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Am Ernst-Reuter-Platz in Charlottenburg, Juli 1970

© Landesarchiv Berlin, F Rep 290 Nr. 0005956_C, Fotograf: Horst Siegmann

"Alltag in Berlin": Neues Buch zeigt Berlin in 1000 Bildern

Ein opulenter Fotoband zeichnet die Berliner Alltagsgeschichte im 20. Jahrhundert nach

Das Wort „Alltag“ – haftet ihm nicht stets eine Spur von Langeweile an? Denn das Alltägliche, das ist die Routine, das immer Wiederkehrende. Das ist die Schrippe zum Morgenkaffee, nicht das Gourmetmenü am Abend eines Festtages. Es ist die Ordnung des Vertrauten, das schon, beruhigend, aber nicht gerade spannend. Eine mögliche Sicht, aber nicht die einzig mögliche. Vielleicht gar nicht mal die richtige. Denn um bei der Schrippe zu bleiben: Der allmorgendliche Gang zum Bäcker, in der Gewissheit, dass die Schrippen wieder nicht wirklich knusprig sind, mag den heutigen Frühaufsteher langweilen. Aber wie empfindet er beim Betrachten eines Fotos aus den Mangeljahren 1919/20, das einen Straßenhändler beim Verkauf von Schrippen zeigt, deklariert als „Friedensware“, also etwas damals Besonderes, qualitativ Herausragendes? Der Verkäufer dürfte seinen Arbeitsalltag als öde, auch körperlich anstrengend empfunden haben. Sein Foto aber löst heute alles andere als Langeweile aus, bewirkt eher Empathie mit dem jungen Mann in seinem Jackett mit den viel zu kurzen Ärmeln und der armseligen, aus einem Pappkarton und Schnüren gebastelten Verkaufstheke. Das Foto, gar nicht mal mit allen Finessen dieser Kunst aufgenommen, erzählt von der bitteren Armut, die im Berlin nach dem Ersten Weltkrieg herrschte, aber auch von dem Willen seiner Bewohner, ihr hartes Los zu meistern.

Ein typisches Foto in dem neu erschienenen Bildband „Alltag in Berlin. Das 20. Jahrhundert“. Eines von rund 1000 Aufnahmen, mit denen das Leben in Berlin quer durch dessen helle, dunkle wie tiefschwarze Phasen der jüngeren Stadtgeschichte dokumentiert und nun vor dem Betrachter ausgebreitet wird. Zusammengestellt und kommentiert wurde das dickleibige Werk von Hans-Ulrich Thamer und Barbara Schäche, er Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster und Kurator verschiedener Ausstellungen, auch am Deutschen Historischen Museum; sie Leiterin der Fotosammlung des Berliner Landesarchivs und schon insofern eine hervorragende Kennerin der Bestände, aus denen solch ein opulenter Bilderreigen zusammengestellt werden kann.

Nicht ganz einfach, das zu gliedern. Zunächst einmal wurde die Fotoflut in zwei durch historische Essays eingeleitete Großkapitel kanalisiert. Der größere ist dem Thema „Leben und Arbeiten“ gewidmet und unterteilt sich in Unterabschnitte wie „Arbeitswelten“, „Familie und Freizeit“ oder „Konsum und Vergnügen“. Der kleinere ist „Die Hauptstadt der Deutschen“ überschrieben und behandelt die politische Seite des Alltags unter Überschriften wie „Preußens Gloria und der Niedergang“, „Das braune Berlin“ oder auch „Mauerfall und neuer Aufbruch“. Innerhalb der Abschnitte folgen die bis auf wenige Ausnahmen der Fotothek des Landesarchivs entstammenden Bilder weitgehend der Chronologie. Als Betrachter könnte man sich nun von vorne nach hinten durch das Buch blättern, aber es legt eigentlich eine andere Nutzung nahe: ein eher dem Lustprinzip und der historischen Neugier als der Seitenzählung folgendes Stöbern in den Schätzen, die häufig gar nicht mal von besonderer Finesse beim Fotografieren zeugen, aber eine Authentizität besitzen, die sie trotz Überwiegen des Schwarz-Weiß-Films zu farbigen Zeugnissen längst vergangenen Großstadtlebens werden lässt. Nicht immer scheint sich im Alltag trotz dazwischenliegender Jahrzehnte allzu viel verändert zu haben.

Egal ob die Bilder eine Geburtstagsfeier bei der AEG in der Weddinger Brunnenstraße 1956 zeigen oder zwei Männer in Arbeitskluft bei einer Pause in einer Kreuzberger Kneipe 1968 – Bier und Korn schmecken hier wie dort. Und die Situation in einem gut besetzten U-Bahn-Waggon, dieses geduldig-ungeduldige Warten auf Weiterfahrt und Ankunft, hat sich zwischen 1930 und heute offensichtlich auch nicht groß verändert, von der Kleidermode und der Bauweise des Waggons mal abgesehen. Anderes dagegen ist unwiederbringlich Vergangenheit – zum Glück: „For the next 2 miles you will be in the Soviet Zone. Do not stop.“ Ein Schild, das dem ursprünglichen Verlauf der Autobahn im Bereich Drewitz-Dreilinden geschuldet war, als die DDR-Grenzer ihre Arbeit noch auf dem Gelände der heutigen Parkplätze Parforceheide und Am Stern erledigten, die Westseite in der Siedlung Albrechts Teerofen. Danach standen den Autofahrern noch einmal rund drei Kilometer DDR bevor, bis sie Zehlendorf erreichten. Erst 1969 wurde der Autobahnverlauf durch die DDR verändert und die Kontrollstelle dorthin verschoben, wo sich heute der Europarc Dreilinden befindet.

Auf solche Dokumente eines sich beständig wandelnden Stadtbildes stößt man immer wieder in dem Buch, neben den Zeugnissen wechselnder Moden und Lebensformen machen sie für historisch Interessierte sicher eines der spannendsten Seherlebnisse beim Blättern aus. Während die Playstation-Generation, gewohnt, sich in perfekt nachgebildeten virtuellen Welten zu tummeln, über den Anblick einiger Jungen, die während der Luftbrücke mit kleinen Rosinenbombern spielen, amüsiert staunen dürfte: Diese im Halbrund aufgeschichteten Backsteine sollen den Flughafen Tempelhof darstellen? Zum Piepen!

 Hans-Ulrich Thamer/Barbara Schäche: Alltag in Berlin. Das 20. Jahrhundert. Elsengold Verlag, Berlin. 462 Seiten, ca. 1000 Abbildungen, 49,95 Euro
Hans-Ulrich Thamer/Barbara Schäche: Alltag in Berlin. Das 20. Jahrhundert. Elsengold Verlag, Berlin. 462 Seiten, ca. 1000 Abbildungen, 49,95 Euro

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