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Prenzlauer Berg: Schwabenhass im Szenekiez

Zugereiste aus dem Ländle gelten als Mietpreistreiber und Speerspitze der Gentrifizierung. Sie werden veralbert und angepöbelt, zuweilen schlägt ihnen sogar Hass entgegen. Ein Schwabe schlägt jetzt zurück, mit Pinsel und Farbe. Doch woher kommt dieser Hass? Und wo führt er hin?

Die Wörter Hass und Hase trennt nur ein einziger Buchstabe. Aber der genügt, um aus einer Beleidigung einen Witz zu machen. „Da muss man ein wenig ausholen, um das zu erklären“, sagt Chris, hockt sich auf der Straße hin und macht seinen Rucksack auf. Der 28-Jährige wuchtet einen Eimer weiße Farbe in den Sack. Trainierte Muskeln spannen sich unter dem T-Shirt. Dann wirft er eine Kapuzenjacke über, steigt aufs Fahrrad und beginnt im Fahren zu erzählen.

Ein paar Wochen zuvor. Berlin, Mauerpark, ein Sonntagnachmittag im April. Chris war mit Freunden verabredet. Sie wollten sich die Karaoke-Show im Amphitheater ansehen, wo sich jedes Wochenende mehr oder weniger begabte Sänger vor großem Publikum zum Affen machen und den Lärm des benachbarten Flohmarkts mit Interpretationen von „Beat it“ oder „99 Luftballons“ übertönen. Wie sonst auch erklommen sie die Stufen, suchten sich in dem Gewühl einen Platz auf den Rängen und blickten in die Tiefe – da brüllte es ihnen in gut ein Meter hohen Lettern entgegen: „TOTALER SCHWABEN HASS“ stand auf dem Rund der Amphitheaterbühne.

In Chris, der an der Hochschule für Technik und Wirtschaft studiert, regte sich Zorn. Als Schwabe in Berlin hat er mehr als einmal erlebt, dass ihm mancher nach dem Kickern in der Kneipe nicht mehr die Hand schütteln wollte, weil er alles kann außer Hochdeutsch und seine Landsleute seit geraumer Zeit als Sündenbock für steigende Mieten und zunehmende Spießigkeit herhalten müssen. Jetzt reicht es, fand Chris. Hass? Weswegen? Wem hat er etwas getan? Er trinkt keine Latte macchiato, er arbeitet in keiner Werbeagentur, er lebt nicht in einem Loft am Kollwitzplatz, in dem vorher vier alteingesessene Rentner und fünf Arbeiterfamilien Platz hatten.

Am nächsten Tag kaufte er zwei Tuben weiße Farbe und einen Anstreicherpinsel, dann zog er los. Mitten in der Nacht. Mit ein paar Strichen wurde aus „TOTALER SCHWABEN HASS“ ein „TOTALER SCHWABEN HASE“. Da noch Farbe übrig war, pinselte er noch einen Hasenkopf in die Mitte der Bühne. „Der Widerstand braucht ja ein Symbol“, erzählt Chris, während er in die Pedale tritt. Außerdem passe das mit dem Hasen ganz gut, weil sein eigener Nachname so ähnlich klingt wie der von Playboy-Gründer Hugh Hefner. Genaueres will er nicht in der Zeitung stehen haben.

Es dauerte allerdings nicht lange, bis der Gegenschlag folgte. Kaum eine Woche später hatte sich der „HASE“ wieder in „HASS“ verwandelt, die Verantwortlichen hatten sogar unterschrieben: Quer über dem weißen Bunny prangte die Abkürzung „TSH“.

Doch Chris gibt nicht auf. Inzwischen ist Sommer. Er steigt vom Rad. Wieder steht er im Mauerpark. Wieder ist es halb zwei am Morgen. Die Luft ist feucht, die Nacht stockfinster. Das rote S, das über seinem weißen E prangt, kann man trotzdem deutlich erkennen. Den Rest der Parole haben die ständigen Wolkenbrüche der vergangenen Tage fast abgewaschen. Chris geht über die Steine zu seinem Hasen, der auch schon ziemlich blass ist. Das rote TSH aber leuchtet immer noch jedem entgegen, der von oben auf die Bühne schaut.

