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Das Gesundbrunnen Center an der Brunnenstraße in Berlin Wedding.

© Doris Spiekermann-Klaas

Gesundbrunnen-Center und Schönhauser Allee Arcaden: Nah genug entfernt

Am Gesundbrunnen und an der Schönhauser Allee stehen zwei Einkaufscenter gleichen Musters in unmittelbarer Nachbarschaft. Unterschiedlicher könnten sie aber kaum sein. In den uniformen Glitzerwelten offenbart sich, wie verschieden West und Ost bis heute sind. Ein Grenzgang.

Auf. Zu. Auf. Zu. Nie kommen sie zur Ruhe, die sechs gläsernen Schwingtüren, werden gestoßen, von immer neuen Fäusten in Handschuhen, Ellbogen unter dicken Winterjacken. Er saugt einen regelrecht hinein, ins Helle, Warme, Gute, dieser reißende Strom der Menschen. Wer stehen bleibt, wird umspült und bald gestreift, sie rempeln, die Massen, sie trippeln und fluchen, ey, Meister, geh mal weiter. Okay. Schon okay.

Nur ein hastiger Blick noch hinauf zum gigantischen Spiegelkabinett mit seinen knallroten Buchstaben. Gesundbrunnen-Center.

Nicht zum Advents-Shopping sind wir gekommen. Statt Geschenken wollen wir Klarheit erwerben. Den Vergleich anstellen, zwischen diesem Großkaufhaus der Weddinger und dem so nahen Nachbarn, den Schönhauser Allee Arcaden, nur anderthalb Kilometer ostwärts, eine einzige S-Bahn-Station, keine zwei Minuten Fahrzeit.

Jeweils 100 Geschäfte auf drei Geschossen, rund 25 000 Quadratmeter hier wie da, eröffnet binnen anderthalb Jahren in den ausklingenden Neunzigern, im Herbst 1997 das Center an der auch heute noch lauten, grauen Badstraße, im Frühjahr 1999 dann die Arcaden zwischen den damals schon immer bunter werdenden Altbauten der Schönhauser Allee, im hastig aufblühenden Biotop Prenzlauer Berg. Zwei Nachbarn, zwei Welten.

Nachbarn, die sich anfangs noch vor Gericht bekämpften, weil sie sich zu nahe schienen, zu gleich. Und heute? Haben sie sich arrangiert? Was ist aus ihnen geworden, in 15 Jahren Koexistenz? Warum sind sie sich so nah und doch in aller Gleichförmigkeit so unähnlich? Also, wie sieht’s aus?

Das Gesundbrunnen-Center auf den ersten Blick gleich imposanter

Das Gesundbrunnen-Center auf den ersten Blick gleich imposanter, weil freistehend. Das ganz große Ding. Le Klotz. Mit einem gelandeten Ufo haben sie den Bau schon verglichen und mit einem Flughafenterminal, dabei ist das hier schlicht und einfach ein Schiff. Genauer: ein Kreuzfahrtschiff, denn so haben sie sich das ja einst ausgedacht, die Architekten der Betreiberfirma ECE – alles originalgetreu mit Kommandoturm, Masten, umlaufender Reling und kugelrunden Bullaugen die Parkhausauffahrt entlang. Ein Sternedampfer für den Wedding. Als hätten sie die Queen Mary in die Panke gequetscht.

Drinnen gleich als erstes, wie in fast jedem Center, Essensgeruch. Dampfende Laugen beim Bäcker Ditsch, Brezel, Schlemmerzunge, Schinken-Käse-Stange. Wir aber müssen weiter, Nase zuhalten, eintauchen, ab in den glitzernden Hauptgang, mittig die Bänke der Ruhenden, Plätscherbrunnen, Gummibäume, Oasen des Dauerlärms, Stimmen, Musik, Kassenpiepen aus den Ladenzeilen, beidseitig, Schaufenster an Schaufenster.

Claire’s, der Ohrenpiercing-Spezialist. Schuhe Leiser. Thalia. Nanu-Nana, unvermeidliches Nippesparadies. Der Weltbild-Shop mit seinem bunt lackierten Bestseller-Regal. Sorgsame, planvolle Mischung. Zielgruppen-Rodeo, rechts herum: Schuhhof, Lego, Jumex Damenschuhe, Vodafone, C&A, dm drogerie markt, GameStop.

Alte Damen ziehen karierte Wägelchen hinter sich her – mit dem Kartoffelporsche zu „real,-“, dem Megastore am Ende des Ganges. Leuchtschrift gewordener Preisköder. Kaufhaus im Kaufhaus, nichts, was es hier nicht gibt, von Fahrradschlauch bis Salatgurke.

