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Straßenschild Graefestraße, Berlin-Kreuzberg.

© Kitty Kleist-Heinrich

Gentrifizierung: Wie sich der Graefekiez in Kreuzberg verändert

Die Mieten steigen, neue Leute ziehen in sanierte Wohnungen. In Friedrichshain wird gegen Gentrifizierung demonstriert, im Kreuzberger Graefekiez läuft sie etwas ruhiger ab – was Vor- und Nachteile hat.

Ich lebe in einer Kreuzberger Gegend, von der es heißt, dass dort die Gentrifizierung gerade besonders heftig stattfindet, im Graefekiez. Diese Gegend liegt zwischen dem Landwehrkanal – die Admiralbrücke! – und der Urbanstraße oder der Hasenheide, das ist Ansichtssache. Die anderen inoffiziellen Grenzen sind der Kottbusser Damm und, vielleicht, das Urbankrankenhaus. Der Graefekiez grenzt an das sogenannte Kreuzkölln, das neuerdings als einer der Hauptschauplätze des Berliner Nachtlebens gilt.

Alexanderplatz und Potsdamer Platz sind nicht weit, die Bergmannstraße und der Chamissoplatz, also Edelkreuzberg mit Markthalle, sind mit einem kleinen Spaziergang zu erreichen, sogar zur Redaktion des Tagesspiegels kann man in einer guten halben Stunde laufen. Dass dieser Kiez attraktiv ist, liegt auf der Hand, ruhig und trotzdem zentral, wie ein Makler es nennen würde, mit viel Wasser, mit Parks, mit kleinen Läden und Kneipen für jeden Geschmack, zum Teil sogar verkehrsberuhigt.

Zum ersten Mal habe ich hier in den späten Achtzigern gelebt, 2006 bin ich zurückgekommen. Damals hörte man noch nicht viel von Gentrifizierung. Seit 1990 hatte sich, auf den ersten Blick, wenig verändert, die Mischung war noch da, das spezielle Kreuzberger Ambiente – Studenten, Migranten, Alte, Lehrer, Anwälte, Kleinunternehmer und Architekten, Alt-68er und junge Lederjacken, Leute mit wenig Geld und Leute mit einträglichen Jobs, alle wohnten Tür an Tür und vertrugen sich meistens recht gut. Viertel, in denen nur eine einzige Sorte von Leuten wohnt, sind öde, sage ich gerne, wenn ich mit Leuten, die in Prenzlauer Berg oder in Zehlendorf wohnen, über meinen Kiez spreche, egal, ob es nur Wohlhabende, nur Migranten oder nur junge Familien sind. Monokultur laugt die Böden aus, in dieser Hinsicht ähneln sich Landwirtschaft und Stadtsoziologie.

Straßenszene rund um die Graefenstraße.
Straßenszene rund um die Graefenstraße.

© Kitty Kleist-Heinrich

Tatsächlich war ich, ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen, ein Vorbote der Gentrifizierung, diesem Prozess der Verdrängung von Wenigverdienern durch Besserverdiener. Klar, ich war kein Neuzuzug aus Westdeutschland, oh nein, ich hatte ja schon zu einer Zeit hier gelebt, in der einige der Anti-Gentrifizierungs-Demonstranten nicht mal geboren waren, von diesen Grünschnäbeln muss ich mir nichts sagen lassen. Aber die Gentrifizierung schreitet nicht nur durch Zuzüge voran, sie ist auch ein biologischer Prozess. Der 28jährige Berufsanfänger, der mit Freundin oder Freund in eine billige Wohnung in einem coolen Kiez zieht, ist, zwanzig Jahre später, in vielen Fällen ein Besserverdiener geworden, ein Gentrifizierer, nur, weil er sich weigert, nach Pankow oder Wilmersdorf ins Eigenheim umzuziehen, wo seine Gehaltsklasse angeblich hingehört. Er ist halt in puncto Wohnen den Idealen seiner Jugend treu geblieben, das kann man eigentlich niemandem vorwerfen.

in Phänomen, das man hier häufiger erleben kann: Gutverdienende, die seit Jahrzehnten in 160-Quadratmeter-Etagen wohnen und dabei ein bisschen Karriere gemacht haben, lästern über gleichaltrige Neulinge, die ähnlich verdienen wie sie, ähnliche Meinungen haben und ähnliche Vorstellungen von Wohnkultur, nur: Sie sind später dran. Und sie zahlen höhere Mieten.

