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Der Schriftsteller Wilhelm Genazino. Er starb am 12.12.2018 im Alter von 75 Jahren nach kurzer Krankheit.

© Arne Dedert/dpa

Zum Tod Wilhelm Genazinos: Der Wahrnehmungsfetischist

Von den Tücken des Gelingens und vom Scheitern als Lebenskunst: Der Schriftsteller Wilhelm Genazino ist im Alter von 75 Jahren gestorben.

Als Wilhelm Genazino vor ein paar Jahren seine Manuskripte, Fotos, Korrespondenzen und Tagebücher dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergab, bekannte er, seit längerer Zeit bereit dafür zu sein, „mich an mein Verschwinden als Autor und Person zu gewöhnen.“ Genazino stand zu dieser Zeit kurz vor Vollendung seines 70. Lebensjahrs, da kann man so eine Aussage schon einmal machen - und doch könnte das genau so gut einer seiner zumeist in der Mitte ihres Lebens sich befindenden Romanhelden gesagt haben.

Einer der vielen Melancholiker, Scheiterer und Unglücksraben, die Genazinos Romanwelt bevölkern, in der Regel Männer, ganz selten auch Frauen, die sich in allerlei Alltagsnöten befinden. Die diese aber mit einer gewissen Gelassenheit ertragen: Das Scheitern erheben sie zu einer Lebenskunst. So wie zum Beispiel Gerhard Warlich, der 41-jährige Leiter einer Großwäscherei, aus „Das Glück in glücksfernen Zeiten“, der irgendwann in der Psychiatrie landet und konstatiert: „Ich wundere mich, warum meine Melancholie und der Rest der Welt so gut zueinander passen.“

Dass das Glück nicht unbedingt zum Leben dazu gehört, genauso wenig wie eine „jederzeit verfügbare Lustigkeit“, es immer gelte, „der herrschenden Glückssucht“ etwas entgegenzusetzen, das gehörte zu den Maximen des Schriftstellers Wilhelm Genazinos. Diese schien er umso mehr zu vertreten, nachdem er 2001 durch das damals noch sehr einflussreiche Literarische Quartett für ein größeres Publikum mit dem Roman „Ein Regenschirm für einen Tag“ entdeckt worden war und drei Jahre später mit dem Georg-Büchner-Preis auch die höchste literarische Auszeichnung des Landes verliehen bekommen hatte.

Seine Reaktion darauf war zurückhaltend. Natürlich war er verblüfft, auch begeistert. Doch fragte er sich, warum ausgerechnet er ausgewählt worden sei, denn „die Bücher, die ich jetzt schreibe, ähneln denen vor 15 Jahren“, wie er seinerzeit in einem Interview bekannte. Oder auch denen, könnte man sagen, die danach in schöner Regelmäßigkeit alle zwei, drei Jahre und mit einem maximalen Umfang von 150, 160 Seiten folgen sollten.

Bekannt wurde er mit der "Abschaffel"-Trilogie

Eingeschrieben in die bundesrepublikanische Literaturgeschichte hatte Wilhelm Genazino sich schon Ende der siebziger Jahre mit einer Trilogie über den Angestellten einer Spedition mit dem schönen Namen Abschaffel. Diese Trilogie steht noch in realistisch-engagierter Tradition. Sie machte Genazino nach Martin Walser zum prototypischen Angestellten-Roman-Autor, weist aber genau so schon viele Spuren des Wahrnehmungsfetischismus auf, der Genazino später so bekannt machen sollte.

Tatsächlich geriet der 1943 in Mannheim geborene und in Frankfurt lebende Schriftsteller nach der Veröffentlichung der „Abschaffel“–Trilogie in eine Schreibkrise. Mit „Die Ausschweifung“ und „Fremde Kämpfe“ veröffentlichte er in den frühen achtziger Jahren zerrissene, zwischen viel Handlung und vielerlei Reflexionen pendelnde, eher unbeachtete Romane.

