch „Les Quatres Sœurs“ ist eine Montage Interviews mit Zeitzeuginnen. Seine vier Stunden sind jetzt zum Epitaph dieses unvergleichlichen Lebens geworden.

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