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Der Prozessauftakt im fall Jonny K. im Moabiter Kriminalgericht.

© Reuters

Prozessbeginn im Fall Jonny K.: Die Leere in den Augen der Angeklagten

Es war so eine typische Berliner Partynacht. Laut, alkoholgeschwängert, aggressiv. Auf dem Alexanderplatz prallten sie aufeinander. Wie Jonny K. starb? Das erzählt jeder etwas anders.

Es ist eine seltsame Begegnung, zu der es da um kurz vor zwölf vor dem Kriminalgericht Moabit kommt. Links stehen Polizisten, rechts um die 50 Frauen, Männer und Jugendliche. Aus den Gesprächen ist zu erkennen, dass es sich um Bekannte und Verwandte der Angeklagten handelt, sie haben seit den frühen Morgenstunden an der Turmstraße angestanden, um dabei zu sein bei diesem Prozess. Jetzt ist Mittagspause. Vorn steht eine junge Frau ganz in Schwarz, sie zieht an ihrer Zigarette und tippt Nachrichten in ihr Mobiltelefon. Man muss schon ganz genau hinschauen um zu erkennen, dass sie nicht zu den anderen gehört.

Die Frau in Schwarz ist Tina K.

Es ist ihr Bruder, um den es bei diesem Prozess geht, auf den das ganze Land zu schauen scheint. Jonny K. ist tot. Gestorben in Folge jener Verletzungen, die er in der Nacht zum 14. Oktober 2012 auf dem Alexanderplatz erlitten hat. Auf der Anklagebank sitzen sechs junge Männer, deren Angehörige nun Rücken an Rücken mit Tina K. bei einer Zigarette warten, dass es weitergeht. Beide Seiten ignorieren sich, so gut es geht. Zwei Welten, die nicht zueinander finden, obwohl sie doch so nah beieinander liegen.

Es sind ganz normale Jungs

„Das Erschreckende ist, dass es ganz normale Jungs sind“, sagt Tina K. nach der ersten Begegnung mit den Männern, die mutmaßlich für den Tod ihres Bruders verantwortlich sind. „Du könntest ihnen im Bus begegnen oder bei McDonald’s an der Kasse.“ Es ist die Tragik des Johnny K., dass er ihnen auf dem Alexanderplatz begegnet ist.

Der Prozessbeginn ist für neun Uhr morgens angesetzt, aber der Andrang vor dem Gerichtsgebäude zeigt schon lange vorher, dass dieser Termin kaum einzuhalten ist. Ein Mann hat sich vor dem Haupteingang aufgebaut. Er schaukelt einen Kinderwagen mit der linken Hand und hält in der rechten ein Schild mit der Aufschrift: „Migrationsbonus für Mörder oder Gerechtigkeit für Jonny K?“

Migrationsbonus. Ein böses, ein vorverurteilendes Wort. Die Öffentlichkeit, so scheint es, hat ihr Urteil längst gefällt. Über die Nacht, in der Jonny K. sein Leben ließ, weil er sich schützend vor seinen Freund gestellt hatte. Drei der Angeklagten haben die griechische Staatsbürgerschaft, drei sind Türken, einer hat dazu einen deutschen Pass. Das ist Onur U., Neffe eines berühmten Boxers, er hat sich nach der Tat in die Türkei abgesetzt und ist erst vor fünf Wochen zurückgekehrt. Das Volk weiß: Er ist der Haupttäter und nur zurückgekommen, weil die Haftbedingungen in der Türkei noch sehr viel härter sind als in Deutschland.

Migrationsbonus für Mörder?

Richter Helmut Schweckendieck, ein resoluter und doch verständnisvoller Mann, sagt in seinen einleitenden Worten: „Das Urteil wird hier im Saal gefällt und nicht in den Medien.“ Mit ihm werde es keine Vorverurteilung geben und „heute erst habe ich im Radio Sachen gehört, die sich nicht mit dem decken, was die Staatsanwaltschaft vortragen wird“.

Mitten in Berlin, am belebten Alex, droht ein tödlicher Alltag

Was ist geschehen in jener Oktobernacht?

