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Kultur: Zupacken und Teetrinken

Festivalsommer: Im englischen Glyndebourne spielt die Oper zwischen Tradition und Innovation.

Auf dem Hügel hinter dem Opernhaus dreht sich ein riesiges Windrad. „Es verschandelt die ganze Landschaft“, schimpft der Taxifahrer bei der Anfahrt durch die idyllische Hügellandschaft der Grafschaft Sussex. Nun ja, ganz unauffällig ist sie nicht, die Windkraftanlage, doch liefert sie der altehrwürdigen Glyndebourne Festival Opera seit dieser Saison stolze 90 Prozent ihres Gesamtbedarfs an Strom – und der ist nicht gerade gering. Es ist damit landesweit das erste Festival, das sich aus einer erneuerbaren Energiequelle speist. Der progressive Vorstoß ist Gus Christie, dem Enkel des Festivalgründers John Christie, zu verdanken. Einst Dokumentarfilmemacher zu umweltpolitischen Themen, hat er im Jahr 2000 den Festivalbetrieb von seinem Vater Sir George Christie übernommen und versieht seine Ära nun auf diese Weise mit seiner Handschrift, die für ihn eine Herzensangelegenheit ist.

Wer Glyndebourne auf das Klischee der exklusiven Sommeroper reduziert, wo die privilegierte Schicht in Smoking und Abendkleid in der Pause im Gras sitzt und eigens in Körben angeschleppte Fasanen zum Champagner verzehrt, dem entgeht eine viel wesentlichere, wenn auch weniger sichtbare Eigenschaft des Festivals: die Verquickung von Tradition und Innovation. Während die liebenswürdig-kauzigen Briten nämlich ihre Picknicks verspeisen, als wäre seit 1934 kein Tag vergangen, erneuert sich das Unternehmen schneller und effektiver als jedes andere im Land. Nebst der grünen Wende gehören dazu die günstigen Angebote für Familien und Leute unter 30, nachhaltige Förderung junger Künstler und ein exemplarisches Education-Programm. Glyndebourne on Tour bringt zudem dieselben Opernproduktionen in die entlegensten Ecken des Landes und bietet dem Sängernachwuchs wertvolle Auftrittsmöglichkeiten.

Auf der Bühne ist dieser Pioniergeist weniger sichtbar. Glyndebourne ist nicht der Ort, an dem brisante Themen gewälzt werden. Es ist zumal kein Zufall, dass das Englische wie für Zeitgeist und Schadenfreude auch für Regietheater keine adäquate Übersetzung kennt und es daher aus dem Deutschen übernimmt. Und wer Regietheater gewohnt ist, mag diesen Zugriff auf die Materie vermissen. Wie sich jedoch aus einem Werk eine für sich sprechende, zeitlose Klarheit destillieren lässt, die sich einer exzessiven Konstruktion meist entzieht, zeigt Laurent Pellys Neuproduktion von Ravels „L’Enfant et les Sortilèges“. In dieser Geschichte eines ungezogenen Jungen, der in seinem Frust Mobiliar, Tiere und Pflanzen ramponiert, die sich dafür an ihm rächen, werden Gegenstände lebendig. So besteht das Bühnenbild bei Pelly konsequent nur aus Darstellern, die in Gestalt überproportionaler Teetassen, Stühle, Tapetenfetzen usw. albtraumartig den Raum von einem Ort der Geborgenheit in einen der Bedrohung und wieder zurück verwandeln. Hilflos und klein wirkt plötzlich der böse Junge, dessen wechselnde Seelenzustände Khatouna Gadelia stimmlich wie darstellerisch mit empathischer Differenziertheit spiegelt.

Für das Glyndebourner Stammpublikum liegt Pellys moderat surreale Inszenierung schon scharf an der Toleranzgrenze. Die originell und detailreich ausgestattete Inszenierung von Ravels „L’Heure Espagnole“ in dieser Doppelproduktion trifft den Publikumsgeschmack viel eher, wenngleich die ausagierte Komik der nymphomanischen Frau eines Uhrmachers (Stéphanie d’Oustrac), die sich ihre Liebhaber in einer Standuhr ins Schlafzimmer transportieren lässt, der aus dem Orchestergraben aufwallenden sehnsüchtig-tragischen Ebene kaum Rechnung trägt. In einer sensibel erfühlten Balance zwischen Kontrolle und Hingabe führt Kazushi Ono das London Philharmonic Orchestra mit präziser, sicherer Hand durch Ravels betörende Klangwelt.

Einen weniger konsequenten Ansatz legt Michael Grandages Neuinszenierung von Mozarts „Le Nozze di Figaro“ an den Tag. Das erschütternd realistische Bühnenbild (Christopher Oram) eines andalusischen Palasts in maurischem Baustil könnte einer Produktion noch vor dem Krieg entsprungen sein. Doch die Handlung, so lassen Sportwagen und Kostüme unschwer erkennen, spielt bei Grandage in den späten sechziger Jahren. Dass hier der ganze Sinn des Stücks auf dem Spiel steht, beschließt vor allem die Umdeutung der Figur des Grafen (Audun Iversen): Weit entfernt von einer Autoritätsfigur, erscheint er als lasterhafter, kiffender Emporkömmling, dem Verantwortung und Kontrolle über seinen Haushalt abgeht, was nicht nur den stillen Schmerz, den Sally Matthews mit ihrem dunklen Timbre in das „Porgi Amor“ der Gräfin gießt, um seine Aussagekraft bringt. Mit einer dezidiert auftretenden, stimmlich ungewöhnlich schwer besetzten Susanna (Lydia Teuscher) und einem coolen Figaro (Vito Priante) löst sich das Klassenproblem und somit das revolutionäre Potenzial der Oper in Luft auf. Zum Schluss finden sich alle beim Siebziger-Jahre-Disco-Tanz wieder. Übrig bleibt die Frage: Wozu das ganze Theater? Make love not war.

Doch auf eines kann man sich verlassen: In Sachen musikalischer Qualität lässt sich Glyndebourne nicht lumpen. Die Rollen sind stimmlich ausnahmslos exquisit besetzt, von Ann Murrays lebendiger Marcellina bis zum flegelhaften Cherubino der vielversprechenden jungen New Yorkerin Isabel Leonard. Robin Ticciati am Pult des Orchestra of the Age of Enlightenment versteht die historisch besetzten Holzbläsern zu maximaler Intimität zu nutzen und lässt mit der wachen Dauerspannung seiner Figaro-Interpretation auch in Zukunft auf Sensibilität und Frische hoffen, wenn er 2014 Vladimir Jurowski im Amt des Music Directors von Glyndebourne ablöst. Barbara Eckle

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