Erst mit dem 1989 erschienenen, aus vielen Prosaminiaturen bestehenden Künstlerroman „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ fand Genazino wieder seine Form. Darin heißt es einmal: „Was wir brauchen ist eine Theorie der Verborgenheit. Der Grundgedanke könnte sein, dass das Subjekt die Gesellschaft beobachten darf, diese aber nicht das Subjekt.“ Was man als Plädoyer verstehen konnte für das frei umherschweifende In-Sich-Aufnehmen der Außenwelt, für Introspektion, für die lang andauernde, präzise Beobachtung der Dingwelt.

So wie es ein anderer Erzähler Genazinos aus „Die Liebe zur Einfalt“ auf den Punkt bringt, auf einen Punkt, der Poetologie wie Weltanschauung dieses Autors gleichermaßen trifft, „dass es außer dem Leben immer auch die Betrachtung des Lebens gab und dass das Verhältnis der Betrachtung zum Betrachteten eine Form der Erholung war.“

Zuletzt schlich sich viel Kulturpessimus in seine Romane

Wilhelm Genazino hat es in seinen dem Flanieren huldigenden Romanen verstanden, kleine Dinge bedeutsam zu machen, und mitunter seltsamste Betrachtungen angestellt. Zu den vielzitierten „Gesamtmerkwürdigkeiten des Lebens“, wie der Erzähler aus „Ein Regenschirm für einen Tag“ sein Leiden nennt, wie er die Vielzahl seiner kleinen und mittleren Unglücke (Frau hat ihn verlassen, Arbeitslosigkeit etc.) zusammenfasst, kommen stets die Merkwürdigkeiten des Alltags dazu.

So fand es Genazino wichtig, dass ein Stück Torte zu stehen hat, nicht zu liegen. Oder er beobachtete, wie sich ein Vogel beim Picken von Resten auf Restauranttischen mit Ketchup bekleckert und das von den Menschen laut johlend verfolgt wird, „als wäre dem Tier eine besondere Nummer gelungen“. Oder er lässt einen seiner Helden „die Tücken des Scheiterns“ schon dadurch erfahren, dass dieser einen scheinbar in der Post liegengelassenen Rosenstrauß mitnehmen will, um ihn seiner Frau zu schenken, dann aber von einem Schalterbeamten zurückgepfiffen wird: „Die Blumen können sie doch nicht einfach mitnehmen! Bestimmt kommt gleich jemand zurück, dem die Rosen wirklich gehören, also!“

In seine letzten Romane schlich sich zunehmend mehr Kultur- und Gesellschaftspessimismus, da wurden die Auswüchse des modernen Lebens nicht nur betrachtet, sondern auch heftig kritisiert: die „Sponsoren–Kultur“, „die Zivilisations-Apokalypse“ oder dass auf den Straßen kaum noch Menschen ohne Rucksäcke, Smartphones, Tablet-Computer oder sonst irgendwas herumlaufen, wie Genazino in seinem autobiografischen Buch „Tarzan am Main“ beklagt hat. (Was ihn prompt mit „Außer uns redet niemand über uns“ einen Roman schreiben ließ, in dem die digitale Gegenwart betont ausgeblendet wird).

Trotzdem dürfen seine Helden immer tapfere Glückssucher sein, ist ihr Scheitern manchmal ein heiteres, hat zumindest Genazino aus seinen Trostlosigkeitsromanen für seine Leser- und Leserinnen Beglückungsromane gemacht. Allein deren Titel sind eine Klasse für sich: „Die Liebesblödigkeit“. „Mittelmäßiges Heimweh“. Oder, wie sein letzter, in diesem Jahr veröffentlichter Roman heißt: „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“.

Dass viele seiner Romane sich ähneln, hat Genazino nie gestört. Denn gleichermaßen Ansporn wie Drohung war es für ihn, so heißt es in „Die Liebe Zur Einfalt“, „dass wir unsere eigene Geschichte immer wieder erzählen müssen und nach jedem Erzählen glauben, wir hätten sie noch nicht richtig erzählt. So fangen wir immer wieder von neuem an, unsere Geschichte zu erzählen, ohne je der noch viel fürchterlicheren Gewissheit zu entgehen, dass wir sterben werden, ohne unsere Geschichte wenigstens einmal vollständig und vollständig richtig erzählt zu haben.“ Am vergangenen Mittwoch ist Wilhelm Genazino nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 75 Jahren verstorben.

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