zum Hauptinhalt
Sarrazin

© ullstein bild

Porträt: Sarrazins Ritt auf dem wilden Gaul

Er umgarnt und erschreckt, er analysiert und provoziert. Und geht davon aus, dass die anderen in der Regel falsch liegen. Senator Thilo Sarrazin hat es damit geschafft, die Finanzkatastrophe Berlin zu sanieren. Jetzt geht er zur Bundesbank.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Etwas verloren stand er in der Lobby, dunkler Anzug, Schnurrbart, Brille, neben sich Ehefrau Ursula. Am späten Nachmittag des 17. Januar 2002 hatte das Berliner Abgeordnetenhaus den Überraschungskandidaten Thilo Sarrazin zum Finanzsenator gewählt. Das Gemurre der SPD-Frauen, die das wichtige Amt weiblich besetzt haben wollten, kommentierte er nicht. Aber Sarrazin ahnte, was ihm bevorstand: "Die Konsolidierung der Berliner Finanzen, das ist wie der Ritt auf einem wildem Gaul."

Der promovierte Volkswirt hielt sich sieben Jahre im Sattel. Nur im September 2004, als die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Sarrazin Anklage wegen Untreue erhob, hätte es ihn fast erwischt. Weil er eine staatliche Finanzspritze genehmigte, um den überdimensionierten Kreuzberger Kulturbau Tempodrom vor der Pleite zu retten. Aber das Landgericht ließ das Hauptverfahren nicht zu. Bei einem Prozess hätte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit den Senator nicht halten können. Die Opposition forderte damals lautstark den Rücktritt.

Und im Juni 2008 hätte der sozialdemokratische Regierungschef "den Thilo" am liebsten selbst vor die Tür gesetzt. Als der sich über die Forderung der Bundes-SPD nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro mokierte und sagte: "Für fünf Euro pro Stunde würde ich jederzeit arbeiten gehen", rief Wowereit wütend an und zeigte ihm, wie Sarrazin später verriet, die dunkelgelbe Karte. Der Finanzsenator musste sich öffentlich entschuldigen. Das sei eine "dämliche Äußerung" gewesen, die Neigung zu spontanen Äußerungen sei wohl ein Grundfehler von ihm. Niemand gelte gern als Dummschwätzer. "Ich auch nicht."

Ein neuer Job als Geburtstagsgeschenk

So viel Selbstkritik, das war sensationell, aber ausreichend fürs politische Überleben. Ein Rauswurf aus dem Kabinett hätte Sarrazin auch jenen Job gekostet, den er seit über einem Jahr in aller Stille anstrebt: einen Vorstandsposten bei der Bundesbank. Am Dienstag wollen die Landesregierungen in Berlin und Potsdam Sarrazin als gemeinsamen Kandidaten vorschlagen. Eine Art Geburtstagsgeschenk. Am vergangenen Donnerstag ist der Senator 64 Jahre alt geworden. Fast schon zu alt für ein Amt, das auf mindestens fünf Jahre angelegt ist. Aber wenn sich am Donnerstag der Finanzausschuss des Bundesrats mit der Personalie befasst, sind die letzten Hindernisse gegen Sarrazin längst aus dem Weg geräumt.

Den Schutt abräumen - das ist eine Metapher, die auch der Finanzsenator zunächst gern nutzte, um seine Arbeit zu erklären. Am jenem Donnerstag, als er ins Amt kam, fehlten der Hauptstadt für einen ausgeglichenen Etat 5,2 Milliarden Euro in der Kasse. Eine Zahl, die sich der sinnlichen Erfahrung entzieht, so wie auch jene 21,3 Milliarden Euro für eine staatliche Bürgschaft, mit der Berlin die skandalösen Immobiliengeschäfte seiner Bankgesellschaft abschirmen musste. Es war nicht das einzige Landesunternehmen, das tief im Sumpf steckte. Wohnungsunternehmen und Verkehrsbetriebe, Stadtreinigung und Krankenhäuser, Messe und Flughafengesellschaft schrieben allesamt rote Zahlen.

"Abartige" Berliner Mentalität

Nicht zu vergessen der soziale Wohnungsbau à la Berlin, dessen öffentliche Förderung jedes Jahr über eine Milliarde Euro verschlang, weil jede Wohnung über 30 Jahre großzügig subventioniert wurde. Und die aufgeblähte Verwaltung, ein Relikt der DDR-Hauptstadtbürokratie und des eingemauerten West-Berlins, in dem nach 1961 der Senat wichtigster Arbeitgeber wurde. Berlin mit seiner unvergleichbaren Historie, seine Politiker und Bewohner empfanden sich zehn Jahre nach dem Mauerfall immer noch als etwas Besonderes. Als ein seltenes Gewächs, das besonderer Pflege bedurfte. Der Rest der Republik sah das anders.

