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100 Tage Bundespräsident: Wulff vor seiner ersten großen Rede

Fast 100 Tage ist Christian Wulff nun im Amt. Und kaum eine Woche ist vergangen, in der nicht an ihm genörgelt wurde. Am Sonntag hält er seine erste große Rede, sie soll bewegend sein und richtungweisend. Und sie soll vor allem eines zeigen: Wer er ist, dieser Bundespräsident.

Von Antje Sirleschtov

So viel darf man schon mal vorwegnehmen: Es wird bestimmt ein großer Auftritt an diesem Wochenende. Pathetisch und voller tiefschürfender Gedanken. Zweifellos wird es um die Freiheit gehen und um Deutschland. 20 Jahre ist es her, dass Ost und West nach vierzigjähriger Trennung wiedervereinigt wurden. An einem solchen Datum sehnen sich die Deutschen nach einem großen Wort. Was läge näher als eine Rede des Präsidenten.

Allerdings, der Mann, der am Samstag im ehrwürdigen Preußischen Landtag zu Berlin ans Rednerpult treten wird, ist nicht der, der im Sommer die Wahl zum Bundespräsidenten gewonnen und danach im Bundestag einen Eid auf die Verfassung geschworen hat. Es wird nicht der Präsident aus dem Schloss Bellevue sein, sondern Joachim Gauck, der den Titel „Präsident der Herzen“ trägt.

Der andere, der richtige, der gewählte Präsident, der kommt später. Erst am Tag darauf, am 3. Oktober bei den offiziellen Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung in Bremen, wird Christian Wulff sprechen.

Es soll seine erste große Rede werden, seine Antrittsrede sozusagen im höchsten Staatsamt, nachdem er es heute vor drei Monaten angetreten hat. Wer ist dieser neue Präsident, wie denkt er, wie will er das Amt prägen? Auf all diese schwierigen Fragen soll er antworten. Anspruchsvoll soll sie sein, die Rede, zu Herzen gehend, überzeugend, wegweisend, brillant vorgetragen. Und noch viel viel mehr. Die Erwartungen sind hoch, es steht viel auf dem Spiel. Und das alles am 3. Oktober? In Bremen? Zwischen dampfenden Würstchen und Landwein? Na, wenn das mal nicht schiefgeht.

Mal wieder. Wie so oft. Eigentlich von Anfang an, immer. Noch keine 100 Tage ist Christian Wulff Bundespräsident. Und doch ist kaum eine Woche vergangen, in der nicht an ihm genörgelt und gekrittelt wird, er sich falsches Amtsverständnis, Tapsigkeit und noch so einige andere Fehler vorwerfen lassen musste. Und als ob das noch nicht genug wäre, schweigt dieser Präsident auch noch beharrlich zu der in der Bevölkerung hitzig geführten Integrationsdebatte. Obwohl es hierbei doch um eine der entscheidenden Fragen der Nation geht und gerade er es war, der dieses Thema zu seinem Markenzeichen erhoben hatte. Fehlstart, ganz eindeutig, urteilen die, die von Anfang an Zweifel an der Berufung des niedersächsischen CDU-Ministerpräsidenten Wulff hatten. Und die anderen? Die holen tief Luft: Nun …, man weiß nicht so genau, wer dieser Präsident eigentlich ist. Ein unabhängiger Geist, der seine eigene Agenda finden und verfolgen wird, den die Kritik nicht anficht? Oder der freundliche Landesvater aus Hannover, dem das Schloss Bellevue am Ende doch ein wenig zu groß ist?

Es ist Anfang September und Christian Wulff steht vor der schwarz-rot-goldenen Fahne mitten im Festsaal des Schlosses im thüringischen Gotha. Knarrendes Parkett, schwere Samtvorhänge, goldener Lüster. Wulffs Frau Bettina war eigentlich fest eingeplant für diesen Termin. Doch der zweijährige Linus Florian wurde krank, mütterliche Betreuung zwingend erforderlich. Die Familie segelt gerade im Alltag zwischen Berlin, Hannover, Kind und Amt, einen harten Kurs.

