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Zwei Jahre Flugfeld Tempelhof: Feldforschung über die Freiheit

Wildnis und Weite mitten in der City - seit zwei Jahren genießt die Stadt das Tempelhofer Grün. Kleine Bilanz einer jungen Liebe. Und am Sonntag wird gefeiert!

Das Gelände war Exerzierfeld in der Kaiserzeit. Die Nazis richteten an ihrem Flughafen ein KZ ein. Rosinenbomberpiloten retteten hier den Berlinern während der Blockade das Leben und Schauspielerin Angelina Jolie hob später beim Berlin-Besuch am Steuer eines einmotorigen Leihflugzeugs ab: Wohl kein Airport hat eine so wechselhafte Geschichte wie der erste Verkehrsflughafen der Welt, eröffnet 1923 und geschlossen am 30. Oktober 2008. Im Mai vor zwei Jahren wurde das ehemalige Flugfeld Tempelhof für den Publikumsverkehr geöffnet, am heutigen Sonntag wird Jubiläum gefeiert. Wir blicken zurück und begeben uns auf Feldforschung.

FRIEDEN IST MÖGLICH
Was waren das für Debatten! Als es mit der Tempelhofer Freiheit losging, drohten die Zaungegner mit Überkletterungs- und Trennschneideraktionen. Zur Eröffnung des davor gut 80 Jahre lang unzugänglichen Geländes kamen rund 100 000 Berliner, Brandenburger und Touristen. Bis zum Nachmittag des 8. Mai 2010 mussten die 2300 Wachleute und Polizisten nur gegen wenige Störer vorgehen, nur abends gab es Rangeleien mit Autonomen.

Aus unserem Archiv: Bilder von der Besetzung 2009:

Sie kletterten über den Zaun und weigerten sich, das Gelände nach Sonnenuntergang ab 21 Uhr zu verlassen. Zeitweise mussten mehrere Drehtür-Eingänge gesperrt werden. Das war es dann aber auch. Heute machen die Wachschützer es in für Berlin untypischer Weise vor, wie man späte Gäste erfolgreich mit einer Mischung aus Humor, Freundlichkeit und Bestimmtheit zum gehen auffordern kann. Manchmal wird jemand im tiefen Gras übersehen, Neu-Berliner sollen hier gezeugt worden sein.

KAPITALES ERBE
Freizeitforscher von der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen wissen, dass andere Metropolen wie New York jetzt Brachen zur Aufwertung der Stadt renaturieren und wachsen lassen. Berlin braucht das nicht, der Stadt ist das denkmalgeschützte Gebäude mit der historischen Freifläche zugefallen. Der Senat will sie aber bald bebauen. Noch nutzen den Nimbus der Historie in Kombination mit dem lebendigen freien Feld viele Unternehmen für Events: ob Modemesse Bread & Butter, Musikmesse Popkomm oder Fashionshows, Festivals, Marathonläufe oder Snowboard-Schanzenspringen, Zirkus und Pyrotechnik, Dreharbeiten für Hollywood- und Werbefilme: Nichts ist unmöglich. Im April 2011 bilanzierte die Berliner Immobilienmanagement GmbH, dass die Vermietung des früheren Flughafengebäudes im Vorjahr erstmals ein Plus erbracht habe: 500 000 Euro Gewinn – acht Millionen Euro Mietumsatz kamen allein bis dahin in die Kasse.

Bildergalerie: Kitelandboarder auf dem Tempelhofer Feld

FREUNDLICHE KOEXISTENZ

Die einen machen Geschäfte, die anderen Feierabend. Wo erlebt man das in Berlin, dass sich völlig fremde Großstädter zulächeln, Unbekannte spontan zur Hochzeitsfeier ins Ex-Alliertenhäuschen einladen oder Fremde sich helfen? Die Weite, der Wind, die Wildnis, die Stille, der Blick auf den freien Horizont lassen viele Besucher tief durchatmen, der Stress fällt ab, das Schritttempo sinkt, die Tempelhofer Freiheit beseelt ihre Nutzer. An den selbst gezimmerten, liebevoll und kreativ geschmückten Hochbeeten der Pioniernutzer kommen Neuköllner aus dem Kiez, studentische Zuzügler, türkische und arabische Berliner über das gemeinsame Hobby miteinander ins Gespräch. Tempelhof ist ein Integrationsmotor. Und als einer Berlinerin die Katze auf Auslauftour im Baumwipfel verschwand, holte ein Securitymann spät abends eine Leiter, damit die Frau die Kosten für die Feuerwehr spart.

