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Berlin von oben: Und nun zu den Aussichten

Spektakuläre Architektur, neue Parks, wenig Baulücken. Berlin ist kaum wiederzuerkennen. Oder? Zeit für einen Blick von oben.

Wie nah ist fern und wie fern nah? Wer sich vom S-Bahnhof Westkreuz zum Funkturm durchschlagen will, bekommt ein Gefühl für die Relativität der Dimensionen. Erhaben ragt die stählerne Fachwerkkonstruktion in den Himmel und schielt nach den Schäfchenwolken, die wie zum Pieksen nah wirken. Für den Spaziergänger aber scheint der gerade 400 Meter weit entfernte Turm eine kleine Ewigkeit weit weg zu sein. Wie nur bahnt man sich einen Weg durch das Dickicht von Messehalle, Avus und ICC? Kein Hinweis nirgends.

Berlin hat sich verändert. So sehr, dass Menschen, die nach 20 Jahren wieder einmal vorbeischauen, ihre Stadt nicht mehr wiederzuerkennen glauben. Alles so neu und bunt und groß und hoch! Im Osten wie im Westen. Eine neue Stadt mit neuer Skyline, und wo könnte man sie besser erkennen als aus der Luft? Deshalb der Besuch auf dem Funkturm, dem alten und neuerdings so gut versteckten Wahrzeichen Berlins.

Erst mal Richtung Palais am Funkturm, kann nicht verkehrt sein. Da, endlich ein Schild, es weist auf einen grauen Zweckbau. Hinter der Tür warten zwei Männer vom Sicherheitsdienst.

„Na, wo wollnse denn hin?“

„Zum Funkturm.“

„Immer der Nase lang!“

Es handelt sich offenbar um eine sehr krumme Nase, was im konkreten Fall ein paar Kurven, das Umrunden von Baustellen und die Querung eines Hofes mit einschließt. An der Kasse sitzt eine Frau, vertieft in ein Kreuzworträtsel. Der eher übersichtliche Besuch lohnt offenbar nicht die Einstellung eines Fahrstuhlführers. 50 Meter weiter oben warten zwei Kellner und debattieren angeregt darüber, dass sie womöglich gleich einen dritten Tisch zu bedienen haben.

„Dürfen wir kurz eine Runde drehen?“

„Ja, aber dann müssense auch was verzehren.“

„Ein Kaffee wäre schön.“

„Nichts zu essen? Dann aber bitte nur an die nicht eingedeckten Tische setzen!“

Was den Charme des Servicepersonals angeht, ist Berlin auf dem Funkturm immer noch Berlin. So wie zu Vorwendezeiten, als der Funkturm seiner Rolle als Wahrzeichen nicht nur auf Postkarten gerecht wurde. Ein Besuch auf der 124 Meter hohen Aussichtsplattform gehörte zum touristischen Pflichtprogramm wie ein Kaffee im Kranzler.

Man sieht dem Funkturm kaum an, dass er bald 90 wird. Die filigrane Konstruktion erhebt ihn nicht nur wegen seiner 146 Meter Höhe über die Masse der Hochhäuser des dritten Jahrtausends. Aber nach Gesamtberliner Maßstäben beurteilt, liegt die Replik des Eiffelturms reichlich weit draußen. In Eichkamp, wo die Stadt behutsam vom Grunewald aufgesogen wird und wo eigentlich nie was los war, bis die werdende Weltstadt Berlin in den zwanziger Jahren Funkturm, Avus und Messegelände ins Grüne klotzte. Die Teilung der Stadt hat die Gegend ein bisschen weiter in ein virtuelles Zentrum rutschen lassen. Seit dem Mauerfall aber liegt das Messegelände wieder fernab der Richtung Potsdamer Platz und Friedrichstraße konditionierten Touristen.

Und wie ist der Ausblick?