„Mich ärgert das echt“, sagt Chris. Er fühlt sich von den Parolen beleidigt. Persönlich. Deswegen der Guerilla-Einsatz. Dann stemmt er den Farbeimer auf, den er am Nachmittag im Baumarkt besorgt hat, und legt los. Er malt schnell. Zieht die Umrisse des Hasenkopfes nach. Als ein quietschendes Fahrrad vorbeirollt, hält er kurz inne. Zwanzig Minuten später leuchtet der Hasenkopf weiß und unheimlich in der Nacht. Der Hass ist getilgt. Wieder einmal. „Ist doch schön“, sagt Chris, als er nach getaner Arbeit von den Stufen auf seine Arbeit hinunterblickt. „Mal gucken, wie lange es diesmal hält.“ Wenn er Glück hat, länger als die Farbe, die an seinen Fingern trocknet. Dass er den Kampf schon gewonnen hat, glaubt er keine Minute lang.

Der Schwaben-Hass geht bis zum Mordaufruf.
Wann das Feindbild entstand, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Man spürt den Groll, der in Chris sitzt, wenn er erzählt, was er in Berlin erlebt hat, seit er vor drei Jahren aus einem Dorf bei Stuttgart (2500 Einwohner und berühmt für sein Mineralwasser) nach Prenzlauer Berg (mehr als 140 000 Einwohner und berühmt als Schlachtfeld der Gentrifizierung) übersiedelte. „Als ich hergezogen bin, wusste ich nicht, dass die Schwaben hier so ein negatives Image haben“, sagt er. Allerdings habe ihm die Stadt das ziemlich schnell klargemacht.

Am ersten Tag in der Uni habe der Erste ihn gleich dumm angemacht: Was er hier denn wolle. 2008 war das. Das Jahr, in dem am Kollwitzplatz Poster hingen mit der Aufschrift „Schwaben in Prenzlauer Berg: Spießig, überwachungswütig, keinen Sinn für Berliner Kultur – Was wollt ihr eigentlich hier?". Das Jahr, in dem eine Umfrage des Stadtmagazins „Zitty“ den „Porno-Hippie-Schwaben“, jene, wie es hieß, „wohlhabende Weiterentwicklung des Latte-macchiato-Trinkers, der in aller Regel in den Medien oder der Werbung arbeitet“, zur Berliner Hassfigur Nummer eins kürte. Wenn die Leute sagen, das sei doch alles nur ein Ulk oder existiere lediglich im Feuilleton, schüttelt Chris wütend den Kopf.

Während er aus dem Park zurück zu seiner WG radelt, erzählt er von den Postern, auf denen der an Nazi-Rhetorik angelehnte Slogan „Kauf nicht beim Schwaben“ stand, von seiner Uniprofessorin, die ihn mit Sprüchen wie „Aus Schwaben kommst du, aha, und das Studium zahlen die Eltern, wie?“ traktierte, von dem Hotel an der Warschauer Brücke, vor dem auf einem Schild stand, mehr als vier Schwaben auf einmal hätten hier keinen Zutritt. „Stell dir mal vor, da hätte ,Türken’ gestanden – oder ,Juden’“, sagt Chris. „Wie viele Leute hätten darüber gelacht?“ Viele Bekannte aus seiner Heimat haben Ähnliches erlebt, sagt er. In Mitte und Friedrichshain, vor allem aber in Prenzlauer Berg. Immer wieder. Wenn das lustig sein soll, dann versteht er den Witz nicht. Das Graffiti im Mauerpark habe dann das Fass zum Überlaufen gebracht. Jetzt geht er regelmäßig malen. „Irgendwas muss man ja machen, damit das mal aufhört.“ Viel Hoffnung hat er allerdings nicht.

Chris kennt Berlin nicht anders. Es gab allerdings mal Zeiten, da waren Schwaben in Berlin nur eine Minderheit von vielen. „Dass der Schwabe sich langsam zur Hassfigur entwickelte, war irgendwann Mitte der neunziger Jahre“, erinnert sich Andreas Günzler. 1978 ist er aus Stuttgart nach Berlin gezogen. Allerdings haben auch bei ihm 33 Jahre Großstadt den schwäbischen Dialekt nicht völlig abschleifen können. Jetzt sitzt der Anwalt in seiner Kanzlei in Kreuzberg und sagt: „Sicher, wir waren Exoten, aber dass wir wegen unserer Herkunft angefeindet wurden, das gab es früher nicht – nirgendwo.“ Das erste Mal davon gehört hat er, als in dem Kreativen- und Studentenviertel Prenzlauer Berg im großen Stil mit der Sanierung begonnen wurde.

Dass der Schwabenhass hier sein Zentrum hat, ist kein Wunder. Kein anderer Stadtteil wurde nach der Wende in so kurzer Zeit so umgekrempelt wie dieser. Allein zwischen 1991 und 1996 wurde knapp die Hälfte der gut 145 000 Einwohner des Bezirks ausgetauscht. So etwas verändert keinen Kiez, so etwas revolutioniert eine Nachbarschaft. Vor allem, da viele Zugezogene reicher, besser ausgebildet und jünger waren als die Alteingesessenen, denen bald die Mieten zu teuer wurden.

