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Wolfgang Ettlich porträtiert in seinem neuen Film die Menschen aus Neukölln.

© Thilo Rückeis

Regisseur Wolfgang Ettlich: Neuköllner Nächte sind lang

Er ist hier aufgewachsen, nun kommt er zurück aus München und erkennt seinen Kiez kaum mehr wieder. Wolfgang Ettlich porträtiert nun Leute auf dem immer bunter werdenden Pflaster.

Alles hat seine Zeit, und zehn Uhr vormittags ist eindeutig nicht die Zeit von Neukölln. Die Bäckerei „Aladin Zwei“ in der Sonnenallee hat zwar schon auf, aber die Gestalten hinter der Schaufensterscheibe befinden sich noch im Schlafmodus; alle Bewegungen – Tüte abstellen, Jacke auffummeln, Geld herauskramen – spielen sich in Zeitlupe ab. Bei den meisten Läden sind die graffiti-verzierten Rollläden noch heruntergelassen. Die Kneipe „Freies Neukölln“ hat an einem ihrer letzen Tage ihre Fenster offen stehen, der Geruch von kaltem Rauch dringt ins Freie, in ihrem dunklen Inneren stehen die Stühle auf dem Tisch. Auf der Straße kein Mensch. Neukölln um zehn.

Zu diesem eher undynamischen Eindruck bildet Wolfgang Ettlich einen schönen Kontrast. Der Mann ist schon voll in Action. Gemessenen Schrittes durchquert er den Kiez, die Jacke offen, den grauen Schal locker um den Hals gewunden, wie sich’s für einen Künstler gehört. Gerade hat Ettlich von seinem Elternhaus ein paar Straßen weiter berichtet, hat erzählt, wie er mit seinen Kumpels drüben beim Verein Südstern 08 gekickt hat, den es längst nicht mehr gibt, und jetzt zeigt er auf die Kneipe „Freies Neukölln“ und sagt: „Det is’n super Laden. Aber der Wirt muss raus. Wegen der Jentrifizierung.“

Wolfgang Ettlich kennt sich aus in Neukölln, und das nicht nur, weil er hier geboren wurde, im Jahr 1947, sondern auch, weil er jetzt einen Film gedreht hat darüber, wie sich der Kiez verändert hat. Wenn jemand länger nicht da war, hat er einen geschärften Blick auf die Gegenwart – und das ist der Grund, warum Wolfgang Ettlich für den RBB gerade seine alte Heimat wiederentdeckt.

Seit 50 Jahren lebt er in München

Dass er lange weg war, kann man sagen: Seit 50 Jahren lebt er in München, genauer gesagt: in Schwabing. Dort ist Ettlich eine Legende – was auch ein bisschen damit zu tun hat, dass er seinen heftigen Berliner Dialekt nie abgelegt hat. Jahrzehntelang betrieb er mit seinem Freund Henry Heppel die Theaterkneipe „Heppel & Ettlich“ – ein Bollwerk gegen das grassierende Schnöseltum und die Diktatur der Luxussanierer –, bis es die beiden selbst erwischte und dem Lokal gekündigt wurde. Zum Glück hat Wolfgang Ettlich nebenher immer schon Dokumentarfilme gedreht. Mit unaufdringlichen Bildern und leisen Fragen spürt er Geschichten auf, zeichnet Lebenslinien nach, von kleinen Leuten zumeist und davon, was die Zeit mit ihnen anstellt. In seinem Wikipedia-Eintrag firmiert er unter „Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent“.

Jetzt also streift der Mann durch die Weserstraße, vorbei an seiner alten Schule, einem Backsteinbau, vor dem ein paar Mütter stehen und sich lautstark unterhalten. Das ist auch anders heute, sagt Ettlich, zu seiner Schulzeit, in den fünfziger Jahren, hätten sich die Eltern nicht für die Schule interessiert oder gar Lehrer besucht. Klar, die Probleme waren damals andere, man hatte kaum Platz zum Wohnen, viele Häuser lagen noch in Trümmern. In den Sechzigern hat seine Schwester einen Brief an Willy Brandt geschrieben, der damals Regierender Bürgermeister war, und ihn gebeten, bei der Suche nach einer größeren Wohnung behilflich zu sein. „Der hat das echt gemacht“, sagt Ettlich. Ob Brandt wirklich persönlich geholfen hat? „Keene Ahnung. Aber es hat geklappt.“

Wir sehen uns um, auf dem Reuterplatz erwacht langsam das Leben, ein Bagger reißt die Straße auf, an vielen Häusern stehen Gerüste. Wenn Ettlich hier durch die Straßen seiner Kindheit streift, vorbei an Weinhandlungen, der schicken „Brezel-Company“ und der Szenekneipe „Damensalon“ in einem früheren Friseurladen, erkennt er vieles kaum wieder. Und nicht alles ist schlechter geworden. „Mir gefällt das Bunte, das Lebendige“, sagt er. In den Fünfzigern wohnten noch keine Ausländer hier, die Gastarbeiter kamen erst später. Neukölln war ein klassisches Arbeiterviertel, die Familien hießen Schulze, Lehmann, Schmidt. Heute wird die Gegend von türkischen und arabischen Familien dominiert, und in den Jugendmannschaften vom Neuköllner Fußballclub Rot-Weiß spielt kaum mehr ein Schulze oder Schmidt. Ettlich klopft an die Tür des Vereinsheims. Etwas mürrisch öffnet Frau Kupfer, die seit Jahrzehnten den Betrieb am Laufen hält. „Wat bleibt mir anderes übrig, mein Mann hat mir nüscht hinterlassen!“ Sie sitzt auf einer Bank vor dem Heizkörper und schaut auf den Platz. „Früher war es schöner. Da hat man nach dem Spiel noch zusammengesessen. Heute rennen alle gleich weg.“