Ein junger Mann ist tot, seine Familie und Freunde trauern, eine Stadt ist entsetzt. Ja, natürlich, auch über den Tod von Jonny K. Aber ebenso schwer wiegt der Schock, den die Beliebigkeit der Tat ausgelöst hat. Der Zufall, der Täter und Opfer zusammengeführt hat. Die Erkenntnis, dass es jeden treffen kann, an jedem Ort. Mitten in Berlin, am belebten Alexanderplatz. Ein Land verspürt Angst vor einem tödlichen Alltag, wie es ihn nicht zu kennen glaubte, nicht zu kennen hoffte.

Tina K. hat es sich seit dem Tod ihres Bruders zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Es war ihr Lebensgefährte Gerhardt C., genannt Kaze, vor den sich Jonny K. damals schützend stellte. Tina K. ist gekommen, um den Angeklagten in die Augen zu schauen.

Verhandelt wird in Saal 500, es ist einer der beiden größten im Kriminalgericht. Fünf der sechs Angeklagten werden über verschlungene Gänge aus der Untersuchungshaft vorgeführt. Milchgesichter in dezenter Kleidung, alle haben sie zur Tatzeit bei ihren Eltern gewohnt. Als die Fotografen hereinstürmen, sitzt Onur U. schon auf der Anklagebank, gesichert von einer Panzerglasscheibe. Eine Boulevardzeitung nennt ihn den „Tottreter“. Hinten im Saal drängen sich die Zuschauer. Alte Männer und Frauen, aber auch Jugendliche, mal mit verzweifelten, mal mit nachdenklichen Blicken. Im Saal steht die Frage: Was wäre passiert, wenn ich dabei gewesen wäre? Ein paar rufen: Bilal! Hüseyin! Andere winken. Keiner ruft zurück. Keiner winkt zurück.

Alle Angeklagten wollen aussagen

Der Staatsanwalt verliest die Anklage, und weil es wegen der zeitlich auseinander liegenden Festnahmen offiziell drei Verfahren gibt, muss er auch gleich dreimal vorlesen. Tina K. sitzt als Nebenklägerin in der Mitte des Saals, hinter ihr die Anwälte. Ganz außen, links und rechts, die Angeklagten. Richter Schweckendieck sagt, diese gläsernen Käfige gefielen ihm überhaupt nicht, „ich kann Sie gar nicht richtig sehen“. Also bittet er die Angeklagten neben ihre Anwälte, während diese die Einlassungen ihrer Mandanten verlesen. Und, das ist durchaus eine Überraschung: Alle wollen sich zur Sache äußern. Es gibt keine Befangenheitsanträge, nichts zur Geschäftsordnung, niemand beruft sich auf sein Aussageverweigerungsrecht. Auch nicht Onur U., 19, ein untersetzter Bursche in Jeans und schwarzem Hemd.

In seiner Geschichte spielen neben den sechs Angeklagten, neben Jonny K. und Gerhardt C., auch Jägermeister, Jim Beam und Wodka gewichtige Rollen. Onur U.s Anwalt liest vor, die Gruppe habe sich eher zufällig zusammengefunden auf der Aftershow-Party eines türkischen Sängers. „Ich kannte nur Hüseyin und Melih und die auch nur flüchtig. Die anderen hatte ich vorher nie gesehen.“ Alle zusammen feiern sie im Cancun, einem Club am Alexanderplatz. Gegen drei Uhr habe er eine SMS von seinem Vater bekommen: „Wann kommst du nach Hause? Du weißt doch, dass ich vorher nicht einschlafen kann.“

Den Zuschauern fällt es schwer, den Aussagen zu lauschen

Hinten im Gerichtssaal hebt leises Getuschel an. Junge Männer übersetzten für ältere Frauen. Eine schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen. Es fällt ihnen schwer, zu hören, was genau passiert ist in dieser Nacht. Aber weghören können und wollen sie auch nicht.

Melih Y. habe vorgeschlagen, in einer größeren Gruppe mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. Der Abmarsch verzögert sich, und wie sie dann an der frischen Luft stehen, „da kommt so ein Dunkelhäutiger, aber nicht ganz schwarz, also ein bisschen heller, und der trägt einen anderen auf dem Rücken, der muss ganz schön betrunken gewesen sein“.

