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Blütenkelch. Die Kathedrale von Brasilia, ein Werk Oscar Niemeyers von 1970

© REUTERS

Zum Tod von Oscar Niemeyer: Wogen und Kurven, Blüten aus Beton

Er entwarf Brasilia und das UN-Hauptquartier in New York. Auch im Berliner Hansa-Viertel steht eines seiner Häuser. Im Alter von 104 Jahren ist der Jahrhundert-Architekten Oscar Niemeyer nun gestorben. Ein Nachruf.

Sein Engagement in Potsdam war ein großes Missverständnis. Jemand kam im Jahr 2005 auf die Idee, Oscar Niemeyer, den letzten noch lebenden Vertreter der klassischen Moderne, um den Entwurf für ein Spaßbad zu bitten. Der Meister litt unter Flugangst, eine Ortsbesichtigung kam nicht in Frage. Also beamte er sich in Gedanken von der Copacabana an den Potsdamer Brauhausberg und lieferte den Entwurf für ein blasenförmiges Freizeitbad. Der 50-Millionen-Kuppelbau erwies sich als zu teuer. Die Pläne wurden um ein Drittel abgespeckt, dennoch senkte das Wirtschaftsministerium den Daumen. Bis heute warten die Potsdamer auf ihr Bad. Die Berliner immerhin haben einen Niemeyer vorzuweisen: Im Hansaviertel steht ein von ihm entworfenes Appartementhaus. Es ist einer der interessanteren, innovativeren unter den Avantgardebauten, die 1957 für die Interbau entstanden, mit der West-Berlin sich als Fontstadt des freien Westens profilieren wollte.

Der auf eleganten V-Stützen aufgeständerte Bau verrät, das sein Schöpfer bei Le Corbusier gearbeitet hat. Das war 1936 in Paris. Zuvor hatte Oscar Niemeyer an der Nationalen Hochschule der Schönen Künste in Rio de Janeiro studiert, wo er am 15. Dezember 1907 als eines von sechs Kindern deutschstämmiger Eltern geboren worden war. Le Corbusier wurde sein prägendes Vorbild, bei ihm entdeckte er seine Vorliebe für Sichtbeton in allen Variationen. Dass er weit expressiver in gekurvten, dynamischen Formen schwelgte, lag wohl an seiner südamerikanischen Prägung, am Kolonialbarock, den er dort vor Augen hatte.

Zunächst machte Niemeyer mit spektakulären Entwürfen auf sich aufmerksam, mit einem Casino in Belo Horizontes Vergnügungspark Pamúlha, einem benachbarten Jachtclub und der Franziskuskirche. Das war Anfang der vierziger Jahre. Eine wilde Betonwelle, wie Eduardo Torroja sie baute, vier Wellenberge, beiderseits verglast – so nimmt die Kirche die Formen der Landschaft auf. In New York entstand ab 1947 das UN-Gebäude nach seinen Plänen, der erste internationale Erfolg. Der Auftraggeber in Belo Horizonte, sein Freund Juscelino Kubitschek, wurde 1957 zum brasilianischen Staatspräsidenten gewählt, ein Glücksfall für Niemeyer. Der neue Präsident beschloss, im Zentrum des Landes, auf der einsamen Hochebene Planalto, aus dem Nichts eine neue Hauptstadt zu bauen. Lúcio Costa wurde mit der Stadtplanung beauftragt, Oscar Niemeyer mit der Architektur. Brasilia nannte man die Retortenstadt. Sie wurde in 1000 Tagen aus der roten Erde gestampft.

Jeder, der sich für Architektur interessiert, kennt die signifikanten Staatsbauten, die seitdem symbolisch für Brasilien stehen, vor allem das Kapitol auf dem Platz der Drei Gewalten mit dem kuppelförmigen Senat und dem Abgeordnetenhaus in Form einer Schale. Hinzu kamen das Palace Hotel und der Palast der Morgenröte, 1970 dann die Kathedrale mit ihrer nach oben sich öffnenden, blütenkelchförmigen Rippenkuppel, die im Berliner Tempodrom einen Nachahmer fand.

Große Architektur mit praktischen Schwächen

Man kann in Brasilia hinreißende Fotos schießen. Liebens- und lebenswert ist die Idealstadt der Moderne ohne Urbanität, ohne Flaniermeile nicht. Auch der elegante Präsidentenpalast offenbart die große Schwäche der Architektur Niemeyers, denn kein Präsident hat sich in dem miserabel belüfteten Bau je wohlgefühlt. „Der Kunde interessiert mich einen Dreck“, ist ihm einmal entschlüpft, und diese Haltung brachte Niemeyer nicht nur Bewunderer ein. Schönheit und Sinnlichkeit der Form waren ihm allemal wichtiger als Nutz- und Brauchbarkeit. Als 1964 in Brasilien eine Militärjunta die Macht ergriff, sah sich der marxistisch orientierte Niemeyer, der nicht nur seiner Vorliebe für den Baustoff wegen als Betonkopf galt, mangels Arbeitsmöglichkeiten ins Exil gezwungen. Er ließ sich in Paris nieder und baute die Parteizentrale der KPF, eine Universität in Algerien, ein Kulturzentrum in Le Havre, die Hauptverwaltung von Mondadori in Mailand und von Renault in Paris. 1982 konnte er wieder nach Rio zurückkehren. Wirklich zur Ruhe gesetzt hat er sich nie.

Wenige Wochen vor seinem 95. Geburtstag eröffnete im südbrasilianischen Curitiba das futuristische Novo Museu, ein auf der Klippe stehender, weithin sichtbarer dynamistischer Betonbau. Eine Riesenskulptur, wieder mehr Kunstwerk als herkömmliches Haus, keine rationalistische Moderne, sondern eine der sinnlichen Formen, die Niemeyer sich gern in der Natur und bei den Frauen abgeschaut hat. Auch das Konzerthaus in Ravello an der Amalfiküste ist eine solche Skulptur, eine weiße Betonwelle hoch über dem Meer. Wegen örtlicher Streitigkeiten konnte der Bau bis heute nicht in Betrieb genommen werden.

Natürlich rechnen seine Auftraggeber mit dem Bilbao-Effekt, hoffen auf einen Fremdenverkehrsboom, wie ihn Frank Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao hervorgerufen hat. Das gilt wohl auch für das spanische Avilés, das sich ein gigantisches Kulturzentrum leistet, dessen Entwurf Niemeyer der Stiftung „Príncipado de Asturias“ zum 25-jährigen Jubiläum schenkte. Das 2011 eingeweihte Centro Niemeyer besteht aus Konzerthaus, Ausstellungsgebäude, Mehrzweckhalle und einem Aussichtsturm. Das Ensemble aus schneeweißen, skulpturalen Bauten mutet wie die Quintessenz seines architektonischen Schaffens an.

Gerade in Europa, in Italien, Frankreich und Portugal bekam Niemeyer in den vergangenen Jahren respektable Aufgaben. Noch sein Alterswerk besitzt wunderbarerweise all die formale Kraft, die seine Arbeit zeitlebens ausgezeichnet hat. Ihretwegen stellt man ihn in eine Reihe mit den ganz großen Architekten des 20. Jahrhunderts. An ihm hat es nicht gelegen, wenn die Moderne erlahmte und zum monotonen Wirtschaftsfunktionalismus verkam.

In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ist Oscar Ribeiro de Almeida Niemeyer Soares Filho, wie er mit vollem Namen hieß, im biblischen Alter von 104 Jahren in seiner geliebten Heimatstadt Rio de Janeiro gestorben.

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