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Kultur: Zwei Morgen Wind

Zum 70. Geburtstag des Lyrikers Wulf Kirsten erscheinen seine Gedichte aus fünfzig Jahren

Bei der Stasi wurde er unter dem Namen „Lektor“ geführt und stand unter „operativer Kontrolle“. Wulf Kirsten war und ist kein bequemer Autor. Wie nicht wenige Autoren in der DDR fand er seinen eigenen Weg, die dichterische Existenz zu behaupten und zugleich seine Verse durchsichtig zu halten: für ein entschiedenes Votum zugunsten anderer Lebensformen und Wertvorstellungen. Die große Ausgabe seiner Gedichte, mit der ihn der Ammann-Verlag ehrt, zeigt eine unverwechselbare Signatur.

Der Titel „erdlebenbilder“ erfasst dies treffend. Kirsten, auf dem Lande groß geworden, hat wie nur wenige Sinne für die Töne, die Namen, die Farben und Geräusche des Landlebens, der Erde, die es für ihn noch wörtlich gibt. Das entsprechende Gedicht beginnt: „geboren zu Klipphausen, zwei morgen wind/ hinterm haus, das war an die hügellehne/ gesetzt, aus lehm und stroh die gefache,/ ...vorm tor stand schützend/ der prellstein, drauf saß ich und sah/ staunend die welt vor meinen füßen.“. Dieses Staunen wurde die Quelle seiner Dichtung. Und die Leistung Kirstens ist es, nicht in das mythisierende Lob der Natur zurückgefallen zu sein, sondern einen eigenen Zugang zum Thema gewonnen zu haben.

Dass die Natur vergeht und täglich unwiederherstellbar geschädigt wird, müsste auf die Form des Nachrufs führen. Das war Kirsten zu wenig, weil zu leicht. Er eignete sich in langjähriger Forschungsarbeit das Sprachmaterial an, das die Landarbeit und den Umgang mit unserer Erde bezeichnete. Die Lust zu benennen, verbindet ihn mit Johannes Bobrowski, dessen Vorsicht („Immer zu benennen“) er beherzt überwindet: Natur haben wir als bearbeitete Natur, und die Sprache als Zeuge gibt Laut von der gegenseitigen Bildung. Vielleicht, so die schmale Zuversicht, lässt sich ein anderes denn ein nostalgisches Bewusstsein aufrufen, wenn die Verschwisterung von Land und Leuten wieder wörtlich gewusst wird. Am Ende dieses hochpoetischen Konzepts freilich steht eine resignative Geste: „aber du, aber ich, wir wollten doch kein/ aufhebens machen, die geschichte nimmt sich/ spielend zurück, mich wie auch dich, und nun/ erst den krell beschlagen, den acker pfluglängs/ abgezackt.“

Der Rückgang auf ein fast verschollenes Vokabular gibt so seine Ambivalenz zu erkennen: Rettung des täglichen Hinfalls an Bräuchen und Arbeitsformen, an Wissen und Haltung ins Wort, das meint eher Archivierung denn Aktualisierung. Aber es schärft, im Gedicht und als Gedicht, den Blick auf unsere Zeit, der so viel Sprache verschlagen wird. Die dichterische Leistung liegt keineswegs nur im Sammeln altertümlicher Wörter beschlossen, sondern im gekonnten Rückgriff auf die Bedeutung der Formen. Berühmt (und oft weitergedichtet) ist das Gedicht „werktätig“ von 1975 geworden. Es sammelt Tätigkeiten in einfacher Satzform: Verb und Objekt: „korn aufschütten, ein pferd beschlagen,/ den segen der kultur im korbe tragen“, und so geht es weiter mit über zwanzig Tätigkeiten und Ausdrücken. Aber das Subjekt fehlt. Irgendwann muss das der Leser merken und sich dem Sog dieser Folge entziehen, wie das Enzensberger in seiner „geburtsanzeige“ gefordert hat. Kirsten bleibt skeptisch – der Mensch bleibt der Natur auf unmenschliche Weise unterworfen: „eine leiter lehnen, haferstroh häckseln,/ das zeitliche mit dem ewigen verwechseln.“

Am Beispiel der Schmiede zu Blankenstein zeigt Kirsten, dass der Verlust von Wissen, von Redewendungen und Metaphern auch einen Fortschritt bezeichnen kann. Es sind tote Begriffe und schartige Sinnsprüche, die sich an das Material Eisen heften. „Amboss oder Hammer sein“(Goethe) erscheint nicht mehr als gültige Bestimmung von Volk und Herrschaft: „die vergangenheit spricht mit verrosteter stimme/ von den dialogen zwischen hammer und amboss.“

Kirsten hat „im handgepäck/ die kleinen wortrechte,/ ausgesiedelte lebensgeschichten“, ist ganz unerschöpflich in seinen Erdlebenbildern, vor allem aber in seiner höchst subtilen, gestisch-starken Verskunst. Die DDR-Leser freuten sich auch an der politischen Dimension seiner Bilder. So erkannte sich das abgeschaffte gehobene Bürgertum, wenn es las: „die oberen waldlagen/ der mittleren bergstufen/ von einschlägigen motorsägen/ abschlägig beschieden./ kahlschlagwirtschaft, das ende/ der tannen. schiefergebirge,/ beschreib seine schönheit anders.“ Das ist, anspielungsweise, eine Variation zu Brecht („Tannen“) und eine so subtile wie energische Kritik an der Kulturpolitik der DDR von 1976. Die neuesten Gedichte zeigen, dass Kirsten die Reibung am Überwachungsstaat nicht nötig hat, um uns mit bissigen, schlüssigen, auch humoristischen und immer poetisch reichen Versen zu erfreuen, ein Dichter, der nicht auf dem Prellstein blieb. Kirsten wohnt in Weimar – und dort ist siebzig überhaupt kein Alter.

Wulf Kirsten: erdlebenbilder. gedichte aus 50 jahren. 1954-2004. Zürich: Amman Verlag 2004. 406 Seiten, 24.90 €

Alexander von Bormann

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