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Kultur: Zur Ablenkung eine Apokalypse

Wie die „German Angst“, ein Kind der Achtzigerjahre, bis heute das Wir-Gefühl stärkt

Sie ist keine gewöhnliche Angst, sonst hätte sie kaum diesen speziellen Namen. "German angst", ein im angelsächsischen Raum erfundener Begriff, ist als German Angst in unseren Sprachgebrauch zurückgekehrt. Dass die Angelsachsen unsere gute alte Angst in ihren Wortschatz übernahmen, um sich eine deutsche Befindlichkeit zu erklären, zeigt, dass sie selbst ein solches Gefühl gar nicht kennen. Ihm haftet eine metaphysische Aura an, die dem angelsächsischen Pragmatiker unheimlich sein muss. Wen die German Angst gepackt hat, der will sie gar nicht mehr unbedingt loswerden. Er lässt sich bereitwillig in sie hineingleiten wie in einen höheren Bewusstseinszustand, zelebriert sie als Medium einer tieferen Welterkenntnis.

Die German Angst kann man nicht als Einzelner empfinden, sondern nur im Kollektiv. Der von ihr Erfasste ist keineswegs mit einem ordinären Angsthasen zu verwechseln. Wo die German Angst ausbricht, herrscht kein erbarmungswürdiges Heulen und Zähneklappern, sondern eine Mischung aus grüblerischer Entrücktheit und aufgebrachter Hektik. Zur German Angst bekennt man sich bereitwillig, oftmals sogar lautstark und mit breiter Brust. Weswegen es bisweilen durchaus angebracht ist, vor der German Angst selbst Angst zu haben.

Generell wurde das intellektuelle und innenpolitische Klima der Bundesrepublik ab den Achtzigerjahren von dem offensiv nach außen gekehrten kollektiven Angstbekenntnis bestimmt. Da war der unmittelbar drohende Atomkrieg, der nicht nur Deutschland und Europa in den Abgrund stürzen, sondern den gesamten Planeten unbewohnbar machen würde. Kaum minder angsterregend wirkte die angeblich bereits fast vollständige Naturzerstörung, die sich zuvörderst im Waldsterben zu manifestieren schien. Als ausgemacht erschien zudem, dass jederzeit mit einem verheerenden Atomkraftwerksunfall zu rechnen sei. Er trat dann, 1986, tatsächlich ein - zwar in der Ukraine, aber das hinderte große Teile der deutschen Bevölkerung nicht daran, sich vor der angeblich omnipräsenten, unsichtbaren nuklearen Strahlungswolke so intensiv zu ängstigen, als habe sich der GAU in der unmittelbaren Nachbarschaft ereignet.

Gewiss gab es gute Gründe, sich wegen Atomrüstung und Umweltproblemen Sorgen zu machen. Auffällig an der Angstwelle der Achtziger war aber das ins Apokalyptisch-Fantastische übersteigerte Bedrohungsgefühl. In der Friedensbewegung, die Hunderttausende auf die Beine brachte, herrschte die feste Überzeugung vor, neue Mittelstreckenraketen würden einen unaufhaltsamen Mechanismus auslösen, der direkt ins atomare Fegefeuer führe.

Bekanntlich nahm die Geschichte eine ganz andere Wendung. Statt zum Dritten Weltkrieg kam es zum Zusammenbruch des Sowjetblocks und der friedlichen Wiedervereinigung Europas; den deutschen Wald gibt es noch immer, trotz angeblich schrecklichster Giftstoffe in den Lebensmitteln steigt die Lebenserwartung der Bevölkerung, und zu Atomkraftwerksunfällen ist es nicht mehr gekommen. Doch, lautet ein Einwand, spricht das nicht eher für die German Angst? Hätte sie nicht so drastisch auf die möglichen katastrophalen Folgen von Rüstung und Umweltzerstörung hingewiesen, wären vielleicht auch nie jenes Problembewusstsein und jene Veränderungsbereitschaft entstanden, mit deren Hilfe das Schlimmste verhindert werden konnte.

Tatsächlich hat die German Angst einiges bewegt. Hielt man systematischen Umweltschutz im Rest Europas vor drei Jahrzehnten noch für eine fixe Idee naturromantisch versponnener Deutscher, ist er heute zu einer der obersten Prioritäten der EU-Politik geworden. Wegen des Kyoto-Protokolls zur Klimaerwärmung nahm die EU sogar eine dauerhafte Verstimmung im Verhältnis zu ihrem engsten Verbündeten, den USA, in Kauf. Kein Zweifel, die German Angst hat sich europäisiert, wenn nicht globalisiert. Hat sich ihre scheinbare Irrationalität am Ende doch als antizipierende Weltvernunft erwiesen? Einen Haken hat die German Angst allerdings. Ihre Fixierung auf denkbare apokalyptische Katastrophen ging mit einer hartnäckigen Ignoranz gegenüber näher liegenden Problemen einher. Während sich die Deutschen vor BSE, Gen-Food oder Stammzellenforschung fürchteten, machte sich Jahrzehnte lang kaum jemand ernsthaft über den Erhalt der materiellen Grundlagen des eigenen Wohlstands Sorgen. Die Überdehnung des Sozialstaats, die ins Uferlose wachsende Staatsverschuldung, der galoppierende Finanzierungsnotstand in den Sozialsystemen, die immer stärker werdende internationale Konkurrenz im Zeichen der Globalisierung - all dies wurde über viele Jahre hinweg verdrängt.