Wieder raus, zwischen die Leute, von denen viele ohne Hast auf und ab schlendern. Viel los für einen Wochentag, morgens um elf. Blick in die Gesichter, ein paar gerötet, ein paar aschfahl. Tattoos. Kinderwagen. Buggys. Kids von 0 bis 19.

Im Untergeschoss haben die „Gold Buyers“ ihren Behelfstresen aufgebaut. Das Angebot: „Wir kaufen Ihren alten, defekten oder unerwünschten Schmuck - sogar Goldzähne.“ Selbst die längst Klischee gewordene Armut der Weddinger Klientel steht also zum Verkauf. Die Rolltreppe wieder hoch, diesmal scharf links, in die drehende Seitentür, Achtung, Füße, sonst bleibt das Ding stehen, aber schon zu spät, bange, stickige Sekunden, Gerempel, Gemurre, dann endlich die eiskalte, wunderbare Dezemberluft.

Einmal Kurzstrecke zur Schönhauser Allee. Auf dem Programm steht nun der Kontrast.

Als hätte jemand in die gleiche Kuchenform einen irgendwie anderen Teig gekippt.

Schönhauser Allee Arcaden. Für 250 Millionen Mark erbaut, 30 000 Menschen kamen allein am Eröffnungstag, eine Attraktion weit über den Kiez hinaus, trug der Neubau doch erstmals einen Hauch von Innenstadt in den noch halbgrauen, halb abgekoppelten Nordosten, erst ein Jahr darauf wurde die U2 bis zum S-Bahnhof Pankow verlängert, noch einmal zwei Jahre später der S-Bahn-Ring geschlossen.

Heute ist in den Arcaden selbst der Schauspieler Tom Schilling Stammgast, wie er dem Tagesspiegel mal erzählte. Hier, im Fitness-Studio im 1. OG, mit Blick auf die Trasse der U2 und den U-Bahnhof Schönhauser Allee, hat er für seine Rolle als Weltkriegssoldat in „Unsere Mütter, unsere Väter“ Gewichte gestemmt.

Unten vor der Tür kämpft heute Amnesty für eine bessere Welt. Studenten mit Beitrittszetteln flitzen herum, halt!, stopp!, du da, ja du, dauert nur eine Minute!, ja, sorry, die haben wir grad nicht. Augen zu und durch. Hinter der Heißluftschwelle ist hier, in den Arcaden, erst mal alles einen Tick opulenter. Riecht anders. Vielleicht der Käseladen mit erlesenen Sorten, den es drüben, im Westen, erst gar nicht gab. Ebenso wenig "Oil & Vinegar", wo Dressingzutaten im Ambiente toskanischer Villen und Zypressenhaine lagern.

Natürlich aber gibt es auch sehr viel vom Gleichen: Apollo Optik. Blume 2000. Tchibo. Rossmann. McPaper. New Yorker. Thalia, Weltbild, Nanu Nana, ja, grüßt euch, hallo! 27 von je 100 Geschäften, so lässt sich leicht durch Vergleich der Shoplisten herausfinden, sind hier wie da identisch. Im Obergeschoss weitere alte Bekannte: Der Billigfrisör. Das unvermeidliche Nagelstudio! Eben, in Wedding, noch unter „LA Nails“ geführt, heißt hier, an der East Coast, „New York Nails“. Gleiches Design, die gleichen emsigen asiatischen Angestellten. Wir grüßen Sie!

Nicht nur wegen all dieser Spiegelungen überfordert er einen irgendwie, dieser harte Schnitt, von Center zu Center. Als hätte jemand in die gleiche Kuchenform einen irgendwie anderen Teig gekippt. Aber welche Zutaten sind anders?

Mal kurz hinsetzen, zur Ruhe kommen. Am besten an dem Ort, der in keiner Shoppingmall fehlen darf: dem Eiscafé, in wohltemperierter Umgebung ganzjährig geöffnet. „Fantasia del Gelato“, ein Traum in Grün-Weiß-Rot.

Hier merkt man am ehesten, warum die Arcaden – ebenso übrigens wie das Gesundbrunnen-Center – das Handelsverbandssiegel „Ausgezeichnet generationenfreundlich“ tragen. Zu sehen sind: graue Haare. Weiße Haare. Schlohweiße Haare. Rosa Blusen, Ringelpullover. Blumenmuster. Das hier: official Klatschbasis of the Superomis.

