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Nicht nur Japaner lächeln vor dem Reichstag fürs Fotoalbum.

© dpa

Tourismus: Berlin hat immer Saison

Der Tourismus in Berlin boomt: Noch nie verzeichnete die Stadt innerhalb eines Monats so viele Besucher wie in diesem Jahr. Experten gehen davon aus, dass der Ansturm anhält.

Warteschlangen vor dem Reichstag, Menschenmassen mit Fotoapparaten vor dem Brandenburger Tor, am Checkpoint Charlie, Unter den Linden oder am Neuen Museum: Touristen prägen spätestens seit der Maueröffnung das Berliner Stadtbild – und sie werden immer mehr. Allein im August 2010 registrierte das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 817 500 Besucher und rund 2,1 Millionen Übernachtungen in der Stadt – Rekord.

Noch nie war der Ansturm größer: Neben knapp 476 000 Deutschen zog es in diesem Monat auch 341 600 ausländische Gäste in die Stadt. Dabei sind es längst nicht mehr nur die Europäer, die Berlin als Reisedestination für sich entdeckt haben: Neben Italienern, Spaniern, Briten und Holländern kommen vor allem immer mehr Menschen aus den USA in die deutsche Hauptstadt. Davon profitiert auch das Umland. So ist die Hauptstadt nach wie vor Zugpferd für den Tourismus in Brandenburg. Viele Berlinbesucher nutzen ihren Aufenthalt, um sich eine Auszeit von der trubeligen Metropole zu gönnen.

Laut Experten sieht es ganz so aus, als ob der touristische Run auf Berlin auch in den kommenden Monaten anhalten könnte – trotz des bevorstehenden Winters, dem nicht erst seit der vergangenen Saison ein schlechter Ruf vorrauseilt. So rechnet Klaus Fischer vom Berliner Einzelhandelsverband mit einem guten Weihnachtsgeschäft im November und Dezember. Erfahrungsgemäß werde im Weihnachtsgeschäft ein Fünftel des Jahresumsatzes erwirtschaftet. Die Touristen tragen dazu fast ein Viertel bei. „Am Jahresende kommen viele Touristen nach Berlin, um die Weihnachtsmärkte zu besuchen und Geschenke zu kaufen“, sagt Fischer. Die moderate Preisentwicklung und der Aufschwung würden wohl dafür sorgen, dass das Portemonnaie bei vielen dieses Jahr lockerer sitzt, als im Krisenjahr 2009, sagt Fischer.

Die Berliner Tourismusvermarktungsgesellschaft Visit Berlin, ehemals Berlin Tourismus Marketing (BTM), umwirbt potenzielle Berlin-Touristen in der kalten Jahreszeit mit hauptstädtischer Hitze. „Berlin ist eines der heißesten Reiseziele im Winter“, heißt es auf der Visit Berlin-Seite im Internet. Nicht nur Glühwein und Lebkuchen auf den Berliner Weihnachtsmärkten sollen Touristen in der kalten Jahreszeit in die Stadt locken, sondern auch das beheizte Badeschiff auf der Spree sowie städtische Wellness-tempel und Spas. Zudem wollen die Berlin-Vermarkter auch den Bewohnern der Stadt das touristische Angebot der Metropole näher bringen und sie zum Ausspannen in der City bewegen (siehe Seite 19).

Die Zahl der Berlinbesucher ist in den vergangenen zehn Jahren mit einer Ausnahme im Jahr 2002 kontinuierlich gestiegen, auch während der Wirtschaftskrise. Laut Studie des Netzwerks „European Cities Marketing“ (ECM) vom Juni steht Deutschlands Hauptstadt in der Gunst der Städtereisenden im europaweiten Vergleich ganz weit oben: Nur London und Paris konnten das Reiseziel an der Spree bei den Übernachtungsgästen toppen (siehe Grafik auf der nächsten Seite). Im Gegensatz zur britischen und französischen Hauptstadt musste Berlin während der Wirtschaftskrise keine Verluste hinnehmen, sondern konnte sogar Marktanteile hinzugewinnen.

