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Eine zyprische 2-Euro-Münze

© dpa

Zypern und die Finanzkrise: Deutschland, das kapitalistische Über-Ich

Was auf Zypern passiert, markiert eine Wende in der europäischen Krise - so sehen es zumindest die Südeuropäer. Antonis Liakos, Professor in Athen, schreibt über Deutschlands Macht und die Rückkehr des Kolonialismus.

Warum verwandeln sich Wohlstandgesellschaften in Armutsgesellschaften? Warum werden Krankenhäuser, Schulen, soziale Dienste abgewickelt? Warum werden die produktivsten Jahrgänge durch die Arbeitslosigkeit vergeudet? Warum werden grundlegende Entscheidungen, die das Schicksal der Menschen betreffen, außerhalb des Parlaments und ohne demokratische Verfahren getroffen? Welches Gespenst geht um in Europa und bringt Unglück über so viele Länder?

Europa hat keinen großen Krieg verloren. Im Gegenteil, es hat seine Einigung erreicht und zwanzig Jahre Wachstum hinter sich. Europa war zu einem beneidenswerten Ort geworden, zum Traum für Millionen junger Menschen aus Asien, Afrika und Lateinamerika, die alles aufs Spiel setzen, um unter seinem Himmel zu leben. Was aber ist passiert? Warum wurde die europäische Einigung nicht zu Ende geführt? Warum öffnen sich wieder tiefe Gräben zwischen dem Norden und Süden, zwischen West- und Osteuropa, zwischen Reich und Arm?

Zuletzt wurde Zypern von dem Übel erfasst. Dabei war es eines der wenigen Länder, die beim Eintritt in die Euro-Zone die Bedingungen erfüllten. Gewiss, die Insel hatte einen aufgeblähten Finanzsektor, aber nicht übertrieben größer als andere europäische Staaten. Ohne Schaffung eines Finanzzentrums hätte sie sich nicht von der Spaltung im Jahr 1974 erholen können. Zypern war eine Mischung alter und neuer Strukturen, aus protektionistischem Zunftwesen und internationalen Märkten. Wenn die EU wie eine bürokratische Normalisierungsmaschinerie funktioniert, wäre die zyprische Ausnahme früher oder später an ihr Ende gekommen. Die Heftigkeit jedoch löst Erstaunen aus.

Die zyprische Krise hat viele Ursachen: der hair cut der griechischen Staatsanleihen, die hochriskanten Darlehen an Politiker und Oligarchen, die Inkompetenz der zyprischen politischen Führung. Diese Gründe führen zu einer Verkettung, die aus der Krise des europäischen Südens insgesamt herrührt. Die Krise erscheint hier als Krise der Staatsfinanzen, dort als Krise des Bankensektors. Gemeinsam ist die negative Differenz zwischen der Wachstumsrate und dem Darlehenszins. Und warum gibt es kein Wachstum? Der europäische Süden ist eingeklemmt zwischen Deutschland einerseits und den aufkommenden Märkten Asiens andererseits. Die Konkurrenzfähigkeit des Südens leidet Not, er muss seinen Lebensstandard und seine sozialen Leistungen absenken, während sein Überschuss in den Norden abfließt.

Hier verquicken sich verschiedene Modelle von Wirtschaft und Politik, die nicht nur auf Zypern vorkommen, sondern den Übergang von einer historischen Epoche zu einer anderen charakterisieren. Es handelt sich auch nicht um pathologische Zustände, sondern um Verdichtungen geschichtlicher Zeit unter konkreten örtlichen Bedingungen. Die heutige Krise in Griechenland wie auch in Zypern ist der fehlenden Anpassung an das neue, nach und nach oktroyierte ökonomische Modell geschuldet – und zugleich der Anpassung an eben dieses Modell. Die Krise ist ein Ausfluss des Modells und zugleich Ergebnis von Konflikten mit ihm. Die Krise hat mit der Koexistenz verschiedener Ausprägungen von Modernität zu tun.

In Südeuropa ist alles schwebend, alles befindet sich in einer Zone der Gefährdung

Plötzlich ist die zyprische Geschichte in eine rückläufige Zeitmaschine geraten. Zypern, das von einer britischen Kolonie zu einem Mitglied der Europäischen Union wurde, kehrt mit Volldampf zurück in einen kolonialen Zustand. Die internationalen Medien und die Phraseologie der europäischen Spitzenpolitiker weisen auf einen innereuropäischen Orientalismus hin: Stigmatisierung und Verachtung. Die Zeichen des Kolonialismus können nicht vom Körper des vereinigten Europas getilgt werden. Sogar der nachdrückliche Wiederauftritt der zyprischen Kirche als Vertreter der Nation gehört zu dieser Rückwärtsbewegung.

