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Nichts als Wüste. Im Film „Wüstenblume“ läuft die junge Waris Dirie, dargestellt von Suraya Mohamed Ali Scego, auf der Flucht davon. Als Erwachsene und Model sprach Dirie erstmals das Tabuthema Beschneidung an. In Berlin wird Opfern geholfen.

© Walter Wehrner

Ein Jahr "Desert Flower Center" in Berlin-Zehlendorf: Waris Dirie und ihr Kampf für beschnittene Frauen

150 Millionen Frauen sind weltweit intim verstümmelt. Seit einem Jahr hilft das Krankenhaus Waldfriede in Berlin-Zehlendorf den Opfern - Schirmherrin ist das Model Waris Dirie aus Somalia, die 2013 auch zur Eröffnung nach Berlin gekommen war.

Was Sexualität ist, das habe ich nie erfahren“, sagt Rahmo. Sie stammt aus Somalia. Weltweit sind wie die in Potsdam lebende Frau rund 150 Millionen Frauen im Genitalbereich verstümmelt. Sie wissen nicht, wie es sich anfühlt, erregt zu sein oder einen Orgasmus zu haben. Im Jahr 2014 werden täglich weltweit immer noch 8000 Mädchen beschnitten. Die Klitoris und oft auch die Schamlippen werden unbetäubt mit Glasscherben, Rasierklingen, Scheren und den Fingernägeln entfernt. Bis zu einem Drittel der Mädchen sterben infolge der blutigen Tradition. Ihre intimsten Körperteile lässt man teils liegen, Vögel fressen sie auf. In Deutschland leben rund 40 000 Frauen, die zum Opfer der „Female Genital Mutilation (FGM)“ geworden sind. Wie Rahmo, die Frau aus Ostafrika mit den strahlenden Augen und der lebendigen Körpersprache, die gerade bei Oberärztin Cornelia Strunz vom „Desert Flower Center“ im Krankenhaus Waldfriede in Zehlendorf im Arztzimmer sitzt.

Vor genau einem Jahr war zur Eröffnungsfeier des weltweit ersten medizinischen und psychologischen Hilfezentrums dieser Art in der Klinik auch die Frau zu Gast, die durch ihr Buch und den Film „Wüstenblume“ erstmals das Tabu ansprach und Schirmherrin ist: das Model Waris Dirie. Im Kinofilm der um die Ecke wohnenden Regisseurin Sherry Hormann ist mitzuerleben, wie die kleine, mit fünf Jahren beschnittene Waris vor der Zwangsehe mit einem alten Mann barfuß und dürstend durch die Wüste flieht.

Das hat auch Rahmo gemacht, die wie Waris Dirie aus Somalia stammt. Mit einer somalischen Dolmetscherin ist sie aus Potsdam in die Argentinische Allee 40 gekommen. Sie wurde vergewaltigt, ihre Familie angegriffen, sie floh. „Ohne Wasser in der Wüste, das war so unhygienisch“, sagt Rahmo. Ihre Übersetzerin vom Diakonischen Werk hat sich erst gewundert, dass die Frau immer aufstand und umherlief. „Ist das Gespräch denn so langweilig“, fragte sie sich. Doch dann offenbarte sich die Frau: Sie hielt es vor lauter Schmerzen nicht auf dem Stuhl aus.

Je kleiner die Öffnung, je höher der Brautpreis

Heute sitzt Rahmo im Gespräch ganz entspannt und führt immer wieder die aneinandergelegten Fingerspitzen an die Lippen und wirft imaginäre Küsse in die Luft. Sie gelten Roland Scherer, dem Chefarzt des Zentrums für Darm- und Beckenbodenchirurgie am Krankenhaus Waldfriede und Initiator des Berliner „Desert Flower Center“. Er kennt die medizinischen Folgen der Tatsache, dass in den betroffenen Ländern (siehe Grafik) nur beschnittene Mädchen und Frauen als rein gelten, zwangweise treu. Die meisten zwischen vier- und zwölfjährigen Mädchen werden nach dem Gewaltakt wochenlang vom Knöchel bis zur Hüfte zusammengebunden, damit Narbengewebe wächst. Das ist nicht flexibel, es bilden sich Fisteln, Opfer werden oft inkontinent.

Nach dem Abschneiden wird die verbliebene Haut in einigen Ländern mit Dornen, Tierdarm, Eisenringen oder Pferdehaar zusammengehalten. Nur eine Öffnung in Stecknadelkopfgröße bleibt übrig, für Menstruationsblut und Urin. Denn „je kleiner die Öffnung ist, desto größer ist der spätere Brautpreis“, sagt die Leiterin und Koordinatorin des „Desert Flower Center“ im Zentrum für Darm- und Beckenbodenchirurgie, Cornelia Strunz. Oft schneiden die Männer die Frau vor dem ersten Geschlechtsverkehr wieder auf. Noch ein Trauma.

