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Zur Situation der freien Kulturszene in Berlin: Wege zum Boom

Berliner Wachstumsschmerzen: Die Freie Szene und der Senat liegen im Streit. Beide Seiten müssen dazulernen.

Die einen sagen: Noch nie war Berlin bei Künstlern in aller Welt so attraktiv, noch nie hat die Kultur einen solchen Boom erlebt. Ein Kulturetat von nahezu 400 Millionen Euro, Tendenz steigend, sucht im globalen Maßstab seinesgleichen.

Die anderen klagen: Reichlich ein Drittel des Etats geht allein in die drei Opernhäuser. Die Freie Szene wird mit zehn Millionen Euro abgespeist. Der Senat hat keinen Plan und keine Fantasie, es geht nur um den Bestand schwerfälliger Institutionen, Berlin verspielt seine Zukunft.

Das Problem ist: Beide Seiten haben im Prinzip Recht. Es läuft sehr gut in der Berliner Kulturszene, während andere deutsche Städte Häuser oder Sparten schließen. Ein Festival jagt das nächste. Im September warten die Berlin Art Week, das Literaturfestival, das Musikfest (Klassik), die Berlin Music Week (Pop) und all die großen und kleinen Bühnen, die nun wieder in eine neue Spielzeit starten. So viel ist los in Berlin, dass man kaum mehr den Überblick hat. Der Tanz im August geht am Wochenende mit einem Marathon der Off-Szene in den Weddinger Uferstudios zu Ende, unter den Motto „Ausufern“. Das trifft den Punkt. Wir werden mit Kunstangeboten überflutet.

Und da liegt eine Ursache der Unzufriedenheit, ja Bitterkeit, die sich in den Protestnoten zur Lage der Freien Szene Luft verschafft. Die Szene ist Opfer ihres eigenen Erfolgs und Wachstums. Sie hat erheblich zur Attraktivität der Stadt beigetragen, zumal bei Touristen. Man kennt es von so vielen Orten: Erst kommen die Künstler, dann die Investoren. Die Off-Kultur gehört unfreiwillig zu den aktiven Faktoren der Gentrifizierung.

Wenn die Szene jetzt gegen die Politik des Regierenden Bürgermeister und Kultursenators Klaus Wowereit und seines Staatssekretärs André Schmitz Sturm läuft, dann fordert sie ihren Anteil an der positiven Entwicklung der Stadt, als wäre eine Kreativitätsdividende auszuschütten. In einem Aufruf der Koalition der Freien Szene heißt es: Die freien Künstler „sind die Substanz, von der die Kultur in Berlin lebt; und über die Kultur hinaus die Kultur- und Szenewirtschaft, von denen Berlin lebt. Diese Menschen sind der einzige Rohstoff, den Berlin hat. Mit einem Raubbau an diesen Menschen und ihren Leistungen würde sich Berlin um seine Zukunft betrügen.“ Und weiter wird konstatiert, mit zunehmenden Anspruchsdenken: „Berlin wird zunehmend unbezahlbar, unbewohnbar, künstlerisch unattraktiv, weil Qualität weder nachhaltig gefördert noch dauerhaft gewährleistet wird.“

Das Hauptproblem der Malaise: "Freie Szene" ist nicht definiert, jeder kann sich hier verwirklichen

Die Grünen im Abgeordnetenhaus nennen den Haushaltsentwurf für 2014/15 deshalb „ein desaströses Ergebnis“. Die Jury zur so genannten Konzeptförderung, die vor allem freien Gruppen und Spielstätten zugute kommt, hat soeben erklärt, dass unter den gegebenen finanziellen Verhältnissen eine seriöse Mittelvergabe nicht möglich sei. In der Tat: Die Kulturverwaltung kann zwar nicht mit der Gießkanne durch die Stadt laufen und Projekte en masse fördern. Aber sie kann Spielorte und Produktionsstätten ausbauen und finanziell besser ausstatten. Es gibt den vernünftigen Vorschlag, die neue City Tax dafür heranzuziehen. Mit fünf bis zehn Millionen Euro zusätzlich – ein Klacks, gemessen am gesamten Kulturhaushalt – wäre viel zu bewegen. Als Plattformen bieten sich zum Beispiel die Sophiensäle in Mitte an, aber auch das Hebbel am Ufer an – sofern das HAU sich auf die Berliner Freie Szene einlässt.