Warum Berlin als Reiseziel derzeit so gefragt ist, hat Visit Berlin untersucht. „Es ist die Vielfalt, die Offenheit und häufig auch die Gegensätzlichkeit der Stadt, die Reisende aus dem Inland und aus dem Ausland gleichermaßen anzieht“, heißt es in der Studie aus dem Jahr 2009. „Berlin bietet ein unvergleichliches Spektrum an touristischen Angeboten. Ob innovativer Club, Mode-Location oder klassische Sehenswürdigkeit: Diese Mischung aus Hochkultur und Subkultur gibt es nur hier.“

Die Hochkultur: Damit ist Berlins reichhaltiges musisches, künstlerisches und museales Angebot gemeint. Mehr als 1000 davon bietet die Stadt pro Tag. Alleine drei Opernhäuser, 150 Theater, Konzerthäuser und Kabaretts gibt es in der Hauptstadt. Wer gerne ins Museum geht, hat in Deutschlands Kapitale ebenfalls die Qual der Wahl: Mit seinen rund 200 Museen und Gedenkstätten bietet Berlin ein Angebot für alle Altersklassen und Interessenslagen. Unangefochtener Publikumsrenner in dieser Sparte ist seit Jahren das Pergamonmuseum auf der Museumsinsel mit dem weltberühmten Pergamonaltar, gefolgt vom Alten und dem Jüdischen Museum. Auch das wiedereröffnete Neue Museum muss regelmäßig Besucher vertrösten, weil die Kartenkontingente erschöpft sind.

Auch abseits klassischer Sehenswürdigkeiten gibt es in Berlin jede Menge zu entdecken. Visit Berlin-Geschäftsführer Burkhard Kieker verweist etwa auf die Gärten der Welt in Marzahn, den Wannsee, den Stadttteil Köpenick und die Berliner Wasserlandschaften. „Da kann man mehr machen“, sagt Kieker. Zum Teil hätten Touristen aber schon entdeckt, dass Wasser ein Trumpf dieser Stadt sei: „Deswegen schippern viele durch die Innenstadt“, sagt Kieker.

Damit all diese Touristen gerne wiederkommen, will Kieker nun Stadtplaner bei der Erstellung des neuen Tourismuskonzepts hinzuziehen: „Zum Beispiel muss geklärt werden, ob es an touristischen Hot Spots genügen Toilettenhäuschen oder Flächen für Restaurants gibt“, sagt er.

Klassische Orte der Subkultur sind die Clubs der Stadt. Sie sind längst nicht mehr ausschließlich Treffpunkt zum Trinken und Tanzen, sondern bieten dem Publikum auch Lesungen, Konzerte oder Kleinkunst. Soziologen merken allerdings skeptisch an, dass es mit Berlins vielgepriesener Subkultur bald vorbei sein könnte, weil immer mehr solcher Institutionen großen Immobilienprojekten weichen müssen – die Wissenschaft nennt diesen Effekt Gentrifizierung. Jüngst ereilte dieses Schicksal die „Bar 25“, in der jahrelang nicht nur junge Berliner sondern auch viele ausländische Gäste die Nächte durchgefeiert hatten. Burkhard Kieker von Visit Berlin glaubt trotz dieses und anderer Gentrifizierungsbeispiele nicht, dass die Subkultur in der Hauptstadt verschwinden, und damit eine wichtige Einkommensquelle der Tourismusbranche versiegen könnte. Das Bohemian-Leben nach Vorbild der Pariser zwanziger Jahre werde es in Berlin noch lange geben, ist Kieker überzeugt.

Rund 40 Prozent der ausländischen Touristen sind laut einer BTM-Gästebefragung aus dem Jahr 2008 jünger als 30 Jahre und kommen in erster Linie in die Stadt, um das Berliner Nachtleben zu genießen. Die deutschen Berlin-Besucher, die rund 60 Prozent der Gäste ausmachen, sind deutlich älter – im Schnitt 45 Jahre.

„Berlin hat bei jungen Menschen einfach den Ruf, cool zu sein“, erklärt Arne Krasting. Er ist Geschäftsführer der Firma Zeitreisen Veranstaltungs- und Projektmanagement, die seit zehn Jahren Führungen durch Berlin anbietet. Das wilde Szene-Berlin sucht diese Touristengruppe seiner Einschätzung nach am Mauerpark, das coole Leben am Prenz-lauer Berg. Die Bewohner und Gewerbetreibenden der Kieze stehen den jungen Besuchern nicht immer gastfreundlich gegenüber, weiß Krasting. In bestimmten Gegenden sei der Ansturm von besonders vielen jungen Menschen „ein Problem“. So wehrten sich einige Kneipiers an den touristischen Hotspots Oranienburger Straße und Simon-Dach-Straße gegen junge Touristengruppen – und ließen sie nicht in ihre Lokale. Insgesamt sei diese Klientel für die Stadt aber ein Segen, sagt Krasting: „Diese jungen Touristen werden in fünf oder zehn Jahren immer noch unsere Gäste sein“, sagt er. Da sich mit der Zahl der Besuche und der Zeit das Interesse der Touristen ändert, könnte es also gut sein, dass die Menschen, die heute in angesagte Clubs gehen, in zehn Jahren eine Opern- oder Theatervorführung besuchen.

Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite: Nicht nur Urlauber zieht es in die Hauptstadt

Ob nun Hoch- oder Subkultur: Was für die Touristen pures Vergnügen ist, bedeutet für die Geschäftstreibenden am Berliner Tourismusmarkt jede Menge Arbeit – und gute Umsätze. Mit 176 Millionen Aufenthaltstagen von Touristen pro Jahr in Berlin und durchschnittlichen Tagesausgaben aller Gästegruppen von 51,10 Euro wird laut BTM ein Bruttoumsatz in Höhe von 8,99 Milliarden Euro erzielt. Etwa die Hälfte dieses Umsatzes entsteht durch Ausgaben von Tagestouristen, die andere Hälfte durch Ausgaben der Übernachtungsgäste. Dieseverweilen im Schnitt 2,6 Tage in der Stadt. Von den Touristen profitiert vor allem das Berliner Gastgewerbe, das 42,8 Prozent des Gesamtumsatzes generiert, gefolgt vom Einzelhandel (40,4 Prozent) und den Dienstleistungsunternehmen (16,8 Prozent).

Laut Visit Berlin bestreiten in der Hauptstadt rund 232 000 Menschen ihren Lebensunterhalt durch eine Beschäftigung, die in Verbindung mit dem Tourismus steht – wie Arne Krasting. Er hat sich mit seiner Firma Zeitreisen im Jahr 2005 auf Videobustouren spezialisiert. Die Touren sollen Touristen verschiedene Abschnitte der neueren Berliner Geschichte vom Nationalsozialismus über den Kalten Krieg bis zum Mauerfall näherbringen. „Wir haben uns gefragt, wie man das Touristen vermitteln kann und durch unser Format eine Nische gefunden“, sagt Krasting. Sein Unternehmen beschäftigt drei feste und einen Pool freier Mitarbeiter.

Der beliebte Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche
Der beliebte Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche

© ddp

Für die 15 Videobustouren, die Zeitreisen entwickelt hat, durchstöbern Krasting und seine Kollegen Filmarchive und private Sammlungen. Im Moment bietet Zeitreisen drei Touren in Berlin an. Auf den zwei- bis zweieinhalbstündigen Rundfahrten können die Gruppen passend zu den Gebäuden am Straßenrand historisches Filmmaterial dazu auf Bildschirmen sehen, beispielsweise hier gedrehte Spielfilmausschnitte oder Material über die Wissenschaftsgeschichte der Hauptstadt. „Wir werden von Firmen und Stiftungen gebucht, die ihren Gästen ein gehobenes Programm anbieten wollen“, sagt Krasting. Bei den öffentlichen Touren seien auch regelmäßig Berliner dabei, und junge Menschen, die den multimedialen Aspekt der Tour interessant finden. Den Hauptumsatz macht Zeitreisen mit seinen Gruppenangeboten. Bei den öffentlichen Bustouren hat das Unternehmen im laufenden Jahr von den steigenden Touristenzahlen profitiert. „2010 war unser bestes Jahr bei öffentlichen Touren“, sagt Krasting.

Dass vor allem das Interesse aus dem Ausland an Berlin stetig gewachsen ist, hängt nach Auskunft von Visit Berlin vor allem mit den von Low Cost Airlines angebotenen, preiswerten Flugverbindungen nach Berlin zusammen. Fluggesellschaften wie Germanwings, Easyjet oder Ryanair starten von verschiedenen europäischen Metropolen und fliegen mehrmals täglich nach Schönefeld. Wer rechtzeitig bucht, zahlt derzeit für Hin- und Rückflug unter 100 Euro. Im Mai soll eine weitere Flugverbindung dazukommen: Air Berlin will dann vier Mal pro Woche ohne Zwischenstopp den New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen ansteuern und auf der umgekehrten Strecke vor allem amerikanische Touristen nach Berlin bringen.