So ähnlich klingt das dann auch, wenn man sich in den Fußballkneipen des Kiezes umhört. Seinen Namen will keiner nennen, aber es reden doch einige. „Die kommen, ziehen neben eine Kneipe und rufen dann um zehn die Polizei, wenn mal einer ,Tor’ schreit“, sagt einer. „Die machen eine Bäckerei auf, nachdem sie vorher eine zugemacht haben, schreiben ,Schwäbische Bäckerei’ drauf und wundern sich, wenn die Leute sauer werden, weil sie ihre Ost-Schrippen nicht mehr bekommen“, sagt ein anderer. Das ist der Tonfall – auch wenn selbst hier allen klar ist, dass nicht nur Schwaben für die Veränderungen verantwortlich sind. „Schwabe“ steht stellvertretend für alle zugezogenen Hamburger und Bielefelder, ist Schlagwort der Veränderung.

Wer der Erste war, der die Schwaben zum Sündenbock ernannte, weiß keiner mehr. Aber die Parole zog schnell Kreise – durch alle Bevölkerungs- und Bildungsschichten. Der Tagesspiegel forderte vor den Silvesterfeierlichkeiten 1999 in einer Glosse eine „Sperrung der Stadt für Bauern und Schwaben“, der Komiker Fil machte sie zum Gegenstand des Spotts in seinen Sketchen für Studenten („Der Penis ist in der Vagina ein glücklicher Zwerg, so wie der Schwabe in Prenzlauer Berg“), die Antifa Wilmersdorf feierte anno 2008 eine Klopperei im Q-Dorf mit der Schlagzeile „Berlins widerlichste Schwaben-und-Touri-Disco kaputt geschlagen“. Zeitungen aus Stuttgart und München berichteten. Und irgendwann wurde nicht mehr nur eine Sperrung der Stadt gefordert. „Tötet Schwaben!“ – so stand es an Häuserwänden in Prenzlauer Berg. Jetzt hätte das jemand fast in die Tat umgesetzt. Ein Zeitungsbote zündete Kinderwagen in Hausfluren in Prenzlauer Berg an und gab nach seiner Festnahme laut Polizei zu Protokoll, er habe aus „Schwabenhass“ gehandelt.

Die Ursache ist vermutlich Neid.
Warum ausgerechnet die Schwaben Ziel sind, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Warum ausgerechnet die Schwaben? Die schiere Masse kann es nicht sein. Wie viele von ihnen in Berlin leben, ist unbekannt. Gelegentlich heißt es, die Schwaben seien die größte Minderheit in der Stadt nach den Türken, aber nicht mal das Statistische Landesamt mag das unterschreiben. Selbst eine Sprecherin der Landesvertretung von Baden-Württemberg in Berlin zuckt nur die Schultern bei der Frage: „Das geht ja schon damit los, dass nur der Zuzug aus Baden-Württemberg gemessen wird. Und dann zählt man ja nicht nur Schwaben, sondern auch Badener.“ Jedenfalls sind seit 2001 jährlich durchschnittlich 6250 Menschen aus Baden-Württemberg nach Berlin gezogen, in den letzten Jahren waren es fast 8000, aber das sind immer noch längst nicht so viele wie Menschen aus Nordrhein-Westfalen oder Brandenburg, die in fünfstelliger Zahl nach Berlin strömten.

Was allerdings auch stimmt: Die Schwaben sind im Stadtbild relativ präsent. „Die verstecken sich nicht“, heißt es in der Fußballkneipe, und auch Anwalt Günzler glaubt, dass die Schwaben im Stadtbild deutlichere Spuren hinterlassen haben als andere. „Maultaschen kannte hier in den Siebzigern niemand“, sagt er. Heute gebe es keine Straße mehr, in der man nicht Käsespätzle bekomme, und in fast jedem Bio-Laden stehe schwäbischer Schwarzriesling. Kölsch aus dem Rheinland sei in der Hauptstadt schon schwieriger aufzutreiben.

Wahrscheinlich spielt da aber auch eine Menge Neid mit rein, vermutet ein Freund, der in Charlottenburg groß geworden ist und heute in Prenzlauer Berg wohnt. „Vor der Wende war Berlin doch ein großes Dorf“, sagt er. Allein, wie sich die Leute früher angezogen hätten: Jeans und Pulli. Irgendetwas Weltstädtisches habe Berlin erst durch die Zugezogenen bekommen. Dieser ganzen Aktionismus, für den Berlin heute berühmt sei, gehe in großen Teilen von den Neuberlinern aus. Wer lautstark dagegen vorgehe, arbeite sich wahrscheinlich primär an seinem eigenen Minderwertigkeitskomplex ab. Eine Stadt verändere sich eben, sagt er. Punkt.