Sarrazin auch. In Gera kurz vor Kriegsende geboren, im nördlichen Westfalen aufgewachsen, in Bonn promoviert, 1977 zum Internationalen Währungsfonds nach Washington abgeordnet, dann Staatssekretär in Rheinland-Pfalz, bevor er zur Treuhand und zur Bahn ging. Der kühle Ökonom wollte sich nicht in die alte Berliner Mentalität einfühlen, die er als "abartig" empfand. "Die Wirklichkeit der Stadt erfordert Radikalität bei politischen Innovationen", schrieb er schon 1999 in einem Thesenpapier.

Völlig neu war diese Erkenntnis nicht. Aber neu waren die Unbeirrbarkeit und die trickreichen Methoden, mit denen Sarrazin ans Werk ging - und immer noch geht, denn bis Ostern ist er noch im Amt. Er umgarnt und erschreckt, er analysiert und provoziert. Und er geht davon aus, dass in der Regel die anderen falsch liegen. Das hat auch Bahnchef Hartmut Mehdorn erfahren. Als sein leitender Mitarbeiter Sarrazin, bis 2001 Vorstand der Netz AG, zur Überzeugung kam, dass die Bahn staatliche Mittel in Milliardenhöhe nicht fristgerecht verbaute, kam es zum Krach. Sarrazin konspirierte, hinter Mehdorns Rücken, mit dem damaligen Bundesbauminister Kurt Bodewig. Wenig später verließ er das Bundesunternehmen. Sarrazin könnte, sagen Fachleute, auch neuer Bahnchef werden. Wäre da nicht die Deutsche Bundesbank.

"Hier riecht's nach Beamten."

Auch die Berliner Finanzbehörde weiß ein Lied von der Unfehlbarkeit ihres Chefs zu singen. Kolportiert wird der Spruch, mit dem der Senator einen Mitarbeiter bedachte, der ihm eine schlechte Aktenvorlage präsentierte: "Hier riecht's nach Beamten." Auch Parlamentarier bekommen ihr Fett weg. So der CDU-Fraktionsgeschäftsführer Uwe Goetze, der beharrlich versuchte, dem Senator im Haushaltsausschuss falsche Zahlen nachzuweisen. Mit wenig Erfolg, und kürzlich platzte Sarrazin der Kragen. "Herr Goetze, Sie kennen doch sicher die Geschichte mit der Eiche." Wie, mit der Eiche? "Na, die Geschichte mit der Eiche und den Schweinen …"

Für solche Sprüche, immer bildhaft und manchmal böse, war der Mann von Anfang an gut. Im ersten Jahr als Finanzsenator lud er Journalisten ins Restaurant Podewil ein und erklärte ihnen das Geheimnis politischer Meinungsbildung: "Wenn Kühe auf die richtige Weide sollen, müssen Sie nur die richtigen Gatter öffnen, und die Rindviecher glauben, sie hätten den Weg dank eigener Entscheidungskraft gefunden." Seitdem hat Sarrazin viele Gatter geöffnet, wenn auch nicht alle hinter ihm herspazierten. Gewerkschaften, Lehrer und Sozialverbände haben größte Schwierigkeiten, dem Sparkommissar zu folgen. Sie mögen keinen Sozialdemokraten, der sich über Busfahrer-Streiks lustig macht. Der Hartz-IV-Empfängern vorrechnet, dass die Sozialleistungen, die sie erhalten, für eine normale Lebensführung völlig ausreichend seien. Durch eigene, sparsame Einkäufe im Urlaub an der Ostsee fühlt sich Sarrazin aber bestätigt.

Mit 28 Jahren war er promoviert

Schon der frühere SPD-Landeschef Peter Strieder war der festen Überzeugung, dass der Genosse Sarrazin politisch instinktlos sei. Auch der heutige SPD-Landes- und Fraktionschef Michael Müller klebte an der Decke, wenn er den neuesten Sarrazin in der Zeitung las. Und ein linker Genosse schimpft: Mit seiner bürgerlichen Dünkelhaftigkeit, dem scheelen Blick auf kleine Leute, passe Sarrazin nicht in die Partei. Demnächst ist er Banker. Ein Sprössling aus gutem Hause, selbst Vater von zwei erwachsenen Söhnen, die Ehefrau ist Lehrerin. Wohnhaft im feinen Berlin-Westend, Haus mit Garten und gut sortierter Bibliothek. Am altsprachlichen Gymnasium Petrinum in Recklinghausen machte Sarrazin das Abitur. Dort schickten die Besserverdienenden ihre Söhne hin. Mit 28 Jahren war er promoviert, magna cum laude.