Keiner wollte nach Neukölln

Vielleicht ist das ja das Besondere an Neukölln: Erst mal findet man alles ganz schlimm. Die neuen Kneipen, die Renovierungen, die Touristen, die kaputten Schulen, den Lärm, die vielen Autos, die hohen Preise, alles. Aber wenn man sich ein bisschen mit den Leuten unterhält, taucht plötzlich die Liebe zu ihrem Kiez auf.

Bei Frau Kupfer nicht, die ist heute schlecht drauf. Aber bei Jakob Motter, dem Geigenbauer. Motter findet Neukölln super, und das nicht nur, weil sein Laden gut läuft. Wolfgang Ettlich hat ihn schon mal in seiner kleinen Werkstatt besucht, mit Kamerateam, und jetzt schauen wir noch mal zu ihm rein. Überall stehen halb fertige Bassgeigen, die sind sein Verkaufsschlager. „Vor allem Asiaten bestellen wie verrückt, ich komme gar nicht nach.“ Er ist froh, dass sich der Kiez verändert. „Alle schimpfen immer auf die Gentrifizierung, dabei hat das auch Vorteile.“ Früher, sagt er, hast du nirgends einen gescheiten Kaffee bekommen, alles war grau und hässlich, kein Mensch wollte hierher. Heute schlendern Amerikaner mit dem Reiseführer in der Hand an seinem Laden vorbei und wollen den aufregendsten Stadtteil des Planeten entdecken.

Auch Wolfgang Ettlich unternimmt eine seltsame Entdeckungsreise durch seine Heimatstadt. 50 Jahre sind wie weggeblasen, die Mauer gab es in seiner Kindheit nicht und jetzt gibt es sie nicht mehr. In den Häusern leben Migranten statt Arbeiter, arm sind die meisten auch heute. Und auch sonst ist manches gleich geblieben. Das graue Steinpflaster auf den Gehwegen ist noch das alte. Und die Atmosphäre in den Kiezkneipen ist so, wie sie immer war, das wird gleich klar, als wir beim „Lustigen Alfons“ durch die Tür kommen.

Kellnerin Gabi mit den knallroten Haaren, die seit 40 Jahren hinterm Tresen steht und heute eine Art bunter Schlafanzughose trägt, hat super Laune. „Wollt ihr wat trinken?“ Fünf ältere Herren sitzen an den Tischen, vor sich ein Schultheiss und einen Korn. Gabi hat schon die Doornkaat-Flasche in der Hand. „Nee, komm ...“, sagt Ettlich, „wir trinken vormittags keen Schnaps.“ – „Echt nicht? Aber morgen kommste, ja? Da wird der Chef 70. Da is Party!“ Gabi erzählt, dass man hier in der Kneipe alles erfahre, was in der Gegend so sei . Obwohl nicht mehr alle reinkommen, so wie früher. In Ettlichs Film schwadronieren zwei Männer, die er in einer Grünanlage trifft, dass sie sich das Bier beim Alfons nicht mehr leisten könnten. „Das hol ick mir jetzt beim Discounter für 25 Cent die Flasche und trink es hier.“

"Dit sind wir"

Wir haben dann noch einiges erlebt an diesem Vormittag in Neukölln. Wollten das Haus besuchen, in dem Ettlich geboren wurde und das inzwischen eine Art Altersheim geworden ist, in dem Senioren betreut werden. Die Hausmeisterin hat uns gleich rausgeschmissen. „He, was machen Sie hier? Weg, weg!“ Sind dem Rentner Bernd Wirths begegnet, einer Kiezgröße. Wirths sagt, dass jetzt überall Englisch gesprochen werde, totaler Wahnsinn, er verstehe kein Wort. Vor zehn Jahren, sagt er noch, habe man hier eine Vierzimmerwohnung für 18. 000 Euro kaufen können. „Hat aber keiner gekauft.“ Auch Wahnsinn, aus heutiger Sicht.

Seit ein paar Wochen sitzt Wolfgang Ettlich nun am Schnitt seines Films, fügt hier eine Szene ein, lässt dort etwas weg – wie der Koch in dem vietnamesischen Lokal in der Sonnenallee, der den ganzen Vormittag verschiedene Gemüse schnippelt und in den Wok wirft, was gerade gebraucht wird. Am Ende wird ein nicht unkritisches, vor allem aber liebevolles Porträt eines Stadtteils herauskommen, der im dramatischen Umbruch steckt, sich selbst aber dabei treu bleibt. Oder, um es mit den Worten von Gabi aus dem Lustigen Alfons zu sagen: „Neukölln, dit sind wir.“ Der Film von Wolfgang Ettlich läuft am 31. März um 22.45 Uhr im RBB.

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