Wer die Stichwörter Schwaben, Stadt und Veränderung zusammenbringt, landet irgendwann fast zwangsläufig beim kürzlich verstorbenen Hartmut Häußermann. Der emeritierte Stadtsoziologe lehrte an der Humboldt-Uni, war gebürtiger Schwabe, hat aber lange Zeit seines Lebens in Berlin verbracht. Von 1964 bis 1978 und dann wieder seit 1993. Auch er hat eine Erklärung, warum ausgerechnet die Schwaben die Sündenböcke geworden sind und nicht die Hamburger. „Zum einen sind wir Schwaben relativ einfach an unserem Dialekt zu erkennen“, sagte er. Zum anderen erfülle der Schwabe auch noch ein paar andere Bedingungen. Mehr als alle anderen Bundesbürger stehe er für Effizienz, Leistung, Wohlstand, Kehrwoche. All das, was das alternative Berlin nie wollte. Deshalb habe man sich wohl auf ihn eingeschossen, als man ein Feindbild suchte, dem man die Veränderung des Kiezes anhängen konnte. Kürzlich noch stand Häußermann daneben, als sich ein Punk im Spätkauf über „die Schwabenpreise“ für Bier aufregte.

Häußermann war allerdings nicht sicher, wie viel Rückhalt die Stimmungsmacher haben. „Wir wissen ja bis heute nicht, ob das drei oder vier Leute sind, die diese Poster kleben, oder ob das eine breite Stimmung ist.“ Außerdem sei das Phänomen auf Prenzlauer Berg beschränkt. Deshalb glaubte er auch, dass sich das irgendwann totlaufe.

Chris’ Erfahrung zeigt etwas anderes. Er fürchtet, dass der Schwabenhass sich inzwischen zu einer Art von Folklore wandelt, der nicht nur von Alteingesessenen ausgeht, sondern längst von anderen Zugezogenen und sogar Touristen unreflektiert weitergetragen wird. Und dass sich die Verachtung eben nicht gegen Schwaben im Geiste richtet, sondern ohne Berücksichtigung persönlicher Biografien ganz konkret gegen gebürtige Schwaben: Am Kicker, im Park, sogar im Bett.

Chris parkt sein Fahrrad vor seiner WG und erzählt von der Holländerin, die er mit nach Hause nahm und die ihm am nächsten Morgen, als sie endlich seinen Dialekt eingeordnet hatte, anpöbelte: „Ah, du bist einer von diesen Scheiß-Schwaben, wegen denen der Knaack-Klub umziehen musste!“ Kneipenparolen zufolge sollen es Schwaben gewesen sein, die mit einer Klage wegen nächtlichen Lärms den Umzug des Klubs nötig machten, der mal an der Greifswalder Straße zu Hause war. „Hab ich jemals irgendwo die Polizei hingeschickt, wenn Krach war?“, fragt Chris. „Niemals!“ Aus ihm und der Holländerin wurde dann nichts.

Der Dienststellenleiter der Landesvertretung Baden-Württemberg, Claus-Peter Clostermeyer, dreht die Idee sogar noch eine Spur weiter: „Ich vermute, dass die Kritik an den ,Schwaben’ auch von Baden-Württembergern in Berlin selbst kommt“, sagt er. Was erst einmal paradox klingt, erklärt er so: „Viele junge Leute wollten bereits Anfang der neunziger Jahre ihr behütetes Zuhause hinter sich lassen und sind in diese offene Metropole gezogen. Jetzt kommen immer mehr ihrer Landsleute nach, und sie werden von ihrer eigenen Herkunft eingeholt.“ Wo sie früher Vorreiter waren, seien sie heute Mainstream. Das passe nicht jedem.

Chris ist egal, wer die Poster klebt, wer TSH ist. Es muss aufhören, sagt er. Ginge es um Vietnamesen, Somalier, Türken – kein Mensch würde die täglich gelebte Diffamierung dulden. Er hat auch schon mal darüber nachgedacht, aus Berlin wegzuziehen, aber das kann ja wohl keine Lösung sein, sagt er. Und er hat auch keine Lust, sich zu verstellen, wie andere, die sich nicht mehr trauen, in der Öffentlichkeit „gell“ zu sagen, aus Angst anzuecken. Er wird seinen Dialekt nicht ablegen, er wird weiter sein Stuttgart-Fußballtrikot zum Joggen tragen, und er wird weiter Hasen malen, wenn demnächst wieder Hass gepredigt wird. Farbe hat er noch genug.

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