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Begehrte Kulisse. Blauer Himmel, buntes Treiben – und im Hintergrund das Brandenburger Tor. Das sind die Fotos, die sich die Veranstalter erhoffen, wenn sie sich im Bezirksamt Mitte anmelden. Aber auch für die Demonstranten gilt der Pariser Platz als Top-Adresse. Foto: dpa

© dpa

Veranstaltungen in der Hauptstadt: Ansturm auf Berlins Mitte

Im Frühling rollt die Welle wieder an: Fußballfans, Protestler, Radler und Läufer – und alle wollen nach Mitte, am liebsten zum Brandenburger Tor. Wie Polizei und Bezirk den Ansturm regeln.

Für Joachim Haß war schon vorab zu sehen, dass dieses Wochenende ein eher gemütliches werden würde. Ein Ausnahmewochenende; Vorsaison halt. Seit 1996 leitet Haß die Versammlungsbehörde, eine kleine Abteilung im großen Polizeipräsidium. Am Samstag mussten seine sechs Mitarbeiter nur ein paar Freunde der Falun-Gong-Sekte mit 200 Mahnwächtern zugunsten nordkoreanischer Flüchtlinge vor der chinesischen Botschaft koordinieren. Vor dem Kanzleramt wiederum waren 100 Pro-Tibet-Demonstranten mit zehn Kernkraftgegnern zu arrangieren. Und die avisierten 60 Leute, die auf dem Alex für „Leben mit Visionen“ demonstrieren wollten, würden dort zwischen Touristen, Taschen- und Tagedieben kaum auffallen.

So sieht sie aus, die Ruhe vor dem Ansturm auf die Innenstadt, der mit der Tageslänge von Jahr zu Jahr zunimmt und im Juni so massiv von allen Seiten aufs Brandenburger Tor zurollt, dass das Rathaus Mitte eine Kollisionswarnung herausgab. Das Bezirksamt hat die Schar der Bewerber zu Kompromissen aufgefordert und den Senat eingeschaltet. Der Magnetismus der Mitte übersteigt allmählich die Kräfte der Verwaltung.

2011 war nach Auskunft von Haß mit 4000 Versammlungen das bisherige Rekordjahr. Die Zahl der Demos sei von jährlich rund 750 in den 1980ern auf 1250 in den Wendejahren und auf mehr als 2000 im neuen Jahrtausend gestiegen. Kriege und Wahlen bedeuten stets viele Demos. 2011 seien die Atomkraft und der arabische Frühling als Großthemen hinzugekommen. Ob 2012 der nächste Rekord ansteht, hängt also auch von der Weltlage ab. Prognosen sind bei einer Anmeldefrist von 48 Stunden unmöglich.

Die behäbige Schwester der vom Grundgesetz geschützten Demo ist die „Veranstaltung“, die meist länger dauert und mehr Vorlauf erfordert. Sie betrifft Haß nicht, sondern muss als Sondernutzung öffentlichen Straßenlandes beim Bezirk beantragt und bezahlt werden: Fashion Week, Marathon, Velothon, Fanmeile, Weihnachtsmarkt. Beispielsweise.

Nicht alle freuen sich, dass in der City so viel los ist. ADAC-Sprecher Carsten Zorger hat ausgerechnet, dass etwa 20 Veranstaltungen die Straße des 17. Juni in diesem Jahr an insgesamt fast 100 Tagen blockieren. „Damit ist auch wirklich gut“, sagt der Autolobbyist und plädiert bei Bezirk und Senat für mehr Mut zum Neinsagen. Durch die Baustellen für die U 5 werde das Verkehrsproblem in diesem Jahr noch größer. Allerdings verstehe er, dass die Straße wegen der Kulisse, ihrer Anbindung an BVG und Bahn sowie des Tiergartens als Fluchtweg so gefragt sei. Tourismuswerber sehen den Andrang als logische Folge des symbolisch unschlagbaren Brandenburger Tores: Das Bauwerk, das jeden Berliner Behördenbrief ziert, wolle jeder Veranstalter im Bild haben. Und weil gleich um die Ecke das Regierungsviertel liegt, zieht es auch Demonstranten aller Art an diesen Ort. „Jeder hält sich für so wichtig, dass es unbedingt der 17. Juni sein muss“, klagt ein Taxiunternehmer. Wer bei Google „Straße des 17. Juni“ eintippt, bekommt „Sperrung“ als erste Ergänzung vorgeschlagen.