Vater Wulff, jetzt ist er oberster Staatsmann. Als solcher verbringt er einen ganzen Tag mit nach Deutschland entsandten Botschaftern in Thüringen. „Seine Exzellenz, der Botschafter von …“, ruft eine sonore Stimme in den Spiegelsaal hinein und von draußen kommt eilig ein Dicklicher im dunklen Anzug herein. Wulff macht, kaum dass er den Ankömmling erblickt, einen Schritt nach vorn, hebt die Hand zum Gruß, lächelt und nickt mit dem Kopf. Einmal, zweimal: 113-mal wird er diese protokollarische Pflichtübung absolvieren. Schritt vor, Schritt zurück, Hand heben, lächeln. Und nicht vergessen: Jedesmal muss er wieder am richtigen Ort neben der Fahne zu stehen kommen. Fast eine ganze Stunde geht das so. „Sehr charmant“, sagt später eine Dame mit Pelzkragen, die irgendwo aus dem Norden Europas kommt. Womit das zunächst erst einmal geklärt wäre: Protokoll kann er, vorzeigbar draußen in der Welt ist dieser Präsident allemal.

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Im Inneren sieht die Sache weniger eindeutig aus. Wulff war noch nicht mal im Amt, als er das erste Mal verlor. Natürlich konnte er nichts für das Durcheinander, das in der schwarz-gelben Regierung entstanden war, nachdem Angela Merkel Anfang Juni urplötzlich Horst Köhler abhanden kam – zu allem selbstgemachten Ungemach, das sie ohnehin schon hatte. Mehrere Tage hektische Kandidatensuche im Kanzleramt, große und verdienstvolle Namen – Norbert Lammert, Wolfgang Schäuble, Ursula von der Leyen – wurden gehandelt. Und heraus kam: Christian Wulff, 51 Jahre, CDU-Regent in Hannover, Schwiegermuttertyp, solide, aber wenig charismatisch. Nicht erste, wahrscheinlich zweite Wahl.

„Verheerendes Schauspiel“, ätzte sofort die SPD und warf Merkel vor, sie habe das höchste Staatsamt aus Machtkalkül beschädigt. „Verpasste Chance“, titelten die Zeitungen, „Papa statt Pathos“. Wulff geriet zum kleinsten gemeinsamen Nenner von Schwarz-Gelb. Und als er am Wahltag, dem 30. Juni, schließlich zu allem Ärger auch noch Objekt eines Scherbengerichts der Regierenden über ihre eigene Regierung wurde, schien endgültig besiegelt: Hier wird kein Überparteilicher Staatsoberhaupt. Hier bekommt das ramponierte Image einer ungeliebten Regierung aus Union und FDP ein Gesicht. Und das klebt an ihm wie ein Kaugummi. Man schabt und schabt an jedem Bordstein. Und doch wird man es nicht richtig los.

Schwarz-gelber Lobbyismus? Natürlich! Wulffs machen Ferien in einem Haus, das dem niedersächsischen Unternehmer Carsten Maschmeyer gehört. Das hinterlässt einen schalen Eindruck. Peinliches Anbiedern? Auch das. Linus braucht einen Kita-Platz in Berlin, Wulff erzählt einem Journalisten, er habe sich auf eine Warteliste setzen lassen. Der Präsident will keine Sonderbehandlung. Er meint das ernst. Draußen angekommen ist das Gegenteil: Ein Staatsoberhaupt sucht mit gespielter Volkstümelei die Nähe zu den Bürgern. Negative Schlagzeilen den ganzen Sommer lang. Es fehle „an Respekt“ dem Amt gegenüber, hat Horst Köhler Politikern und Medien zum Abschied vorgeworfen. Wie viel da wirklich dran ist, merkt man jetzt. Mit jedem Versuch der Herren im Schloss Bellevue, die traditionelle überparteiliche Rolle zu verlassen und sich – mal mehr, mal weniger offen – ins politisch Alltägliche einzumischen, haben sie das Amt des Präsidenten der Antastbarkeit preisgegeben. Präsi-Bashing mittlerweile als Volkssport: Wulff ist der erste im Amt, bei dem es kaum noch Hemmschwellen gibt.

