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Zwischen Zwielicht und Totalverfinsterung. Ben Marcus, derzeit Gast der American Academy am Wannsee.

© Mathias Bothor/Hoffmann & Campe

Zwischen Konvention und Postmoderne: Leise Tränen im Schlingenbeutel

„An Land gehen“: Der Amerikaner Ben Marcus entwirft in seinen Erzählungen albtraumhafte Szenerien.

Von Gregor Dotzauer

Nie mehr, erklärte er einmal nicht ohne Bewunderung, werde man in Romanen jene Tiefe des Versinkens erreichen, die Jane Austen so meisterlich herzustellen wusste. Ihre Kunst folge einem Modell, das sich im Sinn des Lesers kaum verbessern lasse: Nur könne man im 21. Jahrhundert eben nicht mehr so erzählen. Ben Marcus, 1967 als Sohn eines jüdischen Mathematikprofessors und einer irisch-katholischen, auf Virginia Woolf spezialisierten Literaturwissenschaftlerin in Chicago geboren, hat sich schreibend stets gegen die Konventionen des 19. Jahrhunderts aufgelehnt. Wie nur wenige aus seiner Generation gehört er zu den Protagonisten einer US-amerikanischen Literatur, die sich noch uneingeschränkt auf ihre postmodernen Traditionen beruft: auf William Gaddis, John Hawkes oder David Markson. Und so rüttelt er an der Geschlossenheit von Geschichten, wo immer es geht, er stellt deren Erzählbarkeit infrage und macht auch die Sprache selbst zum Gegenstand.

Damit hat sich Marcus, der an der Columbia University Creative Writing lehrt, viele Freunde gemacht, es sich mit einem aber auch für immer verdorben. „Why experimental fiction threatens to destroy publishing, Jonathan Franzen, and life as we know it: A correction“ hieß der Essay, mit dem er 2005 in „Harper’s Magazine“ gegen das populistische Literaturverständnis von Jonathan Franzen polemisierte: Warum experimentelle Literatur die Verlagswelt, Jonathan Franzen und das Leben, wie wir es kennen, zu zerstören droht.

Der Begriff des Experimentellen behagt ihm selbst zwar längst nicht mehr. Doch angesichts des konsequent dystopischen, ja apokalyptischen Grundzugs seiner Texte, die zugleich von einer herrlich paranoiden Komik leben, taugt er zumindest als Parole gegen ästhetische Selbstzufriedenheit.

Findige deutsche Leser konnten mit Ben Marcus schon 2003 im „Schreibheft“ Bekanntschaft schließen, wo er neben anderen neuen US-Stimmen wie Richard Powers, David Foster Wallace und Lydia Davis vorgestellt wurde. In Buchform kam er hierzulande erst im letzten Jahr mit seinem jüngsten Roman „Das Flammenalphabet“ (The Flame Alphabet) an – 17 Jahre, nachdem er mit der surreal getönten Prosacollage „The Age Of Wire And String“ debütiert hatte. Der Roman, für den er aus obskuren kabbalistischen Quellen die Sekte der Waldjuden erfand, erzählt von einem tödlichen Sprachvirus, der von jüdischen Kindern ausgehend, ganz Amerika befällt.

Die 15 Erzählungen von „An Land gehen“ (Leaving the Sea), die zuvor im „New Yorker“ oder dem „Tin House Magazine“ zu lesen waren, bieten nun eine zweite Gelegenheit, Ben Marcus zu entdecken – wenn die Sammlung nicht den Eindruck vermitteln würde, es gleich mit mehreren Autoren zu tun zu haben. Ihre fünf Abteilungen zeugen von der Heterogenität eines Werks, an dessen einem Ende die endzeitliche Absurdität eines Samuel Beckett regiert – und an dessen anderem Ende die sehr viel handfestere Science-Fiction eines Samuel R. Delany.

Die erste Hälfte lebt noch von deutlich plothaften Zügen und durchaus traditionellen Dialogpassagen. Ben Marcus schreibt eine Art postmoderner Schauerliteratur, die im Zwielicht beginnt und mit maliziöser Lust zur Totalverfinsterung neigt. Schlimmer geht es immer bei Ben Marcus, wobei der leise Sadismus, den er an seinen Figuren exekutiert, auch eine besondere Form der Empathie ist.

Was immer zwischen einer oft unheimlichen Aufblende und einer mysteriösen Abblende im Dunkeln bleibt: Diese Storys tun ihre Wirkung. Marcus weiß auf seine Weise, nicht ganz anders als Jane Austen, wie man die psychologischen Strippen zieht, um eine bedrohliche Atmosphäre mit skurrilen Aufhellungen zu schaffen.

Eine Evakuierungsübung inmitten einer ominös näherrückenden Gefahr, bei der es der Sohn wagt, seine Eltern gegen jede Absprache mitzunehmen („Das Treueprotokoll“). Die Überforderung eines mit seinem lungenkranken Anderthalbjährigen überraschend – und ohne absehbares Ende – allein gelassenen Vaters, der über seinen Betreuungspflichten den Job verliert („Rollingwood“). Das Warten eines jungen, seine lebensbedrohliche Autoimmunerkrankung in Düsseldorf behandelnden Amerikaners auf seine Freundin, nachdem sich beide auf einer Europareise zerstritten haben („Willst du bei mir sein?“). Der Unwille eines Übergewichtigen, seinen Eltern beim Heimatbesuch von Frau und Kind zu erzählen, die sie ihm nie zutrauen wollten („Was hast du getan?“). Oder die Furcht eines Mannes, seine Mutter werde genau dann sterben, wenn er gerade nicht bei ihr sei („Krimis mit meiner Mutter“).

