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Zum Tod von Joachim Seyppel: Grenzgänger zwischen West und Ost

Berliner, US-Bürger, Westdeutscher, DDR-Übersiedler, Wahl-Hamburger: Der Schriftsteller Joachim Seyppel zog meist zornig zwischen den Welten hin und her. Nun ist er 93-jährig in Wismar gestorben.

Auf welchem Kontinent sich der passionierte Reisende Joachim Seyppel auch aufhielt, immer zog ihn der Boden der Tatsachen an, die unmittelbare Realität. Er war im besten Sinne und im Anklang an die atemlosen zwanziger Jahre ein Asphalt-Literat. So hieß eines seiner schönsten Bücher „Trottoir und Asphalt“ (1994), eine angenehm unsentimentale Erinnerung an das literarische Berlin der Nachkriegsjahre. Sein journalistisches Talent und viel produktive Unruhe bewahrte sich der am 3. November 1919 in Berlin-Steglitz geborene Joachim Seyppel bis ins hohe Alter. Im Tagesspiegel meldete er sich unter anderem mit Reportagen vom Balkan zu Wort. 1998 veröffentlichte er „Schlesischer Bahnhof“, ein autobiografisches Mosaik rund um das Leitmotiv des Überlebens. Wie Böll, Bobrowski oder Wolfdietrich Schnurre gehörte Seyppel den vom Krieg dezimierten Jahrgängen an. Er war ein „Davongekommener“, ein Freigeist und Grenzgänger. Scheinbar spielerisch wechselte er die politischen Systeme des 20. Jahrhunderts und spiegelte dies mit zunehmender Desillusionierung in seinem Werk.

Der Sohn eines kaufmännischen Angestellten und einer Hutmacherin besuchte wie Nicolaus Sombart das renommierte Grunewald-Gymnasium (heute WaltherRathenau-Schule). 1943 promovierte er in Rostock und wurde Soldat im Sanitätsdienst. Wegen „Wehrkraftzersetzung“ zur sogenannten Frontbewährung verurteilt, geriet er bis Herbst 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. 1949 ging Seyppel als Germanistikdozent mit einem Harvard-Stipendium in die USA. Zeitweilig erwarb er die US-Staatsbürgerschaft und kehrte 1961 desillusioniert nach West-Berlin zurück. Davon zeugt der Roman „Columbus, Bluejeans oder Das Reich der falschen Bilder“. Seyppel übersetzte rebellische Autoren wie James Baldwin oder Kurt Vonnegut und machte sich mit Glossen wie „Als der Führer den Krieg gewann oder Wir sagen Ja zur Bundesrepublik“ (1965) rasch Feinde: Das Buch erschien nur im Ost-Berliner Aufbau-Verlag, ein Rundfunksender erteilte Seyppel Hausverbot.

Im Herbst 1973 übersiedelte er in den 14. Stock eines Ost-Berliner Hochhauses. Dort schrieb er „Die Wohnmaschine oder Wo der Mohn blüht“. Der Titel der bissigen Satire auf die DDR-Bürokratie wurde zum Begriff. Seyppels Kinder blieben im Westen und behielten recht: Zwangsläufig eckte der unbedingte Individualist in der DDR an. Im Juni 1979 wurde er mit sechs anderen Autoren, die an der SED-Kulturpolitik Kritik geübt und einen Protestbrief an Honecker geschrieben hatten, aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen. Mit einem Drei-Jahres-Visum zog er nach Hamburg. Dieter Noll diffamierte seinerzeit die missliebigen Kollegen Seyppel, Stefan Heym und Rolf Schneider als „kaputte Typen“ – Seyppel konterte mit der Abrechnung „Ich bin ein kaputter Typ“. Im Westen blieb er streitbar, schalt die sakrosankte Gruppe 47 als „Avantgarde des Mittelmaßes“ und verließ 1997 wütend den Verband deutscher Schriftsteller. Im gesegneten Alter von 93 Jahren ist Joachim Seyppel am Dienstag in Wismar gestorben.

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