Sie wollten es doch nur schön haben, lebendig, ohne Monokultur

Blick von der Admiralbrücke in Richtung Urbanhafen. Anwohner protestierten hier gegen nächtliche Partys.
Blick von der Admiralbrücke in Richtung Urbanhafen. Anwohner protestierten hier gegen nächtliche Partys.

© Kitty Kleist-Heinrich

Unser Haus, ein großes Mietshaus, wurde in den Achtzigern von einem damals jungen Lehrer und einem Architekten gekauft, um darin zu leben, die übrigen Mietwohnungen wurden in Eigentumswohnungen umgewandelt, auf diese Weise finanzierten sie das Projekt. Ganz easy. Etwa zu dieser Zeit, 1988, wollte ich auch mal mit einem Freund ein Mietshaus in der Dieffenbachstraße kaufen. Vorderhaus, Hinterhaus, Seitenflügel, im Erdgeschoss ein Laden, ungefähr 20 Wohnungen, bewohnbar, aber unsaniert, 450.000 Mark. So waren damals die Preise. Natürlich hatten wir keine 450.000 Mark, wir hätten Kredite aufnehmen müssen und bekamen Angst. Schon ein Jahr später, nach dem Mauerfall, war das Haus das Drei- bis Vierfache wert. Heute vielleicht das Zwanzigfache. Da würde die Freude über den Reichtum sicher dafür sorgen, dass man kein schlechtes Gewissen hat.

Trotzdem blieb das Viertel lange in der Balance, kein Milieu schien die Oberhand über die anderen Milieus zu gewinnen, das war schon ein kleines Wunder. Jetzt mehren sich die Zeichen der Entmischung. Das Attac-Büro, ein kleiner Kellerladen, ist gekündigt worden. Der Entmieter war ein Mann um die dreißig, er sagt, dass da jetzt was Gastronomisches reinkommen soll, was Originelles, vielleicht eine Sushi-Bar. Neue Läden sind meistens gastronomisch, obwohl es davon schon sehr viele gibt. Die Weingenossenschaft konnte die Miete nicht mehr bezahlen, dort wird jetzt renoviert. Ein Haus schräg gegenüber wurde von spanischen Investoren ebenfalls radikal entmietet, der Quadratmeter kostet jetzt etwa 3000 Euro. Das Straßenfest, das immer sehr schön war, ist diesmal ausgefallen. Seit Jahren schon konnte man auf Plakaten lesen, dass sich das Organisationskomitee über mangelnden Nachwuchs beklagt. Die neuen Bewohner haben viel zu tun, klar, sonst können sie ihre Mieten und ihre Kredite nicht bezahlen. Das alles vollzieht sich in Zeitlupe, nicht radikal, nicht schnell, sondern Schritt für Schritt, Haus für Haus.

Und ich weiß genau, dass hier etwas entsteht, entstehen könnte, was denen, die herziehen, und die ja keine Monster sind, sondern ganz normale Leute, nur halt mit guten Jobs, nicht gefallen dürfte. Indem man kommt, macht man es kaputt, wie der Rucksacktourist, der einen einsamen Strand entdeckt, an dem dann zehn Jahre später ein Klubhotel steht. Ich habe es erlebt, als ich nach München zog. Das Glockenbachviertel sei wunderbar, hieß es. Ich schaute mir das Glockenbachviertel an und verstand die Welt nicht mehr. Völlig langweilig und öde. Spiegelglatt, totsaniert. Lauter Wohlhabende. Ich war zu spät dran.

Offenbar ist es so, dass erst die Armen das Viertel, für die Augen der Wohlhabenden, so attraktiv machen. Der alte Mann, der mit seinem Hund immer am offenen Fenster sitzt, umgeben von bunten Plastikblumen, die leutseligen Biertrinker vor Getränke Hoffmann, die Hausmeister, die Rentnerinnen in Kittelschürzen und die tiefergelegten BMWs der Türken, die mit voll aufgedrehter Anlage vom Kottbusser Damm mal kurz rübercruisen, das alles gehört dazu und macht den Reiz aus, so wie die Wäsche auf den zwischen Häusern gespannten Wäscheleinen den Reiz einer Mittelmeerstadt ausmacht. Dieser Blick ist folkloristisch, auch klischeehaft, und nicht sozialpolitisch, er weiß nichts von den Nöten und Ängsten der Unterschicht. Aber er bedeutet, dass es am Ende, wenn der Prozess der Gentrifizierung abgeschlossen ist, keine Gewinner geben wird, sondern nur Verlierer. Die Armen wohnen woanders, und den Reichen gefällt es nicht mehr. Denn sie wollten eigentlich gar nicht unter sich sein. Sie wollten niemanden vertreiben. Sie wollten es doch nur schön haben, lebendig, ohne Monokultur.