Menschen unter 65 nur an zwei Tischen. Am einen zwei Außendienstler mit Notebooks und geöffneten Excel-Tabellen, gegelte Kurzhaarschnitte, Ohrringe, Hemd in der Jeans. Business Talk: Marge. Big Player. Russland. Europaweit. Häufigster Satz: „Das ist Fakt.“ Nicken über Laptopflimmern. Und drüben, mit dem Rücken zur Eistheke, lagern zwei Frauen Ende 40, Solariumsbräune, knallenge Tops, liegen halb in den Sitzbänken, schauen hervor aus rotem Kunstlederpolster.

Ein Blick hinter die Kulissen der Großstadt

Etwas später als verabredet tritt Albrecht Göschel an den Tisch. Der emeritierte Soziologe, Forschungsschwerpunkt Urbanistik und städtischer Kulturwandel, soll sie für uns erläutern, „diese Dinger“, wie er sie gleich ganz unwissenschaftlich nennt. Denn seine Welt, das sind sie nicht, sagt er, nicht nur weil er sich, daher die Verspätung, ständig in ihnen verläuft.

In freundlichem Norddeutsch erzählt Göschel, wie sich die Center entwickelt haben, aus den ersten Pariser Passagen des frühen 19. Jahrhunderts, über die Kaufhäuser des frühen und die Fußgängerzonen des späteren 20. bis heute. „Eine inszenierte Welt!“, sagt er, sich aufrichtend. Dann, ruhiger: „Aber Städte sind immer inszeniert, Glitzerkisten. Das hat was von Märchenwelt.“ Was die Leute an den Centern schätzten? Nun, das gleiche wie im Urlaub: „Den All-Inclusive-Gedanken.“ Und, so fährt er fort, „eine Atmosphäre von Üppigkeit und Reichhaltigkeit. Für eine kleinbürgerliche Klientel, die untere Mittelschicht, die Sie hier rings herum sitzen sehen.“

Gut, okay, das ist jetzt so neu alles nicht. Wir müssen tiefer, zum Kern des Themas. Zum Vergleich. Göschel sagt, der Bürger nehme die Großstadt auch 120 Jahre nach ihrer Entstehung noch als Bedrohung wahr. Da böten die Center einen Schutzraum, scheinbar öffentlich, aber eigentlich total kontrolliert, Kamera-überwacht, patrouilliert, irritationsfrei, dafür sorgt schon die Hausordnung. Betteln und Hausieren verboten.

„Es sind unsichtbare Grenzen“, sagt Göschel, „die hier massiv gezogen werden. Es werden Menschen ausgeschlossen, und genau deswegen wird der Bereich von anderen Menschen aufgesucht. An solchen Orten wird deutlich, dass wir eine extrem voneinander abgeschottete Gesellschaft sind.“ Ein Blick den Gang hinunter. Zwei Sicherheitsleute schlendern an den Schaufenstern vorbei. Mit ihren blauen Hemden, den schwarzen Bundfaltenhosen und ihren Schirmkappen sehen sie aus wie New Yorker Cops aus alten Kojak-Folgen. Göschel sagt: „Hier haben sie die absolute Sicherheit. Vielleicht gehen Sie um die Ecke und haben einen Slum. Wedding ist nicht weit, und das ist tendenziell ein Slum. Die, die hier sitzen, wissen irgendwann nicht mehr, dass es die andere Welt gibt. Und umgekehrt.“

Göschel schweigt, nippt an seinem Kräutertee, man hört eine Weile nur das Stimmengewirr der Rentner, das leise Gedudel der Fahrstuhlmusik. Göschels Thesen klingen nach, der Professor zieht sich aber bereits den Mantel an. Noch ein letzter Satz: „Lesen Sie Engels! Die Berichte aus Manchester. Da ist das alles schon beschrieben.“

Wer wo einkauft und warum

Engels also. Der schreibt, 1845, über Manchester: „Die Stadt selbst ist eigentümlich gebaut, so dass man jahrelang in ihr wohnen und täglich hinein- und herausgehen kann, ohne je in ein Arbeiterviertel oder nur mit Arbeitern in Berührung zu kommen – solange man nämlich eben nur seinen Geschäften nach- oder spazieren geht.“ Entlang der Ausfallstraßen, die Geschäfte, denen man nachgeht, dahinter verborgen: die Armenviertel.

