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Omar Sharif als Dr. Schiwago in dem gleichnamigen Film.

© dpa

Zum Tod von Wolf Jobst Siedler: Dr. Schiwago und die Sowjetliteratur

Der legendäre Verleger Wolf Jobst Siedler war von 1955 bis 1963 auch Feuilleton-Chef des Tagesspiegels. Lesen Sie hier anlässlich seines Todes einen Essay aus dem Jahr 1958, den er zum Erscheinen von "Dr. Schiwago" schrieb.

Wolf Jobst Siedler, damals Feuilleton-Chef des Tagesspiegels, schrieb am 27. Juli 1958 anlässlich des Erscheinens von Boris Pasternaks "Dr. Schiwago" diesen Essay. Darin beschäftigt er sich mit früher Sowjetliteratur, insbesondere mit der deutschen Ausgabe der Werke von Wladimir Majakowski, Eugen Zamjatin und Alexander Serafimowitsch.

Von Wolf Jobst Siedler

Das literarische Ereignis der ersten Hälfte dieses Jahres ist das Buch eines Mannes gewesen, dessen Name in westlichen Ländern bis vor kurzem nur Slawisten bekannt gewesen sein dürfte. Boris Pasternaks Roman "Dr. Schiwago" hat in den vergangenen Monaten vermutlich mehr Federn in Bewegung gesetzt als die Produktion aller Literatur-Nobelpreisträger zusammengenommen.

Das bemerkenswerteste daran ist, daß sich der Leser vorerst kein eigenes Bild von dem so viel beredeten Werk machen kann: Dr. Schiwago ist bislang weder in russischer noch in deutscher Sprache erschienen und liegt noch immer nur in der italienischen Ausgabe des Mailänder Verlegers Feltrinelli vor.

Ganz offensichtlich hat nicht so sehr die vorläufig noch unbekannte literarische Qualität des Pasternakschen Romans als die einigermaßen dramatischen Umstände seiner Veröffentlichung die literarische Öffentlichkeit alarmiert. Die Sensation war nicht, daß der bedeutende und oft mit Rilke, Valery und T. S. Elliot verglichene Lyriker nun im Alter seinen ersten Roman geschrieben hat; als noch nie dagewesene Provokation wurde empfunden, daß ein von der Sowjet-Zensur verworfenes Buch eines sowjetischen Schriftstellers außerhalb der Sowjetunion herausgebracht wird.

Aber der "Fall Pasternak" hat Vorläufer. Zwei berühmte Affären der sowjetischen Literatur sind mit Vorfällen verbunden, die ihm bis in Einzelheiten hinein gleichen. Im Sommer 1929 gab Boris Pilnjak, seit seinem 1922 erschienenen Roman "Das nackte Jahr" Führer einer ganzen literarischen Schule, die den "Pilnjakismus" auf ihr Panier geschrieben hatte, einen neuen Roman an einen Berliner Verlag, der das in der Sowjetunion verbotene Buch unter dem Titel "Mahagoni" herausbrachte. Und obwohl Pilnjak in nahezu grotesker Weise Abbitte leistete, seine Leser öffentlich vor sich warnte und sie bat, seine Werke "von ihren Bücherregalen schnellstens zu entfernen", verschwand Pilnjak aus der Literatur und dem Leben: aller Wahrscheinlichkeit nach ist er einige Jahre später erschossen worden.

Kurz zuvor hatte sich der Fall Eugen Zamjatin ereignet. Auf mysteriöse und niemals ganz aufgeklärte Weise erschien sein von der Sowjet-Zensur abgelehnter Roman "Wir" in einer russischen Emigranten-Zeitschrift in Prag. Im Gegensatz zu Pilnjak verhielt sich Zamjatin angesichts der gegen ihn losbrechenden Kampagne würdig und mutig. In einem Brief an den "Allrussischen Schriftstellerverband" erklärte er seinen Austritt aus dieser Organisation, "die sich an der Verfolgung eines ihrer Mitglieder beteiligt hat", und teilte Stalin in einem Brief mit, daß er unfähig sei, in der Atmosphäre einer "sich von Tag zu Tag steigernden Hetze produktiv tätig zu sein, und daher um die Wohltat seiner Verbannung ins Ausland bitten müsse.