Auch der Blick auf die Fotos der erfolgreichen medizinischen Eingriffe, die die Fachärztin für Chirurgie und Gefäßchirurgie auf dem Bildschirm zeigt, sind für Laien nur schwer erträglich. Doch für die bislang gut 40 Frauen, die es bisher wagten, sich dank des Angebotes gegen die Gebräuche der Heimat aufzulehnen, ist das ein Segen. Es wurden 20 Frauen etwa wegen Schließmuskelverletzungen oder Beschwerden durch Stuhlinkontinenz erfolgreich operiert. Uwe von Fritschen, Chefarzt für Plastische Chirurgie vom Berliner Helios-Klinikum Emil von Behring, rekonstruiert nach Wunsch oft auch die Klitoris – die Patientinnen wollen sich wieder als komplette Frau fühlen.

Nicht immer aber bedeutet das, dass die Frauen auch wieder etwas empfinden. Während der OP holt der Mediziner Reste der Klitoris-Eichel oder ihrer Wurzel aus dem tiefem Gewebe wieder an die Oberfläche. Später bildet sich darüber ein kleines Schutzhäutchen. Jede Frau, die will, soll behandelt werden, sagt Darmexperte Scherer in der Klinik in Trägerschaft der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten. Die Kosten werden durch private oder gesetzliche Kassen getragen oder über Spenden.

90 Prozent sind danach gefühllos

Bevor sich aber eine Frau einen Eingriff zutraut, steht viel geduldiges Zuhören und Zureden. Die meisten Patientinnen sind hierzulande lebende Afrikanerinnen. Aber auch eine Russin und eine Ägypterin erzählten bereits intimste Dinge. Auch im modernen Ägypten sind laut Angaben der Wiener Waris-Dirie-Stiftung mehr als 90 Prozent der Frauen zur Gefühllosigkeit beschnitten. Infolge der Migration werden Beschneider wie Dorfälteste, Großmütter, Barbiere, Medizinmänner, Hebammen oder Geburtshelferinnen auch in Länder eingeflogen, in denen Beschneidung früher nicht üblich war. „Female Genital Mutilation“ ist weit verbreitet in muslimischen Ländern, wird aber auch Christinnen und Jüdinnen angetan. Für beschnittene Frauen ist das Risiko erhöht, zu sterben, wenn sie ein Kind gebären. So ist es auch einer Schwester Waris Diries geschehen, die andere Schwester verblutete nach ihrer Beschneidung.

Helfer und Retter. Die Leiterin des Desert Flower Center, Cornelia Strunz, Fördervereins-Chef und Klinik-Geschäftsführer Bernd Quoß sowie Chefarzt Roland Scherer vor der Austellung zum "Desert Flower Center" und zur Beschneidung von Frauen, zu sehen im Garten, links herum vorm Haupteingang des Krankenhaus Waldfriede an der Argentinischen Allee 40 in Berlin-Zehlendorf.
Helfer und Retter. Die Leiterin des Desert Flower Center, Cornelia Strunz, Fördervereins-Chef und Klinik-Geschäftsführer Bernd Quoß sowie Chefarzt Roland Scherer vor der Austellung zum "Desert Flower Center" und zur Beschneidung von Frauen, zu sehen im Garten, links herum vorm Haupteingang des Krankenhaus Waldfriede an der Argentinischen Allee 40 in Berlin-Zehlendorf.

© Marie Rövekamp

Rahmo ist hier, weil sie anlässlich des Jubiläums vom „Desert Flower Center“ anderen Frauen Mut machen möchte. Unter dem Kopftuch leuchten wieder die Augen. Beschneidung ist zwar infolge auch des Mutes von Waris Dirie in einigen Ländern offiziell verboten, praktiziert wird sie aber heimlich weiter. Das Krankenhaus Waldfriede hat Kooperationen mit Kliniken im Ausland, mit nachfolgenden Desert-Flower-Zentren. Rahmos Blick ist jetzt ganz intensiv. „Beschneidung darf nicht mehr sein. Jede Frau hat ein Recht auf Gesundheit und auf Sexualität.“

Informationen: Desert Flower Center, Tel. 81 81 08 582, E-Mail: desertflower@waldfriede.de. Spenden bitte an den Förderverein Krankenhaus Waldfriede e. V., DKB Bank, IBAN: DE24 1203 0000 1020 1450 15, BIC: BYLADEM1001 – Stichwort „Desert Flower Center“.

Die Autorin Annette Kögel ist Redakteurin in der Berlin-Redaktion des Tagesspiegels. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten.

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