Und was tut er selbst, um seinem Amt gebührenden Glanz und Respekt zu verleihen? Wulff lernt gerade erst, dass Hannover nicht Berlin ist und es einen gewaltigen Unterschied macht, ob ein Minister- oder ein Bundespräsident in ein Mikrofon spricht. Hart war sie, die erste Lektion. Denn am Ende – siehe Kaugummi – blieb ein ungeschickter Präsident übrig. Einer, der den Mund nicht halten konnte, der handelnde Partei wurde, wo Zurückhaltung geboten gewesen wäre.

Die Rede ist von der Affäre um den Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin. Obwohl zu diesem Zeitpunkt klar war, dass nur er am Ende darüber befinden kann, ob Sarrazin wegen der provokanten Thesen in seinem Integrationsbuch aus dem Bundesbankvorstand entlassen wird, mischt sich Wulff am 1. September ein – zu einem Zeitpunkt, da die Bundesbank Sarrazins Entlassung noch nicht beschlossen und bei ihm beantragt hatte. „Ich glaube“, sagt Wulff einem Reporter, „dass jetzt der Vorstand der Deutschen Bundesbank schon einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet.“ Peng, das war’s: Wulff, titeln die Zeitungen am Tag darauf, fordert die (unabhängige) Bundesbank zum Rausschmiss des ungeliebten Buchautors auf, „Er ist Partei“.

Wulff hätte in diesem Moment schweigen müssen, auch wenn er eigentlich nichts anderes im Sinn hatte, als die Bundesbankvorstände zu mahnen, eine intelligentere Lösung für das Sarrazin-Problem zu finden, als die, ihn zu entlassen und das rechtliche Problem danach dem Bundespräsidenten einfach vor die Tür zu kippen. War es Wichtigtuerei, weil auch er sich in der Sarrazin-Affäre im Fernsehen wiederfinden wollte? Wulff schwieg nicht, wo sein Amt diplomatisches Schweigen geboten hätte. Hat er die Wucht eines präsidialen Satzes unterschätzt? Als das Amt in den Tagen darauf zwischen Bank und Sarrazin still vermittelte, da nahm ihm die Diplomatie niemand mehr ab.

Hat Wulff daraus Lehren gezogen? Man weiß das noch nicht so genau. Er selbst spielt die Sache runter. Medienhype, unwichtiges Geschwätz politischer Gegner. Und doch nimmt er es mit, weiß nicht recht, wie er damit umgehen soll. In Weimar ein paar Tage später, Wulff nutzte seinen Antrittsbesuch in Thüringen zu einem ausgiebigen Bad in der Menge. Da hält er plötzlich auf dem Marktplatz an und fragt einen jungen Mann mit Nasenpiercing, was er denn von seinem Bundespräsidenten erwarte. Worauf der mit einem verdutzten „besser machen“ antwortet. Besser machen? Gut gesagt. „Die Frage ist: Was?“ Wulff bleibt dem Mann an diesem Tag eine Antwort schuldig. Nur Dieter Hallervorden fällt ihm ein. Der, sagt Wulff, habe auf eine ähnliche Frage mal geantwortet: „Besser machen ist schwierig, weshalb ich lieber runtermache.“ Ratlos nach 100 Tagen, be- und getroffen, der Brückenbauer, als der er angetreten ist. Ein Präsident, der Bürger und Politiker versöhnen, um Verständnis werben und Nähe schaffen will. Anders als sein Vorgänger, der das eine Ufer wählte, um dort den Chor der Kritiker gegen die Politiker auf der anderen Seite anzuführen.

Horst Köhler übrigens hatte für seine erste große Rede einst das Haus der Deutschen Wirtschaft in Berlin gewählt. Christian Wulff wird nach Bremen reisen. Am Tag der Deutschen, mit der Politik, zu Würstchen und Wein. Vielleicht geht’s ja doch nicht daneben.

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