Berichten zufolge wurde Gorki bei Stalin vorstellig. Auf jeden Fall hatte der Verzweiflungsschritt Erfolg: Zamjatin erhielt die erwähnte Verbannung und starb 1937 auf natürliche Weise als Emigrant in Paris. Allerdings wurde sein einst gefeierter Name aus der Literaturgeschichte gestrichen, bis heute ist Zamjatin nicht rehabilitiert worden. Den jungen Sowjetmenschen des Jahres 1958 ist der Name des Mannes unbekannt, der wie wenige andere der sowjetischen Literatur in den ersten Jahren nach der Revolution zu internationalem Ansehen verholfen hat.

"Wir": Seele und Phantasie als wahre Bedrohung der Ordnung

Der Roman, der unter so dramatischen Umständen zu Ruhm gelangt ist, ist das erste bedeutende Beispiel jener Schreckensvisionen bis hin zu Huxleys "Brave New World" und Orwells "1984", mit denen die fortschrittsgläubigen Utopien vom Schlage Jules Vernes und H. G. Wells in ihr Gegenteil verkehrt werden. Da die englische Ausgabe von "Wir" schon Anfang der zwanziger Jahre in London erschien, läßt sich vermuten, daß gewisse bis in Details gehende Übereinstimmungen von "Wir" und "Brave New World" kaum zufälliger Natur sind.

Der Roman gibt das Bild einer zukünftigen Welt, in der nach vernichtenden Kriegen ein allmächtiger "Einheitsstaat" das Leben auf der Erde kontrolliert, nur in einer Art Naturschutzpark leben - auch das eine Vorwegnahme Huxleys und Orwells - noch primitive, behaarte Menschen der alten Art. Mit bösartiger Logik haben die Gründer des Einheitsstaates aus der Geschichte der Menschheit die Konsequenz gezogen, daß Freiheit und Ordnung offensichtlich unvereinbar sind.

Die Bürger dieser in das sechsundzwanzigste Jahrhundert verlegten Welt haben daher die zweifelhaften Segnungen einer archaischen Freiheit für die universelle Ordnung eines allmächtigen Staates eingetauscht: ihrer Individualität beraubt zu "Nummern" degradiert, führen sie ihr von allgegenwärtigen "Wächtern" betreutes Leben in gläsernen Städten, in denen keine Bewegung dem besorgten Blick der Kontrolleure verborgen bleibt.

Nicht Widerstand gegen die Einheitsregierung stellt die Sünde aller Sünden dar, bedenklicher als Auflehnung sind die Regungen der Individualität, weil sie die Basis der Ordnung bedrohen. Seele und Phantasie sind die Barrieren auf dem Wege zur Maschinengleichheit des Menschen und damit die Mächte, die seine normierte Zufriedenheit bedrohen. Aber auch dieses Hindernis kann durch Behandlung mit Röntgenstrahlen beseitigt werden: "Ihr seid vollkommen, ihr seid maschinengleich, der Weg zum hundertprozentigen Glück ist frei!"

Die grausame Ironie Zamjatins besteht nun darin, daß sich sein Buch als Verteidigung des normierten Einheitsstaates gibt und die Unterdrückungsmaßnahmen der "Wächter" als Wohltaten rechtfertigt. Der unsichtbare Lenker des Staates ist der um das Glück seiner Kinder väterlich besorgte "Wohltäter", dem die "Nummern" in gewaltigen Kundgebungen nach geheiligtem Ritus huldigen. Der Ausgang des um die Konstruktion und den endlichen Start des ersten bemannten Weltraumschiffes gruppierten Geschehens gibt ihm recht: die von unbotmäßigen "Nummern" angezettelte Revolution erstickt in einem Meer von Blut und demonstriert so aufs neue, daß nur "wo die Freiheit des Menschen gleich null ist, auch keine Verbrechen mehr möglich sind."

Visionen dieser Art haben ihren Schrecken für uns verloren; nicht nur, weil dergleichen Utopien bis hin zu Stefan Andres' dünnblütigem "Normerstaat" mittlerweile en vogue geworden sind, und auch von Autoren dritten Ranges mit beträchtlichem Geschick gehandhabt werden. Den meisten dieser Bücher geht das echt utopische Element ab; Romane wie die von Orwell verlängern die im Gegenwärtigen sichtbaren Perspektiven in das Zukünftige und beziehen ihre Faszination aus der Konsequenz, mit der sie vorhandene Entwicklungen zu Ende denken.