Allerdings wird es nicht bei den günstigen Preisen für Flugreisen nach Berlin bleiben: Die Bundesregierung erhebt ab kommendem Jahr eine Steuer auf Flugtickets. Innerhalb Deutschlands soll der Aufschlag acht Euro, auf der Mittelstrecke 25 Euro betragen. Wer jetzt einen Flug für Januar bucht, muss die Preiserhöhung bereits bezahlen. „Die Steuer hat eine Höhe, die ich für tourismusschädlich halte“, kritisiert Visit Berlin- Chef Burkhard Kieker. Er prophezeit einen merkbaren Dämpfer bei den Touristenzahlen. „Insbesondere Deutschlandtouristen werden ihren Aufenthalt überdenken, wenn ihre Flugtickets plötzlich acht Euro mehr kosten“, sagt Kieker. Das gelte auch für Wochenendtouristen. „Ich verstehe nicht, dass man diese Steuer durchsetzt, obwohl es schon in anderen Ländern genügend Negativbeispiele dafür gibt, welche Konsequenzen das hat“, sagt der Visit Berlin-Chef.

An dieser Stelle zeigt sich, dass Berlin zwei unterschiedliche touristische Zielgruppen gleichermaßen bedienen muss: Die Älteren, die tendenziell über mehr Geld verfügen, und die Jungen, denen in der Regel ein bescheideneres Reisebudget zur Verfügung steht. Besonders die Hotelbranche hat sich in den vergangenen Jahren vor allem an der jüngeren Klientel orientiert und besonders in den Bau von Hostels und so genannten Budgethotels investiert.

Seit 1998 hat sich das Bettenangebot in der Stadt verdoppelt: Im Oktober 2009 zählte Berlin 723 Beherbergungsbetriebe mit 106 000 Betten. Zu viele, sagen Kritiker. Denn die Hotels sind allenfalls zur Hälfte ausgelastet, wie ein Blick auf die Statistik zeigt (siehe Grafik auf dieser Seite). Auf der anderen Seite hat der Bauboom der vergangenen Jahre auch dazu geführt, dass Berlin mittlerweile über eine der modernsten Hotellandschaften Europas verfügt.

„Nach der Wende haben die ersten Hotelketten neu gebaut, dadurch mussten andere Betreiber nachziehen und ihre Häuser nachrüsten“, erklärt Burkhard Kieker. er. Den Investitionsboom in der Hotelbranche versteht Kieker als „Riesenkompliment an Berlin“: Wenn die Hotelketten nicht an die Stadt glauben würden, würden sie ihr Kapital auch nicht hier einsetzen.

Allerdings sind es nicht allein die Urlauber, die in immer größerer Schar in die Hauptstadt reisen. Der Standort konnte sich in den vergangenen Jahren auch als Kongresshochburg etablieren und liegt im bundesweiten Vergleich an der Spitze. Laut Statistik der International Congress & Convention Association (ICCA) aus dem Jahr 2009 gehört Berlin inzwischen zu den vier bedeutendsten Zentren für Verbandskongresse weltweit. Mit 8,26 Millionen Tagungs- und Kongressgästen bei rund 108 500 Veranstaltungen konnte die Hauptstadt auch im Krisenjahr ein Plus im Vergleich zum Vorjahr verbuchen. Dieses positive Ergebnis ist zum einen auf die in Berlin reichlich vorhandene Infrastruktur in diesem Bereich zurückzuführen. So bietet die Stadt ein reichhaltiges Angebot an Flächen für Großveranstaltungen, darunter sechs Kongresszentren und Hallen sowie 166 Tagungshotels, die Zimmer zu vergleichweise moderaten Preisen anbieten.