Was den Ausblick betrifft: viel Grün im Westen, reichlich Stein im Osten. Die dem Senat heilige Traufhöhe von 22 Metern wirkt von hier wie eine unverbindliche Vorgabe von folkloristischem Charakter. Überall an den tief liegenden Wolken kratzen Betonzacken, auch sie stehen für das chaotische, wild wuchernde Berlin, das die Touristen so sehr fasziniert. Und das Hitler als so abstoßend empfand, dass er seinen Leibarchitekten Albert Speer damit beauftragte, die halbe Innenstadt einzureißen und auf ihrem Boden die Welthauptstadt Germania zu errichten. Hat glücklicherweise nicht ganz geklappt.

Schon zur Hälfte des Rundgangs drängt sich der Eindruck auf, dass sich kaum etwas geändert hat am Weichbild der sich ständig verändernden Stadt Berlin. Selbst das riesige Hochhaus mit dem verniedlichenden Namen Zoofenster wirkt aus der Distanz winzig. Unbedeutend für das Gesamtbild. Ein gutes Stück weiter links erahnt man den Flughafen Tegel. Da lohnt jeder Blick, denn Tegel macht am 2. Juni dicht. Dann wird es auch mit den sanft an der Peripherie entlang schwebenden Flugzeugen und ihren in den Himmel gemalten Kondensstreifen vorbei sein. Über das Stadtzentrum verirrt sich schon seit der Schließung von Tempelhof vor vier Jahren kein Pilot mehr.

Es sind immer noch die alten Bauwerke, die dem Auge Orientierung bieten. Die auffälligste Erscheinung ist die ehemalige US-Abhörstation, die seit Jahren auf dem Teufelsberg verrottet. Mitten im Grunewald, der als riesiger grüner Teppich die Topografie westlich des Funkturms bestimmt. „Ist das wirklich noch Berlin?“, fragt eine Besucherin mit bayerischem Akzent. Die Frau sagt, Wälder habe sie zu Hause eigentlich genug, dafür müsse sie in Berlin nicht auf einen Turm klettern, und überhaupt: „Ich dachte immer, dieser Fernsehturm liegt irgendwo im Osten!“

Kleines Missverständnis, symbolisch für die Verschiebung von Bedeutungen und Wichtigkeiten. Als exponierter Aussichtspunkt der vereinigten Stadt gilt eben nicht der Funkturm, sondern der gut 40 Jahre später im Osten errichtete Fernsehturm. Hier 600 Tonnen Stahl, dort 26 000 Tonnen Beton. Der Fernsehturm ist mehr als doppelt so hoch (368 Meter) wie der Funkturm und liegt mitten im alten Zentrum, direkt am S-Bahnhof Alexanderplatz, in unmittelbarer Nachbarschaft von Marienkirche und Rotem Rathaus. Perfekt zu erreichen mit U- und S-Bahn, unverzichtbarer Zwischenstopp auf jeder Stadtrundfahrt.

Welcher Reisebus aber verirrt sich heute noch zum Messegelände?

Mit der S-Bahn sind es zwanzig Minuten von Funk- zu Fernsehturm. Auch hier wird gebaut, seit gut vier Monaten schon. Modernisierungsarbeiten für gut eine Million Euro. Bis Ostern soll alles fertig sein, und wenn nicht – das Publikum kommt auch so. Die Besucherschlange reicht schon mittags bis weit vor den Eingangspavillon. Deutschlands höchstes Bauwerk zählt jedes Jahr gut eine Million Besucher.

Zwei Fahrstühle fahren parallel zur Kugel in der Mitte des Turms, wo Bar und Restaurant auf Kundschaft warten. An guten Tagen schweift der Blick vom Fernsehturm bis zu den Müggelbergen, aber solche Tage sind rar. Kann schon mal passieren, dass bei wolkenfreiem und blauem Himmel gerade noch die Treptowers hinter der Oberbaumbrücke durch einen schwer zu definierenden Dunstschleier zu erkennen sind. Die Berliner Luft ist auch nicht mehr, was sie mal war, wenn sie es denn jemals war.

Aus 200 Meter Höhe betrachtet gleichen sich die Formen an.