Was die griechische und die zyprische Krise zeigt, ist eine neue Beziehung zwischen der Sphäre der Ökonomie und der Sphäre der Politik. Wenn der Kapitalismus während einer langen Periode seiner Geschichte einen stabilen institutionellen Rahmen brauchte; und wenn nach den demokratischen Umbrüchen der 70er Jahre in Griechenland, Spanien und Portugal wie auch in Zypern dieser Rahmen nur demokratisch sein konnte; wenn der Integrationsprozess in die Europäische Union die Stabilität des institutionellen Rahmens sicherstellte, so zeigt die Krise: Stabilität ist ein Hindernis.

Der moderne Kapitalismus fordert Flexibilität der Institutionen, eben keine Stabilität. Der Übergang zu einem Regime der Meta-Demokratie, in dem die wichtigen Entscheidungen hinter den demokratischen und institutionellen Kulissen getroffen werden, sei es in der Europäischen Union, sei es in den jeweiligen Staaten, hat sich auf diese Art und Weise vollzogen. Die Verfassung und die Sanktionierung durch das Volk werden als Hindernis betrachtet. So ist die zweite Entscheidung der Eurogroup zu Zypern nicht durch das Parlament gegangen. Sie enthielt keine im Voraus festgelegte Höhe der Besteuerung der Bankeinlagen und überließ die grundsätzlichen Entscheidungen einem Mitarbeiter der Zentralbank. Für eine Entscheidung, die auf dramatische Weise das Leben der Zyprer für die nächsten zehn Jahre ändert, war keine Legitimierung vorgesehen.

Eine ähnliche Flexibilität weist auch die Geschichte der griechischen Memoranden auf, die nur die eine Seite binden, nämlich Griechenland, das sie ohne jegliche Abweichung umsetzen muss, während die Troika sie ändern kann. Das traurige Resümee ist: Diese Politik zur Lösung der Krise stellt den Kernbestand der Verfassungsinstitutionen und der Demokratie infrage.

Die Besteuerung der Einlagen bei den zyprischen Banken bedeutet einen Einschnitt im europäischen Krisengeschehen. Bis jetzt wurde bei Bankenkrisen die Last auf den Staat, also die Steuerzahler und Arbeitnehmer abgewälzt. Das war in der Tat eine große soziale Ungerechtigkeit. Das Prinzip jedoch, die Anleger als Investoren zu behandeln, die das spezifische Risiko zu tragen haben, ist neu. Die heutigen Arbeitnehmer sind nicht mehr jene der Marx’schen Epoche, die Risiken eingehen konnten, da sie nichts zu verlieren hatten als ihre Ketten. Sie können ihre Einlagen und Ersparnisse verlieren, so relativ gering sie auch sein mögen – und damit ihre Alterssicherung und Vorsorge.

Die Politik des Sparens und der Einschränkungen wurde mit der Rettung der Währungsstabilität und des erworbenen individuellen und kollektiven Reichtums gerechtfertigt. Diese Rechtfertigung ist jetzt weggefallen. Alles ist schwebend, alles befindet sich in der Zone der Gefährdung, alles hängt jetzt mehr von Entscheidungen denn von Prinzipien, Institutionen und Gesetzen ab. Das System insgesamt hat die alte Form, durch die die Menschen regierbar wurden, zerstört, ohne eine neue zu finden. Durch die Krise untergräbt das System sich selbst.

Das neue System, die Einlagen dem Risiko zu unterwerfen, wird folgende Konsequenzen haben. Die Einlagen werden von Banken und Ländern, wo die Wirtschaftsflaute die Stabilität bedroht und die Gefahr eines hair cut droht, abwandern zu Ländern, wo die Banken die Integrität der Einlagen garantieren, selbst bei negativem Zins. Davon werden die deutschen Banken profitieren, oder die Banken der Peripherie werden unter deutsche Kontrolle geraten.

Deutschland als stärkste europäische Volkswirtschaft diktiert die Bedingungen, zu denen die europäischen Nationen ihre Wirtschaft und Gesellschaft handhaben müssen, indem es deren nationale Unabhängigkeit, Institutionen und demokratischen Errungenschaften untergräbt. Deutschland funktioniert als das theoretische Über-Ich des europäischen Kapitalismus, da es die einzige Wirtschaft mit Überschüssen ist, die vom Euro profitiert, indem sie minimale oder negative Zinsen zahlt, während die anderen Volkswirtschaften Geld zu Zinsen leihen, die weit über ihrer Wachstumsrate liegen. Das verstärkt die Differenzen immer mehr. Aus all diesen Gründen stellt die zyprische Krise eine Wende in der europäischen Krise dar.

Antonis Liakos ist Professor für Geschichte an der Universität von Athen. Der (hier gekürzte) Text wurde von Ulf-Dieter Klemm aus dem Griechischen übersetzt. Er wurde zuerst in der neuen Online-Zeitschrift XRONOS publiziert. Sie erscheint auf Griechisch und Englisch und will in allen Bereichen der zeitgenössischen griechischen Kultur eine fruchtbare Debatte anregen: www.chronosmag.eu

Antonis Liakos

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