Wer sagt, dass der Arme arm bleibt und der Reiche immer reich?

Das "Cafe Graefchen".
Das "Cafe Graefchen".

© Kitty Kleist-Heinrich

Noch etwas: Die Zahl der Wohnungseinbrüche steigt. Ich war auch schon dran.

st alles, was an Berlin gut ist, hängt mit der Armut der Stadt zusammen. Berlin ist nicht trotz seiner Armut sexy, sondern wegen seiner Armut. Künstler und Bohemiens kommen nach Berlin, weil es trotz aller Klagen der Einheimischen immer noch relativ billige Wohnungen gibt, verglichen mit New York, Paris oder London. Die grüne Umgebung verdanken wir der Tatsache, dass es bis vor ein paar Jahren keinen Speckgürtel aus Industrie und Gewerbe gab, es gibt zum Glück auch keine nennenswerten Bodenschätze. Das legendäre Nachtleben? Zum Teil eine Folge des Zusammenbruchs der Berliner Industrie und des Krieges, der reichlich Abenteuerspielplätze geschaffen hat, Ruinen, Keller, Bunker. Die Parks? Sie wurden angelegt, weil das Proletariat in seinen Mietskasernen ein bisschen Auslauf brauchte, sonst wäre es zu schnell weggestorben.
Wie gesagt, reiche Städte sind langweilige Städte. Aber bis Berlin eine reiche Stadt wird, wie Zürich oder München, muss noch viel passieren. Ich mache mir da keine Sorgen. Eine Stadt entwickelt sich immer, man kann sie nicht in einem bestimmten Zustand einfrieren, auch wenn man diesen Zustand schön findet. Mir würden für Berlin schon ein paar Jahreszahlen zum Einfrieren einfallen, 1990 zum Beispiel, war das nicht eine wunderbare Zeit? Aber es geht nicht, die Geschichte kennt keine Auszeiten, im Gegensatz zum Basketball. Es geht entweder aufwärts oder abwärts mit der Wirtschaft, die Stadt wird entweder reicher oder ärmer. Und da ist ein allmählich wachsender Wohlstand sicher die bessere Richtung.
Vom wachsenden Wohlstand haben ja auch diejenigen etwas, die nicht für die neuen Jobs zum Beispiel in den Kreativbranchen infrage kommen und die rettungslos am Tropf des Staates hängen. Die Stadt nimmt Geld ein, wenn es Jobs gibt, und von diesem Geld bezahlt sie unter anderem ihre sozialen Leistungen. Das vergessen diejenigen, die gegen die Gentrifizierung protestieren und von Vertreibung durch die Reichen reden. Die Reichen sind es ja, die über Steuern dafür sorgen, dass der Staat und die Stadt etwas zu verteilen haben, und, na klar, irgendwo müssen sie wohnen.

Man kann die Stadtviertel nicht zu Museen erklären. Es lässt sich praktisch auch gar nicht durchführen, es sei denn, man schafft die Freizügigkeit, die Freiheit des Marktes und noch ein paar Grundrechte ab. Wenn Kreuzberg teuer und edel wird, was nicht morgen oder übermorgen passieren wird, aber langfristig passieren könnte, dann werden eben andere Viertel die Rolle von Kreuzberg übernehmen. Nicht Friedrichshain, das entwickelt sich so schnell, dass es Kreuzberg bei der Gentrifizierung eher noch überholt. Vielleicht der Wedding. Seit zwanzig Jahren heißt es immer wieder: Der Wedding kommt. Dazu hat es schon ein Dutzend Geschichten in den Stadtmagazinen gegeben. Aber irgendwann kommt der Wedding tatsächlich, ganz bestimmt. Auch die Gegend um die Potsdamer Straße und die Kurfürstenstraße ist billig und zentral, da ziehen jetzt viele Leute hin. Berlin ist groß und wird niemals den Reichen allein gehören. Vielleicht bin ich naiv, aber ich glaube nicht, dass Berlin jemals eine Stadt ohne Nischen, Leerstellen und Abenteuerspielplätze sein wird. Kein Regime und kein System hat Berlin jemals ganz in den Griff bekommen.
Früher wohnte ich auch lange in Charlottenburg. Das Haus gehörte einer süddeutschen Familie, die eines Tages Geld brauchte und an eine Düsseldorfer Immobilienfirma verkaufte. Die hat dann aus den recht günstigen Mietwohnungen teure Eigentumswohnungen gemacht. Das war einer der Gründe, aus denen ich wieder in Kreuzberg gelandet bin, ich kenne Gentrifizierung also aus beiden Perspektiven, als Opfer und als Täter. Jeder kann jederzeit die Rolle wechseln in diesem Spiel, denn wer sagt denn, dass der Arme immer arm bleibt und der Wohlhabende immer wohlhabend?