Allerdings könnte das günstige Preis-Leistungsverhältnis der Berliner Hotels bald schon passé sein: Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linke) hat vor kurzem eine „Bettensteuer“ ins Gespräch gebracht, die künftig zugunsten der Stadt auf die Hotelpreise aufgeschlagen werden könnte. Wolf hält einen Zuschlag zwischen einem und 1,50 Euro für vertretbar. „Angesichts der günstigen Hotelpreise in Berlin gehe ich nicht davon aus, dass dieser geringe Beitrag die Übernachtungszahlen in Berlin verringern wird“, sagt der Wirtschaftssenator. Wolf will der Steuer nur zustimmen, wenn diese „rechtssicher und umsetzbar“ ist. Wann die Gesetzesvorlage für die Steuer kommt und ob dies noch in dieser Legislaturperiode passiert, ist unklar. Aus der Finanzsenatsverwaltung heißt es nur, man arbeite gerade an einer Vorlage. Visit Berlin-Chef Burkhard Kieker hält eine Übernachtungssteuer für potenziell ungerecht. Wie beteiligt man den Handel?“, fragt er und verweist auf das große Angebot an Ferienwohnungen, die schließlich auch Betten vorhielten und für die auch eine Einbindung in die Steuer geregelt werden müsse. Die Hotels hätten in Berlin ohnehin schon einen harten Konkurrenzkampf auszufechten.

Zumindest auf den Kongresstourismus dürfte sich eine Hotelsteuer in der geplanten Höhe nicht negativ auswirken. Schließlich kommt das Gros der Teilnehmer aus zahlungskräftigen Wirtschaftszweigen. So nutzen vor allem Verbände und Unternehmen aus der Medizin-, Chemie- und Pharmabranche, Banken, Versicherungen und Einzelhändler sowie Verlage, Medien- und Kulturbetriebe beispielsweise das Internationale Congress Centrum (ICC) am Funkturm oder das Berliner Congress Center (BCC) am Alexanderplatz als Tagungsort – nicht zuletzt, weil in Berlin die Entscheider der Republik sowie zahlreiche Verbände und Forschungseinrichtungen sitzen.

Für die Stadt sind die Tagungs- und Kongressreisenden ein erheblicher Wirtschaftsfaktor. Durchschnittlich 182 Euro gibt jeder von ihnen pro Kongresstag aus – im Jahr 2009 brachte das einen Umsatz von rund 1,5 Milliarden Euro. Hauptkongresssaison in der Stadt sind traditionell die Frühjahrs- und Herbstmonate.

„Der Kongresstourismus ist ein wichtiger Sektor für die Stadt“, sagt Burkhard Kieker. „Wenn wir unsere Position halten wollen, brauchen wir mehr Mittel für Akquise, mehr Kapazitäten und Planungssicherheit“, sagt er. Daher begrüßt Kieker die aktuellen

Planungen, die Deutschlandhalle spätestens im Frühjahr 2011 abzureißen und das ICC ab 2014 umzubauen und zu modernisieren. Das Konzept soll am 2. oder 9. November vom Senat beschlossen werden. Stephan Schulz, Sprecher der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen, hebt neben den genannten Aspekten einen weiteren hervor. „Berlin ist die erste deutsche Stadt mit einer Green Meeting-Online-Plattform“, sagt er. Hier präsentieren zahlreiche Berliner Tagungsdienstleister ihre umweltfreundlichen Services.

„Berlin ist eine Spielwiese für touristische Formate, ein Ort, wo man etwas ausprobiert“, sagt Zeitreise-Geschäftsführer Krasting. In der Nähe seines Büros an der Luisenstraße in Mitte zeigt sich plastisch, was damit gemeint ist: Pferdekutschen werden von einer Touristengruppe auf dem Segway überholt, an der Ecke wartet ein Bierbike auf Gäste, eine Fahrradfahrergruppe steht an der roten Ampel, vor ihr gehen Touristen zu Fuß einem Stadtführer hinterher, während etwas weiter weg ein Tourenbus vorbeifährt. „So ein Angebot gibt es nicht in London oder Rom“, sagt Krasting. Im Bereich der Stadtführungen zu Fuß hält er den Markt für weitestgehend gesättigt. Das sei auch ein Grund für Zeitreisen gewesen, sich seinerzeit aus diesem Geschäft zurückzuziehen.

Diese Ansicht teilt Melanie Knies – und kann es daher immer noch nicht so recht fassen, doch noch eine Marktlücke gefunden zu haben. Seit Ende September 2010 bietet sie unter dem Namen „Berlin mit Hund“-Touren für Touristen mit Vierbeiner an. „Ich habe geguckt, ob es das schon gibt, und nichts gefunden“, sagt sie. Im Angebot hat sie drei Touren und einen Abenteuerspaziergang. Da man mit Hund bekanntlich nicht ins Museum gehen kann, setzt Knies auf ein anderes Konzept. „Den Reichstag findet jeder auch ohne mich. Ich nehme die Menschen mit dorthin, wo Berlin lebt“, sagt die gelernte Touristikfachwirtin.