„Guck mal, da hinten ist Köpenick“, sagt ein Mann zu seiner Begleiterin. Und zeigt Richtung Grunewald. Kann schon mal passieren, aus 200 Meter Höhe betrachtet gleichen sich die Formen an. Mit ein bisschen Fantasie könnte der exakt im preußischen Rechteck gehaltene Tiergarten auch als Miniatur des genauso symmetrischen New Yorker Central Parks durchgehen.

Zur besseren Orientierung ist der Panorama-Rundgang im Zuge der Renovierungsarbeiten mit einem durchlaufenden Band von erklärenden Tafeln ausgestattet worden. Der Blick von oben stimmt gnädig, selbst gegenüber Bauwerken, die in der allgemeinen Betrachtung nicht gut weggekommen sind. So ist das in Schweinchenrosa gehaltene Einkaufszentrum Alexa keineswegs „ein Monstrum“ (Hans Kollhoff) auch nicht „Berlins Graus-Haus“ („Spiegel“) oder „hässlich wie die Nacht“ („Welt“). Sondern „eine moderne Interpretation der unbeschwerten Architektur des Alexanderplatz, unterstützt durch Art-Deco-Elemente der 1920-er Jahre“. So verkündet es die Tafel vor dem Panoramafenster. Eine Dame in den Sechzigern liest den Text laut vor, die anderen aus ihrer Reisegruppe nicken, und so wird es später auch nach Hause transportiert, in den Schwarzwald, die Lüneburger Heide, ins Erzgebirge.

Die Gnade der distanzierten Harmlosigkeit umhüllt auch anderes umstritten Neues. Zum Beispiel die von Gentrifizierungsgegnern als Symbol des Großkapitals verachtete Großarena am Ostbahnhof, sie wirkt aus der Luft betrachtet wie eine größere Sparkassenfiliale. Das von der Architekturkritik als „bauästhetisches Desaster“ („FAS“) gegeißelte Hochhaus auf dem Spreedreieck versteckt sich im Schatten des Bahnhofs Friedrichstraße.

Auch im Osten ist es nach wie vor die Architektur aus der Vorwendezeit, die das Bild der Stadt bestimmt. Das Internationale Handelszentrum an der Friedrichstraße, ein schmuckloser Solitär aus den späten Siebzigern. Oder die Wohntürme an der Leipziger Straße. Ein städtebauliches Verbrechen aus den sechziger Jahren, als die DDR-Regierung dem Springer-Hochhaus auf der anderen Seite der Mauer eine Kakofonie aus Beton entgegensetzte. Einen Höhepunkt fand diese Materialschlacht mit dem Bau des Fernsehturms, der als Stadtkrone von der Überlegenheit des Sozialismus kündete.

23 Jahre nach dem Mauerfall kommen immer noch Touristen auf den Turm mit der Erwartung, sie könnten hier eine kleine DDR besichtigen, mit sächselnden Kellnern, Broilern, Rotkäppchensekt. Nichts da! An der Bar werden internationale Spirituosen ausgeschenkt, das Personal empfängt auch einheimische Besucher gern im berlinisch gefärbten Englisch. Und auf der Speisekarte darf zwischen sizilianischen Linguini und Zürcher Apfeltorte natürlich das unvermeidliche Ragout fin nicht fehlen.

Das Essen? Ja gut, wer im Restaurant des Fernsehturms einen Tisch bucht, der hat dabei weniger das Essen im Sinn als den sich drehenden Außenring, er lässt die Gäste an ihren Tischen in einer Stunde einmal rund um die Kugel kreiseln und ermöglicht ihnen so einen Blick in alle Himmelsrichtungen. Knapp die Hälfte des Rundkurses führt vorbei an architektonischen Exponaten aus dem alten West-Berlin. Reichstag, Kongresshalle, Europacenter, Flughafen Tempelhof, und natürlich auch der Funkturm.

Wie ist eigentlich den Besuchern zu DDR-Zeiten die Existenz dieser auf Ost-Berliner Stadtplänen überhaupt nicht existierenden Halbstadt erklärt worden? „Dit ist eher so am Rande erwähnt worden“, sagt der Fahrstuhlführer auf dem Weg nach unten. „Da hamse mehr übern Osten jeredet. War ja ooch janz schön!“

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