Schriftsteller: "Zum Ausheben von Futtergruben erniedrigt"

Zamjatin verfügte noch über den visionären Blick auf das Kommende: die Organisation der "Wächter", die er in "Wir" beschreibt, war nicht von der Tscheka abstrahiert, sondern nahm sie voraus; als er Anfang der zwanziger Jahre die Gestalt des "Wohltäters" konzipierte, gab es noch nicht jenes "Väterchen Stalin", dem singende Schulkinder für seine Wohltaten dankten. Insofern ist Zamjatins Buch fraglos bedeutender als die Romane Huxleys und Orwells, hinter denen es in künstlerischer Hinsicht ebenso fraglos zurücksteht: hier wird, noch an der Schwelle des neuen Zeitalters, ein Blick auf kommende Dinge geworfen, die damals kaum in Umrissen sichtbar waren.

Ist Wladimir Majakowskis wenige Jahre später geschriebenes Poem "Wir" als Antwort auf Zamjatins Roman "Wir" gedacht gewesen? Auf jeden Fall ist undenkbar, daß Majakowski sich nicht darüber klar war, daß es als solche gelesen werden würde; als Majakowski jene Verse während seiner großen Europareise konzipierte, war Zamjatins Roman dort das Tagesgespräch.

Es wäre eine hilflose und stammelnde Antwort, die jene von Zamjatin perhorreszierten Entwicklungen und Tendenzen der Sowjetgesellschaft jauchzend begrüßt und sich in Zamjatins Roman als ironisches Einsprengsel gut ausnehmen würde: in Fünfjahresplänen, in Zehnjahresplänen und Fünfzigjahresplänen. Es lebe das Erfindungswesen, des Arbeitervolkes Hirn!"

Das Gedicht findet sich samt den großen Revolutionsgedichten "Lenin" und "Gut und schön" in einer Ost-Berliner Majakowski-Ausgabe, die jedoch nach sowjetischem Muster nur genehme Arbeiten bringt, und Maja.kowskis kritisch-satirische, Dudinzews "Nicht von Brot allein" vorwegnehmende Verse und Stücke unterdrückt. Nicht ganz so puristisch ist man Alexander Serafimowitsch zu Leibe gegangen, von dem man neben dem "Eisernen Strom" auch seine vorrevolutionären Romane "Die Stadt in der Steppe" und "Galina" bringt. "Der eiserne Strom" - neben Scholochows "Stillen Don" und Babels "Budjonnys Reiterarmee" das klassische Werk des Bürgerkriegs - ist das letzte größere Werk Serafimowitschs gewesen.

Wenig später wurde die Parole vom "Sozialen Auftrag" der Literatur ausgegeben, nach der sich die Schriftsteller in den direkten Dienst der Fünfjahrespläne stellen mußten: nach dem Wort Majakowskis sollten sie nun nicht mehr über, sondern für die Revolution schreiben. 1931 erschien der erste Band von Scholochows Fünfjahresplan-Roman "Neuland unterm Pflug", im selben Jahre begann Serafimowitsch einen Roman "über die Etappen der Kollektivierung unserer Landwirtschaft".

Nichts charakterisiert die Situation besser, als daß die beiden gefeierten Sowjet-Klassiker unfähig waren, den Parteiauftrag zu erfüllen: nach drei Jahrzehnten ist Scholochows Roman noch heute nicht abgeschlossen, und als Serafimowitsch 1949 starb, war noch nicht eine Zeile seines Buches veröffentlicht. Die in der Auswahlausgabe des Aufbau-Verlages mitgeteilten Fragmente aus dem Nachlaß illustrieren auf tragische Weise, wie sich Serafimowitsch mit der Erfüllung dieses Auftrages herumgeplagt hat, und lassen bis in jeden Satz hinein den Eiseshauch spüren, der sich nach der so fruchtbaren Revolutionsepoche über eine Literatur senkte, die - nach dem verzweifelten Wort eines anderen Sowjet-Klassikers, des ebenfalls längst verstummten Juri Olescha - zur "Propagierung der Schweinezucht und dem Ausheben von Futtergruben erniedrigt wurde".

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