Ein Park ohne Vandalismus.

PARK OHNE VANDALISMUS

In anderen, angelegten Parks in der Region wird alles beschmiert und aus der Verankerung gerissen. Auf dem Flughafen malen höchstens Kinder mit Kreide auf den Asphalt. Die Friedhofsmauern – nicht bekrakelt. Die Schilder – unangetastet. Die Kunst-Golfbahn, die Beete, das Feuerwehrtrainingsflugzeug – alles in Ordnung. Die Leute lieben ihr Feld, und sie achten aufeinander, die Wachschützer kennt man. Der Müll wird mitgenommen, in die Container geworfen, und Grün Berlin reinigt den Park. Neulich gab es aber Müll beim Vatertags-Flashmob.

Die Pläne zur Umgestaltung des Feldes zum Park treiben schon seltsame Blüten:

WEITE MACHT ERFINDERISCH

Vielleicht schätzen die Berliner und die Berlin-Besucher das original belassene Flughafengelände so, weil es den Menschen die Freiheit lässt, es sich selbst anzueignen. Nichts ist vorgegeben, jeder kann Natur und Weite so für sich nutzen, wie er es braucht. Am Tempelhofer Damm steuern die Hobbypiloten ihre Helikopter und Rennwagen. Auf der Start- und Landebahn genießen Skater, Radfahrer und Segway-Fahrer das Gefühl, innerlich abzuheben. Griller lassen sich auf den ausgewiesenen Flächen nieder. Dazwischen üben Baseballspieler, Windsurfer auf Skateboards, Hawaii-Tänzerinnen, Trommler, Frisbeewerfer, kicken junge Araberinnen Fußbälle oder feuern beim Public Viewing im Biergarten an. Selbst im Winter üben Berliner im Schnee auf dem Saxophon, sitzen Türkinnen auf dem Schlafsack beim Sonnenuntergang mit Shisha-Wasserpfeife oder fahren Langlaufski. Wintersportort Berlin, das Freigelände machts möglich.

Das Tempelhofer Feld wird heute vielseitig genutzt. Einige Impressionen:

FREIHEIT FÜR GESTALTUNG

In Tempelhof gibt es ja nichts, keinen Spielplatz, kein Schatten, keine Bank, kritisieren manche Familien. Das soll sich ändern, zum Bedauern der einen, zur Freude der anderen. 400 Hektar Fläche, davon 250 draußen, das will der Senat nutzen – Flugfeld-Liebhaber halten dagegen, Berlin solle doch all die leerstehenden Bürogebäude in Wohnungen umwandeln. Der Entwurf des schottischen Büros „GROSS.MAX“ will den Park in Kreisform gestalten. Am Rande sollen Häuser gebaut werden, eine Landesbibliothek ist geplant. Los geht es mit der Kultivierung anlässlich der Internationalen Gartenbauausstellung 2017. Die ersten Bäume werden im Herbst 2013 gepflanzt. Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) sagt, „die Fläche ist ein Glücksfall für die Stadt“, er will die Planungen nochmal genau prüfen. Eine Abgeordnetenhauswahl steht vor 2017 übrigens auch noch an.

Am Sonntag startet der 3. IGA-Lauf ab 10 Uhr am Eingang Columbiadamm (Nachmeldungen ab 8 Uhr). Stadtentwicklungsverwaltung, Grün Berlin und Tempelhof Projekt GmbH informieren beim Bürgerfest von 10 bis 18 Uhr – auch über die „Große Weltausstellung“ von HAU und „raumlaborberlin“ vom 1. bis 24. Juni.

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