Während sich die Deutschen vor dem Weltuntergang fürchteten, sahen sie dem schleichenden Abstieg des eigenen Landes mit unbeirrbarer Ruhe zu. Während jedes Aufkommen neuer Technologien sofort heftige Zukunftsängste und kulturpessimistische Besorgnisse auslöste, schienen sie in Bezug auf die Bewahrung ihrer herausragenden Wirtschaftskraft und ihrer vorbildlichen Sozialstandards mit einem blinden Zukunftsvertrauen ausgestattet. Angesichts der nunmehr offen aufbrechenden Krise flackert die German Angst auch auf diesem Feld auf. Jeder Reformversuch ruft sofort Schreckensvisionen von massenhafter Verarmung und Verelendung hervor, jede konkrete Debatte über mögliche Auswege aus der wirtschaftlichen Abwärtsbewegung wird von einem Grundsatzstreit über den Wert und Sinn von "Gerechtigkeit" überlagert. Die German Angst wird zum emotionalen Panzer gegen die Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderungen, die andere europäische Länder längst erfolgreich durchgeführt haben.

Besonders heftig kam der historisch projektive Charakter der German Angst im Vorfeld des Irakkriegs zum Ausdruck. Kein Zweifel, es gab zahlreiche Argumente politischer, rechtlicher und moralischer Art, diesen Krieg abzulehnen, und nicht wenige scheinen durch die düstere Entwicklung im Nachkriegs-Irak bestätigt zu werden. Nun unterschieden sich die Deutschen in dieser Haltung nicht wesentlich von den meisten anderen Europäern. Stellungnahmen aber wie die von Außenminister Joschka Fischer, nach denen den Europäern die Friedensliebe deshalb über alles gehe, weil sie in ihrer eigenen Geschichte erfahren hätten, dass Krieg nur zu Leid und Zerstörung führe, besaßen aus deutschem Munde eine ganz eigene Pikanterie. Hatte es doch vor 60 Jahren der alliierten Kriegsführung bedurft, um Nazi-Deutschland zu bezwingen und Europa auf den Weg von Demokratie und Friedfertigkeit zu bringen.

Die German Angst hat seit einiger Zeit ein emotionales Gegenstück, das nur auf den ersten Blick wie ihr Widerpart erscheint. Es ist das neue deutsche Selbstbewusstsein. Während die deutsche Politik fahrig zwischen den untergründig miteinander verbundenen Gefühlslagen schwankt, darf sich die Welt schon einmal auf eine historische Neuauflage der "incertitudes allemandes", der deutschen Unberechenbarkeiten, einstellen.

Vor allem Gerhard Schröder geizt nicht mit starken Worten und Gesten, wenn es darum geht, den Primat des nationalen Interesses in der deutschen Außenpolitik zu betonen. Die konservative Opposition versucht mittlerweile mit der Forderung nach einer Patriotismusdebatte und einer härteren Gangart im Widerstand gegen einen möglichen EU-Beitritt der Türkei zu punkten. Irritationen bei Freunden, Verbündeten und potenziellen Partnern werden dabei auf beiden Seiten billigend in Kauf genommen. Denn der deutsche Blick in die Welt wird gegenwärtig in erster Linie von einer heimischen Obsession bestimmt: der Suche nach der eigenen nationalen und kulturellen Identität.

Nun rächt sich, dass es über die Konsequenzen der späten Einsicht, dass Deutschland eine globalisierte Einwanderergesellschaft geworden ist, kaum eine gesellschaftliche Auseinandersetzung gegeben hat. Einer breiten Öffentlichkeit wird jetzt langsam klar, dass die Frage nach dem Zusammenleben mit Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft die Selbstdefinition der gesamten Gesellschaft berührt. Auch die bei den Deutschen verbreitete Annahme, man könne sich aus dem Irak-Konflikt einfach heraushalten, entpuppt sich zunehmend als Illusion: der Verfassungsschutz warnt vor islamistischen Irak -Kämpfern, die aus Deutschland stammen, jetzt zurückkehren und auch hier zur Quelle terroristischer Bedrohungen werden.

Die CDU/CSU nutzt die Verunsicherung, indem sie die Fragen des islamistischen Extremismus, der kulturellen Reibungen in einer Zuwanderungsgesellschaft und des Türkei-Beitritts miteinander vermischt. Ihr Problem: Im nächsten Wahlkampf wird sie der Wählerschaft mit Reformplänen entgegentreten müssen, deren Verwirklichung noch mehr Einbußen an sozialer Sicherheit mit sich brächte. Da möchte sie zumindest als Hüterin einer vermeintlich intakten, wärmenden nationalen Identität erscheinen. Politische Einwände gegen die EU-Tauglichkeit der Türkei werden von führenden Unionspolitikern mit dem Hinweis auf die kulturelle Unvereinbarkeit islamisch geprägter Gesellschaften mit dem gerne beschworenen abendländischen "Wir-Gefühl" verknüpft. In der Kampagne gegen die Türkei-Mitgliedschaft lassen sich die frisch aufbrechenden Ängste vor kultureller Überfremdung und demographischer Überwältigung durch "den Islam" in griffiger Weise bündeln. In dieser Sphäre der Abstraktion erspart man sich die konkrete Auseinandersetzung mit der realen Gefahr: der Ausbreitung islamistischer Netzwerke und ihrer Ideologie. Eine ideale Gemengelage für ein Wiederentfachen der German Angst.

Der Beitrag ist ein gekürzter Vorabdruck aus dem am 18. März erscheinenden Kursbuch 159 zum Thema "Angst" (Rowohlt Berlin, 184 Seiten, 10 Euro)

Richard Herzinger

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