Verfall kann romantisch sein, bis eines Tages das Haus zusammenbricht, dann ist es vorbei mit Romantik.

Der Wrangelbrunnen in der Grimmstraße wird, privat finanziert, blad wieder sprudeln.
Der Wrangelbrunnen in der Grimmstraße wird, privat finanziert, blad wieder sprudeln.

© Kitty Kleist-Heinrich

In Deutschland glauben viele Leute, dass sie auf der Sprosse der sozialen Leiter, auf der sie sich gerade befinden, ihr Leben lang sitzen bleiben werden. Die Hoffnung auf Aufstieg ist irgendwie verschwunden. Als ich ein Baby war, lebten meine Eltern und ich in einer Einzimmerwohnung hinterm Bahnhof, heute wohnt mein Vater in einem Haus mit Garten. Die Antwort auf Gentrifizierung hieß für seine Generation: Aufstieg, Ehrgeiz, harte Arbeit. Auf die Idee, dass der Staat daran schuld sein könnte, dass er nicht in seiner Traumwohnung wohnt, wäre er nie gekommen. Wenn man so etwas heute schreibt, wird einem sofort Zynismus vorgeworfen. Alles, was nicht auf staatliche Regulierung hinausläuft, sondern auf individuelle Anstrengung, läuft unter Zynismus. Nicht jeder kann es schaffen, deswegen sollte es am besten erst gar keiner versuchen. Das ist die Haltung. Arme sind keine besseren Menschen als Reiche. Ein Teil des Urbankrankenhauses, der alte Teil, ist in Eigentumswohnungen umgewandelt worden. Sie sind nicht billig, aber auch nicht superteuer. Man muss nicht reich sein, um dort einzuziehen, aber man muss ein paar Ersparnisse haben und einen Job der mittleren Gehaltsklasse. Auch das wurde im Vorfeld als weiterer Schritt der Gentrifizierung angeprangert, so, als sei jeder Mensch potenziell gefährlich für den Kiez, der nicht von Hartz IV lebt. Man mag Leute nicht, die anders sind als man selbst. Bei den einen sind es Ausländer, bei den anderen sind es die strebsamen Frühaufsteher mit den guten Jobs. Hinter den Anti-Gentrifizierungs-Parolen steckt zu einem Teil gewöhnliche, dumpfe Fremdenfeindlichkeit, am deutlichsten wird das bei den Anti-Schwaben-Parolen.

Die neuen Bewohner werden für bessere Umsätze in den kleinen Läden und den Kneipen der Umgebung sorgen. Weitere Läden werden entstehen und damit auch Arbeitsplätze. Das Angebot wird sich erweitern. Der Brunnen in der Grimmstraße, der aus Spargründen in manchen Jahren ausgeschaltet bleibt, wird wieder in jedem Sommer sprudeln, privat finanziert, und vielleicht wird sogar der Müll auf den Straßen weniger, und die bescheuerten Tags auf den Häuserfassaden werden regelmäßig entfernt. Es fällt mir schwer, das total schlecht zu finden. Ich bin gespalten, einerseits denke ich, dass mein Viertel gerade seine Seele verliert, auf der anderen Seite wird, wie in Goethes „Faust“, für den Verkauf der Seele ein hübscher Preis geboten. Der Sinn fürs Schöne und auch die Umgangsformen entwickeln sich, nach meiner Beobachtung, bei steigendem Durchschnittseinkommen in eine eher positive Richtung.

Wer sich mit der Theorie der Gentrifizierung beschäftigt, stellt fest, dass dieser Prozess fast immer dann beginnt, wenn zwei Bevölkerungsgruppen einen Kiez für sich entdecken: Studenten und Künstler. Das sind die Pioniere, immer. Das heißt, die effektivste Maßnahme gegen Gentrifizierung heißt: Verhängung eines sofortigen Zuzugs-Stopps für Studenten und Künstler. Dies nur als Tipp, den Wedding betreffend. Das wirkungsvollste Anti-Gentrifizierungsprogramm aber hat bekanntlich die DDR durchgesetzt. Alle Wohnungen waren billig. Die Städte verfielen. Verfall kann romantisch sein, bis eines Tages das Haus zusammenbricht, dann ist es vorbei mit der Romantik.

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