Ein Dunkelhäutiger – das ist Jonny K.s Freund Gerhardt C., der Lebensgefährte von Tina K. Sie fährt sich mit ihrem Halstuch über die Augen, sie hört dem Anwalt zu und lässt doch Onur U. keine Sekunde aus den Augen. Der senkt den Blick und starrt auf einen Stoß von Papieren, der vor ihm und dem Anwalt liegt.

Der Anwalt liest weiter vor. Dass sein Mandant gesehen habe, wie Gerhardt C. den Betrunkenen auf einem Plastikstuhl abgesetzt, sich dafür aber zunächst nicht weiter interessiert habe. Ein paar aus der Gruppe hätten genörgelt: „Drecksclub, nur Typen, gar keine Mädchen!“ Onur U. habe entgegnet, er wisse da von einer Party. Pause. „Und dann ist etwas total Bescheuertes passiert!“

Es ist der Moment, an dem sich alles entscheidet.

Bei der Aussage von Onur U. herrscht Stille im Saal

Onur U. ist nach eigenen Angaben schon schwer betrunken, aber es habe noch dazu gereicht, den anderen vorzumachen, was sie auf der Party erwarte: „Lauter deutsche Mädchen, und wisst ihr wie die euch antanzen?“ Er habe paar Schritte zu dem Plastikstuhl mit dem Betrunkenen gemacht und dann zu kreischen und zu singen begonnen, immer um den Stuhl herum, „ich habe auch kurz daran gerüttelt, aber ihn nicht umgestoßen“. Und: „Dann ist der Dunkelhäutige gekommen, der dachte, ich mache seinen Freund an. Er hat gesagt: Verpiss dich! Danach hat er mich geschubst, mit beiden Armen.“ Beide seien zu Boden gestürzt, „Hüseyin ist dazu gekommen, aber ich hab gesagt: Das ist meine Sache.“ Dann schlägt er dem anderen die Fäuste ins Gesicht. Rechts und links, immer wieder, „es waren bestimmt zehn, zwölf Schläge“.

Stille in Saal 500. Tina K. weiß, es geht nicht um ihren Bruder. Sondern um Gerhardt C., ihren Freund, der da verprügelt wird. Rechts und links und immer wieder. Zehn, zwölf Schläge. Und dass Jonny gleich dazwischen gehen wird.

Aber die Geschichte nimmt einen anderen Verlauf. Einer aus der Gruppe habe gerufen: „Onur, es reicht!“ Alle zusammen seien Richtung U-Bahn aufgebrochen. Erst jetzt, sagt Onur U., „habe ich gesehen, dass einer auf dem Boden liegt. Nicht der Dunkelhäutige. Sondern einer, den hab’ ich vorher noch nie gesehen“.

Nur einer findet den Mut, sich bei Tina K. zu entschuldigen

Es ist Jonny K., und das letzte, was Onur U. von ihm mitbekommt, ist „dass er nicht mehr aufstehen wollte“. Und: „Ich sage es ganz deutlich: Ich habe mit dem Tod von Jonny nichts zu tun. Ich habe allein mit Gerhardt C. gekämpft und nicht bemerkt, dass da ein anderer lag.“

Die sechs steigen in die U-Bahn Richtung Wedding und schließen sich am nächsten Tag am Telefon kurz. Onur U., der vermeintliche Tottreter, will den anderen gesagt haben: „Ihr wisst doch, ich habe nur mit dem Dunklen gekämpft!“ Melih Y. habe entgegnet: „Stimmt, aber wir haben dir geholfen. Sonst hättest du vielleicht am Boden gelegen.“

Tina K. wird im Prozess von Roland Weber vertreten, er hat sie darauf vorbereitet, „dass einer die Schuld auf den anderen schieben wird“. So ungefähr geht es weiter. Bilal K. sagt, er habe Jonny K. höchstens in die Beine getreten. Melih Y. kann sich nicht genau erinnern, die anderen drei wollen Fußtritte von Bilal K. gegen den am Boden liegenden Jonny K. gesehen haben. Mehmet E., einer der „drei Griechen“, findet als einziger den Mut, vor Tina K.s Tisch zu treten, er nuschelt etwas von „Verzeihung“ und dann ist er auch schon weg. Was sie in den Augen der Angeklagten gesehen habe? „Leere“, sagt Tina K., „absolute Leere.“

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