Denn das ist auch eine Frage der künstlerischen Qualität. Hier liegt das Hauptproblem der gegenwärtigen Malaise. Jeder kann sich verwirklichen, der Begriff Freie Szene ist nicht definiert. Dazu gehört ein Loch in Kreuzberg ebenso wie das privat gegründete, aber rein privatwirtschaftlich auf Dauer kaum zu führende Radialsystem an der Spree, einer der schönsten und inspirierendsten Kulturorte der Stadt. Dazu gehört die unbekannte Tänzerin, die vor ein paar Monaten aus New York nach Berlin gekommen ist, genauso wie die weltberühmte Choreografin Sasha Waltz, die hier um den Bestand ihrer Compagnie kämpft und aus diversen Töpfen Geld bekommt – aber nicht genug. Warum hat man sie nicht in die Leitung des Berliner Staatsballetts berufen? Das ist die Größenordnung, in der sie denkt und arbeitet, dahin gehört sie.

Die Ästhetik auf großen Bühnen ist häufig eine Off-Sprache

Tänzer und Choreografen, die ein gewisses Niveau erreicht haben, finden in Berlin keine belastbaren Strukturen. Für sie geht es nicht weiter ab einem bestimmten Punkt in der Karriere. Besser sieht es im Schauspiel aus. Die großen Häuser gieren nach Nachwuchs und neuen Ideen. Mancher junge Regisseur spart sich den Weg über die Freie Szene und geht direkt ans Deutsche Theater oder an die Schaubühne, wo Regisseure wie Patrick Wengenroth und Lars Eidinger mit jungen Schauspielern und „jungen“ Stoffen arbeiten. Und seit Barrie Kosky an der Komischen Oper Intendant ist, weht ein frischer, freier Geist durchs Haus.

Das hat Konsequenzen. Die Ästhetik der Aufführungen auf den großen Bühnen ist häufig eine Off-Sprache. Lange schon kommen die Innovationen, wenn überhaupt, aus den Staatstheatern. Frank Castorfs Volksbühne gab einst das schlagendste Beispiel, dort entwickelte sich der Horrorfilmer Christoph Schlingensief zum Bayreuth-Regisseur. Und jetzt leitet Shermin Langhoff das Maxim Gorki Theater, mit einer jungen, internationalen Truppe und einer famosen Energie, die sich in wenigen Jahren am Ballhaus Naunynstraße, im Off, erworben hat. Auch ihr Vorgänger Armin Petras trat mit seinen Schauspielern und Stücken wie eine Freie Gruppe auf, die ganze Anmutung war off – nur dass Petras’ Theater unter freien Bedingungen nicht realisierbar wäre.

Das Publikum - also der Markt - entscheidet, ob Quantität der wichtigste Maßstab für die Freie Szene ist

Schließlich haben die Bühnen, die festen Institute, ein Legitimationsproblem. Sie kassieren ja nicht einfach viele Millionen für ein Schnarchprogramm voller Mief und Staub, sondern suchen nach Mitteln und Wegen, sich zu öffnen, sich der neuen Medienwelt zu stellen, der Konkurrenz der internationalen Gastspiele zu begegnen.

Was also heißt Freie Szene? Viele verspüren das Bedürfnis, außerhalb der Institutionen zu arbeiten, selbstbestimmt, alternativ, wie man früher sagte. Niemand zwingt sie dazu. Oder sie haben keine andere Wahl, vielleicht sind sie auch nicht gut genug, fehlt es ihnen an der Ausbildung. Dann ist, wenn der ästhetisch-politische Gegenentwurf zu den etablierten Bühnen nicht mehr gegeben ist, die „Freie Gruppe“ eine arbeitstechnische Bezeichnung, allerdings ohne rechtlich durchsetzbaren Anspruch auf Mindestgage oder auskömmliche Projektmittel.

Der Konflikt zwischen Freier Szene und Senat markiert die Wachstumsproblematik Berlins, die eigentlich eine Chance ist. Deswegen argumentieren die Freien auch rein haushalterisch: „Für Museen und Opern ist die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für steigende Mieten, Energiekosten und Gehälter selbstverständlich ... . Die Freiberufler, die kleinen Projekte der Freien Kunstszene aber sollen sehen, wie sie ohne Qualitätsverlust, ohne Substanzverlust künftig in Berlin zurechtkommen?“

Das ist der Ton der Freien Koalition, beleidigt und weinerlich. Sicher: Der Senat muss mehr für die Szene tun, die Stadt hat sich gewandelt. Aber zuletzt entscheidet nicht die Politik, sondern das Publikum, also der Markt, ob wir immer mehr freie Produktionen brauchen. Ob Quantität der wichtigste Maßstab ist.

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