Die realistische Anmutung solcher Geschichten wird in der Schwebe gehalten von der Schemenhaftigkeit der in ihnen berichteten Verhältnisse. Im Fall des geradewegs vor den Augen des Lesers zerfallenden Autoimmunerkrankten könnte es sich auch um eine besonders neurotische Form der Figurenrede handeln: um thanatophiles Kopfkino.

Nach zwei tiefschwarzen Frage-Antwort-Stories, die sehr an den Irrwitz der „Kurzen Interviews mit fiesen Männern“ von David Foster Wallace erinnern, ist es mit diesem Marcus allerdings unwiderruflich vorbei. Geschichten wie „Knochen“ oder „Das Vaterkostüm“ entwerfen eine archaisch verfremdete Kunstwelt, die alles erkennbar Mimetische offenbar um jeden Preis hinter sich lassen will.

Einiges wirkt rätselhaft um der Verrätselung willen

Zwischen Zwielicht und Totalverfinsterung. Ben Marcus, derzeit Gast der American Academy am Wannsee.
Zwischen Zwielicht und Totalverfinsterung. Ben Marcus, derzeit Gast der American Academy am Wannsee.

© Mathias Bothor/Hoffmann & Campe

Da wird erzählt von einem in feinsten, wie eine Sprache lesbaren Stoff gewandeten Vater, dem seine Kinder ein „Kostümgewehr“ ölen. „Sein Körper war gekrümmt und fremdartig. Jede seiner Mienen war eine Grimasse; oft zierten Wollverbände sein Gesicht.“ Im Gegensatz zu seinem Bruder kann der Ich-Erzähler die väterlichen Stoffe jedoch nicht lesen: „Ich hatte ein Sprachproblem. Die Sprache meines Bruders nannte sich Vorhersage. Sie bestand aus Tönen, die er in ein gepunktetes Lederetui bellte. Wenn mein Vater die Hände meines Bruders mit Baumwollgeschwafel umwickelte, konnte mein Bruder eine primitive Sprache auf den Boden klopfen, kurze sprachliche Hiebe, die mein Vater mit seiner Ohrschüssel belauschte.“

Das ist rätselhaft um der Verrätselung willen. Und es kommt noch angestrengter: „An den kurzen Abenden, an denen der Himmel zu straff gespannt war und die Vögel dagegen prallten wie Kieselsteine auf unser Dach, erholte sich mein Bruder schlafend von seinen Vorhersage-Ausbrüchen in einer Schlinge, die von unserer Tür herabhing. Er weinte leise in seinem Schlingenbeutel, während ich unsere Fensterbänke mit Hörvorrichtungen übersäte, für den Fall, dass in der Nacht eine Botschaft eintraf.“

Die syntaktischen Wiederholungsschleifen der Titelstory wiederum wirken wie eine Stilübung, und der finstere innere Monolog, den Thomas, der Tote, in „Die Moore“, der längsten Erzählung des Bandes, führt, quillt, von obszönen Fantasien bewegt, in futuristischer Todestrunkenheit vor sich hin. Falls dies die amerikanische Antwort auf Maurice Blanchots berühmteste Erzählung „Thomas der Dunkle“ sein sollte, so ist sie doppelt forciert, weil ihr sowohl der theoretische Rahmen fehlt wie die Bündigkeit des einzelnen Satzes. Je deliranter Marcus sich gibt, desto ausstattungshafter und überladener wirkt seine Prosa.

Die wenigsten, mit denen man ihn vergleichen könnte, haben alles. Richard Powers ist als Denker ein Visionär, aber als Erzähler eher ein Traditionalist. Der raffinierte Sprachminimalismus von Lydia Davis bleibt auch stofflich reduziert. Höchstens Marcus’ Hausgott David Markson, der in seinem 2012 mit einem Vierteljahrhundert Verspätung auf Deutsch erschienenen Roman „Wittgensteins Mätresse“ die Sprache des „Tractatus logico-philosoophicus“ in eine postapokalyptische Szenerie überführt, versucht, das Philosophische und das Ästhetische in großem Maßstab zusammenzuführen.

Ganz gegen seine Absichten ist Ben Marcus deshalb da am stärksten, wo er einige Register unterhalb ansetzt und noch psychologische Bodenhaftung hat. Aus den einfachsten Konstellationen schlägt er irritierende Funken und lässt alle expliziten ästhetischen Programme hinter sich. Eine sarkasmussatte Story erzählt von einem weltmüden Schreibdozenten, der sich mit seinen Studenten auf Kreuzfahrt begibt und dabei mit sämtlichen Standardeinwänden gegen Literatur konfrontiert wird: überbordende Beschreibungswut, mangelnde Glaubwürdigkeit oder Voreingenommenheit in Gender-Angelegenheiten. Wie er sich hier selbst auf die Schippe nimmt und noch den ehrwürdigen Grundsatz „Show don’t tell“ in sein Gegenteil verkehrt, ist ein reines Vergnügen.

Ben Marcus: An Land gehen. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Thomas Melle und Gerhard Henschel. Hoffmann & Campe, Hamburg 2013. 400 Seiten, 22,99 €.

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