Damit die Hunde sich auf den zwei bis dreistündigen Rundgängen durch Charlottenburg, Kreuzberg und Schöneberg nicht durch Menschenmengen zwängen müssen und auch ihren Spaß haben, wählt Melanie Knies für ihre Rundgänge gerne Seitenstraßen und Grünanlagen, gibt den Hunden zur Begrüßung etwas zu knabbern und macht Schnüffelspiele mit ihnen. Den Hundebesitzern erzählt sie vom Leben in den Bezirken, durch die sie laufen, zum Beispiel, wer den Buchladen um die Ecke betreibt und wie es um den Kreuzberger Mariannenplatz aussah, als dort 1971 das Rauchhaus besetzt wurde. Und sie gibt ihnen Kot-Tüten mit, damit es später keine Ausrede gibt, Hinterlassenschaften liegenzulassen.

Auf allen Touren dabei ist Melanie Knies Hündin Gioia, die zum Therapiehund ausgebildet wurde. Mit ihrem Angebot möchte Knies ein negatives Bild von Berlin entkräften, das einige Besucher aus Westdeutschland haben. Zum Beispiel würden manche Touristen glauben, Kreuzberg sei gefährlich. Ein Ehepaar aus dem Sauerland konnte Knies bereits vom Gegenteil überzeugen. Die Stadtführerin, die auch Öffentlichkeitsarbeit für ein Restaurant in Mitte macht und mit ihrem Hund für Therapiestunden eingesetzt werden möchte, sieht ihre Rundgänge als zusätzliches Standbein. Selbstständig möchte sie sich damit nicht machen. „Ich hätte gerne pro Woche einen Termin. Bei drei Touren pro Woche müsste jemand dazukommen“, sagt sie. Auch die Wissenschaft arbeitet an neuen Konzepten im Umfeld des Tourismus. So entwickeln Forscher des Fraunhofer Anwendungszentrums für Logistiksystemplanung und Informationssysteme (Ali) an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus derzeit eine neue Informations- und Serviceplattform für Touristen.

„Tourist“ soll die Besucher einer touristischen Region bedarfsbezogen und aktuell via Smartphone oder über ein Terminal mit touristischem Input versorgen. Das System könnte auch für die Tourismuswirtschaft von Interesse sein: Durch den Datenaustausch zwischen Nutzer und Portal lassen sich Touristenströme messen und Bewegungsprofile erstellen. Aus diesen virtuellen Fußabdrücken können touristische Betriebe laut Ali-Forscherin Anke Jäckel Schlüsse darüber ziehen, ob ihr Angebot „richtig“ präsentiert ist und die gewünschte Zielgruppe erreicht – und gegebenenfalls Änderungen vornehmen. Das System könne den Besucherandrang bei Großveranstaltungen wie Konzerten besser kalkulieren und so Sicherheitsrisiken minimieren. Auch die Umwelt könne von dem Portal profitieren, sagt Jäckel: Touristenströme könnten beispielsweise in Naturschutzgebieten so gelenkt werden, dass die Umwelt möglichst wenig Schaden nimmt.

Aber lassen sich Touristen überhaupt in ihre Pläne hineinreden? „Der Besucher darf sich natürlich nicht kontrolliert führen“, sagt Jäckel. „Die Akzeptanz eines solchen Systems hängt stark davon ab, ob dem Touristen alternative Routen vorgeschlagen werden.“ Ob „Tourist“ ankommt, wollen die Ali-Forscher im kommenden Frühjahr im Rahmen eines Pilotprojektes in einer deutschen Tourismusregion testen – wo genau, steht noch nicht fest.

Visit Berlin-Chef Burkhard Kieker rechnet fest damit, dass die Berlin auch in Zukunft ein Touristenmagnet bleiben wird und sich die Branche weiter positiv entwickeln wird. „Das Beste steht der Stadt noch bevor“, sagt er. „Wir haben die richtige Struktur dafür.“

Mit freundlicher Genehmigung von Berlin Maximal. Mehr zum Thema ab Freitag in der Printausgabe des Wirtschaftsmagazins für den Mittelstand der Region Berlin.

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