Funktionieren sie also heute noch genauso, diese Kulissen der Großstadt? Leben wir Berliner eigentlich in vielen verschiedenen Städten, verschiedenen Welten? Sind wir am Ende ghettoisiert wie die Metropolen der USA, wo die Grenze zwischen Schwarz und Weiß, zwischen armen Latinos und reichen Angelsachsen manchmal nur aus einem Straßenzug besteht oder einer Brandwand?

Wo verläuft hier die Linie? Das müssen wir herausfinden. Wir müssen wissen, wer wo einkauft und warum. Eine Frage, die am ehesten die beantworten können, die darüber Buch führen. Die Betreiber der beiden Center.

Beide Unternehmen, ECE für das Gesundbrunnen-Center und mfi für die Schönhauser Arcaden, sind größer organisiert, sie haben Malls in ganz Deutschland, daher gibt es auch eine landesweite Hierarchie. Über den einzelnen Center-Managern sind Bereichsleiter angeordnet. Harald Boll ist bei ECE für den Nordosten zuständig, also: Rostock bis Dessau. Wir sind zurück am Gesundbrunnen, Obergeschoss, „Kaffee Latte Art“, Boll wartet schon. Ein akkurater Herr von 47 Jahren mit schütterem grauen Haar. Seine Sätze klingen oft wie direkt aus einer Pressemitteilung.

Boll sagt: „Was wir wollen: ein helles, sicheres, sauberes, gepflegtes Center mit Personal, das aufmerksam ist und für die Besucher da ist.“ Er zeigt auf einen Mitarbeiter einen Stock tiefer, kein Security-Mann, sondern ein Haustechniker mit flammendrotem Poloshirt. Wenn der Kunde Personal sehe, habe er automatisch ein gutes Gefühl. „Wir haben auch eine regelmäßige polizeiliche Präsenz hier im Center, was zu einer sichereren Atmosphäre geführt hat.“ Die wilden Anfangsjahre, als Jugendgangs im Center herumlungerten, seien auch hier, in Gesundbrunnen, vorbei.

Die eigenen Kunden, das Publikum beschreibt er so: „Eher jung, mit einem überproportionalen Anteil Familien. Wir haben alle aus dem Bezirk hier, also ein unglaublich durchmischtes Publikum. Ich sage immer, es ist eine Art melting pot.“ Und wie er sie einführt, diese uralte Metapher vom Schmelztiegel der Kulturen, seit über 100 Jahren bemüht, aber immer schon mehr Idealbild als Realität, nicht nur in den USA, wo sie herkommt, da fällt sie einem endlich ein, die fehlende Zutat. Was man hier in Wedding ständig sieht, fast nie aber drüben, an der Schönhauser, ist so offensichtlich, dass man es glatt übersehen kann. Die Kopftücher.

Wo ist das Klientel angenehmer?

Was natürlich nur das am besten sichtbare Merkmal einer der Kundengruppen ist, der muslimischen Migranten und ihrer Kinder und Kindeskinder, die es eben in wahrnehmbarer Zahl doch nur auf der einen Seite gibt.

1,5 Kilometer weiter östlich, ein karges Büro. „Viele Leute“, sagt Andreas Keil, „gucken, wo sie sich wohlfühlen. Wo findet man seinesgleichen? Und das ist durchaus eine angenehme Klientel, die wir hier haben.“ Keil ist Bolls Pendant bei mfi, dem Arcaden-Betreiber. Keil, der sich auch nach Jahren in Berlin das Saarländisch nicht ganz abgewöhnt hat, sitzt im Büro des Center-Managements, backstage, an einem tristen Innenhof.

Keil findet seine Klientel zum einen deshalb angenehm, weil sie sehr viel Geld da lässt, 100 Millionen Euro pro Jahr, wie der Regionalleiter freimütig sagt, während sich Boll zu dem Thema lieber ausschweigt. Eine Klientel ist das, die sich hier, in Prenzlauer Berg bekanntermaßen zuletzt ziemlich radikal verändert hat. Nicht zum Schlechten, aus Verkäufersicht: „Wir haben ein paar Kindergeschäfte reingeholt, im Modebereich ein bisschen aufgerüstet, ein paar mehr Marken reingeholt.“ Im UG, wo früher der Werkzeugladen war, zog der Bio-Supermarkt ein. Mittlerweile hat er sogar Premium-Lage erhalten, an der Rotunde im ersten Stock, direkt an den Rolltreppen. „Das Center ist wie ein Knochen strukturiert“, sagt Keil. „Und an den Enden sitzt der Speck.“