Ausgerechnet der linke SPD-Programmatiker Peter von Oertzen konnte ihn beflügeln, 1973 in die SPD einzutreten. "Denn keine andere Partei wagte es damals, so weit in die Zukunft zu schauen", sagt Sarrazin. Er selbst fertigt gern finanzpolitische Analysen an, die bis 2020 reichen. Bei der Bundesbank wird er für so etwas noch mehr Zeit haben. Er sei ein "meinungsfreudiger Ökonom", hat Sarrazins Büroleiter mit leiser Ironie bemerkt. Hoch intelligent, sehr belesen, auch in angloamerikanischer Literatur, ein gnadenloser Analytiker, beseelt von einem tiefschwarzen Humor. Auf keiner Veranstaltung, in keiner Senatssitzung, die sich mit Finanzdaten befasste, durfte der Overheadprojektor fehlen. Dann warf Sarrazin Grafiken und Tabellen an die Wand, um Finanzierungssalden und Nachhaltigkeitslücken, Schuldenstände und Benchmarks zu zeigen. Nur im April 2006, beim Bundesverfassungsgericht, durfte er seine Folien nicht auspacken. "Das Einzige, was wir bisher zugelassen haben, war ein Video über die Käfighaltung von Hühnern", belehrte ihn der Gerichtspräsident Winfried Hassemer.

Sarrazins Waterloo

An Karlsruhe denkt der Finanzsenator sowieso nicht gern zurück. Es war sein Waterloo, als das höchste deutsche Gericht im Herbst 2006 die Klage Berlins auf eine Haushaltsnotlage und damit verbundene Schuldenhilfen abwies. "Wir sind von heute an auf uns selbst gestellt", sprach Sarrazin damals mit dünner Stimme in die Mikrofone. Drei Jahre zuvor hatte er die Verfassungsklage damit begründet, dass Berlin ohne Milliardenhilfe des Bundes eine unbeherrschbare Schuldenspirale drohe. Trotz Giftlisten, trotz eines harten Sparprogramms, mit dem sich ausgerechnet eine rot-rote Regierung mit der gesamten Stadt anlegte.

Zieht man jetzt Bilanz, steht unter dem Strich eine 0,4. Um diesen Prozentsatz sind die öffentlichen Ausgaben Berlins seit 2004 im Jahresdurchschnitt gestiegen. In den anderen Ländern und Gemeinden waren es 1,5 Prozent, im Bund drei Prozent. Sarrazin ließ es sich nicht nehmen, diesen Zahlenvergleich vor wenigen Wochen dem Bundesfinanzminister Peer Steinbrück zukommen zu lassen, eine Antwort steht aus. Zwei Jahre, 2007/08, hat der Berliner Haushalt dank einer boomenden Wirtschaft sogar Überschüsse produziert. Jetzt, in der Krise, muss die Stadt wieder Schulden machen. Aber: "Die Strukturen sind jetzt in Ordnung", sagt der Finanzsenator.

Nicht alles ist Gold, was glänzt

Allein beim öffentlichen Personal wurden seit 2002 eine Milliarde Euro eingespart. Die Kosten der Wohnungsbauförderung schrumpfen in ähnlichen Dimensionen, die Landesunternehmen fahren inzwischen Gewinne in dreistelliger Millionenhöhe ein. Die Bankgesellschaft wurde saniert und verkauft, für deren Risikoimmobilien, die seit Januar im Paket angeboten werden, interessiert sich ein Dutzend großer Privatinvestoren. Die öffentliche Verwaltung hält endlich Vergleiche mit Hamburg aus, ohne dass man sich schämen muss. Nicht alles ist Gold, was glänzt. Aber Sarrazin weist darauf hin, dass sein Vorbild Jean-Baptiste Colbert, der den Sonnenkönig Ludwig XIV. vor dem finanziellen Ruin rettete, auch nicht alles verhindern konnte. Zum Beispiel nicht das sündhaft teure Versaille.

Die Eckdaten für den Berliner Doppelhaushalt 2010/11 wird der selbsternannte Colbert II. seinem Nachfolger noch hinterlassen. Im März will der Senat das Zahlenwerk, das bis zum Ende der Wahlperiode reicht, beschließen. Ach ja, der Nachfolger. Quer durch die Republik sucht der Regierungschef Wowereit seit Wochen nach Kandidaten. Einer, dem die Schuhgröße passt, der aber sozialer tickt - und über die Wahl 2011 hinaus zur Verfügung steht, sollte die SPD am Ruder bleiben. In engerer Wahl ist der Chef der Bremer Staatskanzlei, Hubert Schulte, der in Berlin bis 2005 Finanz-Staatssekretär war und den auch der Hamburger Ex-Spitzenkandidat Michael Naumann zum Finanzsenator gemacht hätte. Aber jetzt heißt es, Wowereit sei noch mit anderen, sehr interessanten Leuten im Gespräch, und am Dienstag, wenn der Wechsel Sarrazins zur Bundesbank zum 1. Mai angekündigt wird, könne wahrscheinlich noch kein Nachfolger präsentiert werden.

Vorträge, aber keine Interviews

Sarrazin selbst hält sich in diesen Tagen vornehm zurück. Er macht seine Arbeit und ist ein heiß umworbener Vortragsgast. Heute Abend zum Beispiel spricht er für den Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung über ein neues Modell, um Straßen und Schifffahrtswege privat zu finanzieren. Interviews lehnt er derzeit ab, weil er nicht schon den eigenen Nachruf produzieren will. Seiner Familie hat Sarrazin aber schon vor einiger Zeit versprochen: "Eines Tages bin ich nicht mehr im Amt, drei Tage später ist Ruhe."  

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false