Die Berliner müssen im Sommer sorgsam planen, wann sie zu Hause bleiben, wann sie flüchten und welche Verkehrsmittel dafür infrage kommen, wenn ringsum alles gesperrt ist. Mit dem Auto raus am Tag der Fahrradsternfahrt? Ganz schlecht. Mit dem Rad die Marathonstrecke kreuzen? Kaum besser. Mit dem Bus zur Fanmeile? Oje. Einem Bewohner der Thomas-Dehler-Straße am Südrand des Tiergartens graut schon vor dem Fußballfest: „Dieses Jahr wird wieder hart werden.“ Zum Christopher Street Day flüchten wieder die meisten im Haus. „Die halten es einfach nicht mehr aus.“

Der CSD fällt ebenfalls in die Zeit des größten Gedränges, aber steht beim Poker um die besten Plätze gut da: Obwohl er den Beteiligten Spaß macht wie eine kommerzielle Party, zählt er als Demonstration. Als überregional bedeutsame noch dazu. Das verleiht ihm Privilegien wie ein üppiges Lärmkontingent, von dem beispielsweise die kürzlich kleinlaut durch die City-West gezogenen Karnevalisten nur träumen können. Sie durften nur noch mit 70 Dezibel rumoren, nachdem die Umweltverwaltung ihren Umzug zur lokalen Folklore herabgestuft hatte. Glück für die Anlieger, Pech für die Beteiligten.

Politische „Versammlungen“ müssen – im Unterschied zu kommerziellen „Veranstaltungen“ – lediglich bei der Versammlungsbehörde angemeldet werden. Der Veranstalter könne Ort, Zeit und Gestaltung selbst bestimmen, sagt Haß. „Der Staat kann das nur einschränken, wenn die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet ist.“ Allerdings gehört zur Sicherheit laut Haß auch flüssiger Straßenverkehr, und am Ku’damm hätten sich Händler schon gegen ständige Demos vor dem Verwaltungsgericht gewehrt. Die Blockade von Verkehrsachsen dürfe zwar die Folge einer Demo sein, aber nicht ihr Zweck. Mit anderen Worten: Während die Leipziger Straße für hunderttausend Leute selbstverständlich in voller Breite gesperrt wird, können 20 Demonstranten auf den Gehweg geschickt werden, obwohl sie mit ihrem Anliegen dort weniger auffallen. Haß schätzt die Quote solcher „Kleinstversammlungen“ auf etwa 75 Prozent der Demos. Wie viele davon es in die Mitte drängt, kann er nicht beziffern, aber aus Erfahrung weiß er: „Die meisten wollen ans Brandenburger Tor, zum Alex und zum Breitscheidplatz.“

Während bei den Demos wenig zu machen ist, gelten für Veranstaltungen an prominenten Orten seit 2011 Nutzungsbeschränkungen. Die strengsten gelten an Bebelplatz und Neuer Wache. Der Alex verträgt dagegen fast alles – außer schwere Lastwagen. Bleibende Eindrücke am Ort des Geschehens sind ein Fall für Stefan Schönbaumsfeld, Referatsleiter aus dem Bezirksamt Mitte. Vor und nach Veranstaltungen werde ein Protokoll gemacht, um Schäden zu dokumentieren und ersetzt zu bekommen.

Bei Konkurrenz entscheidet neben der Reihenfolge der Anmeldungen auch das öffentliche Interesse, wer den Zuschlag bekommt. Diese Abwägung kommt an ihre Grenzen, wenn einige hundert weltweit vernetzte Fashionweek-Akteure gegen hunderttausend feierfreudige Fußballfans aufgerechnet werden sollen. Die Überschneidung war absehbar. Ein Eingeweihter berichtet, der Bezirk habe den Senat konsultiert, der dann die Fashion Week bevorzugt habe – und zugleich auf einen Kompromiss mit der Fanmeile hoffte. Senatssprecher Richard Meng bestätigt, dass die Abwägung schwierig werde, sobald irgendwem abgesagt werden müsse. Immerhin kann keine Demo eine schon gebuchte Veranstaltung sprengen: „Die Versammlungsbehörde bestätigt nur Örtlichkeiten, die zur Verfügung stehen“, sagt deren Chef. Am Stadtrand ist erfahrungsgemäß auch kurzfristig was frei.

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