Und was ist nun mit der Konkurrenz? Mit dem Gesundbrunnen-Center? „Ein gesunder Wettbewerb. Es wird sich nicht bekriegt oder so.“ Klar, am Anfang hätten sie schon geguckt, „von den Büros nebenan können sie das Center sogar sehen“. Aber heute? „Sehen wir das überhaupt nicht als Gefahr“, sagt Keil, einmal im Quartal treffe er sich sogar mit Harald Boll, „mit dem Kollegen“, so nennt er ihn. Dann würden sie über alles mögliche sprechen, „Ladenbaukonzepte, Frequenzentwicklungen, Öffnungszeiten.“

Wie? Die Konkurrenz arbeitet zusammen? Keil nickt und lächelt. Auch Harald Boll ist auffallend entspannt beim Thema Schönhauser Allee Arcaden. Dabei wollte ECE doch damals, im Frühjahr 1999, einigen seiner großen Ketten sogar gerichtlich untersagen, sich direkt um die Ecke in der anderen Mall niederzulassen. Man berief sich auf eine Vertragsklausel, in der ein Bannkreis von drei Kilometern festgeschrieben war. Und heute? „Inzwischen“, sagt Boll, „sind wir der Überzeugung, dass diese beiden Center sehr gut nebeneinander bestehen können. Weil sie ihr eigenes Einzugsgebiet haben. Wir sehen schon, dass die Schönhauser Allee eine gewisse natürliche Grenze darstellt.“ „Moment“, sagt Andreas Keil, auf der anderen Seite, „wir haben da auch eine Karte.“

Die Erklärung: Eine blaue Linie.

Und dann, nach kurzem Kramen im Leitz-Ordner, liegt sie plötzlich auf dem Tisch: die Erklärung. Eine blaue Linie.

Sie schlängelt sich über den Stadtplan. Die Linie definiert die Herkunft der Kundschaft, die innerhalb von 30 Minuten Fahrzeit lebt, alles statistisch erhoben. Die blaue Linie umrandet ein Gebiet, das sich von den Arcaden etwas nach Süden, Richtung Mitte ausdehnt, vor allem aber weit nach Norden und Nordosten auslappt. Westlich aber führt sie ganz knapp vorbei, vielleicht zehn Gehminuten, sie zeichnet exakt die Bezirksgrenze zwischen Mitte und Pankow nach. Die ehemalige Sektorengrenze. Bis 1990: die Staatsgrenze der DDR.

„Ja, so ist das“, sagt Andreas Keil. Er habe mal an einem Seminar teilgenommen, sagt er, da ging es um die Auswertung einer Kundenbefragung, die Frage lautete: Warum gehen Sie in bestimmte Center und in andere nicht? „Und da war durchaus ausschlaggebend, dass sie sich dort nicht wohlfühlen, weil sie sagen, da sind mir zu viele...“, kurze Pause, „zu viele andere Kunden. Da passe ich nicht hin.“

Andere Kunden! Keine weiteren Fragen. Es ist jetzt an der Zeit, durch die Drehtür zu gehen, und, die beiden Center im Rücken, nochmal zu überlegen, was das alles bedeuten kann. Warum sich einige Teile dieser Stadt doch offenbar immer noch so fremd sind, nicht die Häuser, sondern die, die darin wohnen, die Shops sind ja meist die gleichen, aber nicht die, die darin einkaufen.

Sie hatten es nicht von Anfang an begriffen, die Firmen, wie sollten sie auch, dass ihre Standardklauseln hier nicht greifen würden. Drei Kilometer Einzugsgebiet und dann beginnt das nächste, das mag in anderen Städten der Maßstab sein, bloß eben nicht hier, wo der Mauerstreifen längst zugewuchert ist, aber die Realitäten der beiden Berlins noch immer bestimmt werden von dem, was mal war. Bei denen zumal, die der Soziologe Kleinbürger nennt und die – ähnlich strukturiert und sich doch fremd – in den Centern Schutz suchen. Vor dem Fremden. Den Anderen. Dem Leben, das dort beginnt, wo man sich nicht vor ihm versteckt. Lesen Sie Engels! Da steht alles schon drin.

Ganz am Ende führt Keil noch einmal aufs Dach der Arcaden, er will uns von hier das Gesundbrunnen-Center zeigen. Blick nach Westen, am grauen Horizont entlang. Da hinten ragen die Flutlichtmasten des Jahnstadions aus der Stadt, daneben, ein Stückchen weiter weg, der alte Flakturm im Humboldthain. Bloß das Gesundbrunnen-Center ist beim besten Willen nicht zu erkennen.

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