zum Hauptinhalt
Die Kultfigur Atur.

© Karte: Werner Clemens-Walter

Nachruf auf Werner Clemens-Walter: „Lebe wild und gefährlich, Artur“

Er war der Schöpfer eines neuen Genres und immer auf der Suche nach Abenteuern. Nun ist Werner Clemens-Walter, der Erfinder der Spruch-Postkarten, verstorben.

Dieser junge Mann mit der Pudelmütze steht vor einer grauen Häuserwand, die Hände lässig in den Hosentaschen, tief vergraben. Er kneift die Augen zusammen, was wohl nicht an der Sonne liegt, und schaut den Betrachter missmutig und herausfordernd an. Ein Fünfjähriger vielleicht, aber anscheinend mit der Lebenserfahrung eines Fünfzigjährigen. Er ist schäbig gekleidet, ein typisches Proletarierkind, wie es bis weit in die fünfziger Jahre in Arbeitervierteln und Ruinengeländen mit gelegentlich laufender Nase ohne Taschentuch zuhause und unterwegs war.

Immer auf der Suche nach Abenteuern. Aber in diesem Falle zutiefst unzufrieden mit der Lage: Der Kleine will nicht fotografiert werden. Schon gar nicht so, mit den hässlichen Strumpfhosen. Aber er ist schon viel zu altklug, um dem Betrachter die Zunge herauszustrecken. Werner Clemens-Walter, der die Schwarz-Weiß-Aufnahme im Fotofundus seines Vaters entdeckte, muss die Aufnahme sehr gerührt habe. Er textete dazu: „Du fragst mich, was soll ich tun? Und ich sage: Lebe wild und gefährlich, Artur.“ Fragt sich, wer hier mit wem spricht. Motiv und Spruch trafen einen Nerv der Zeitströmung. In der Hochphase Mitte der Achtzigerjahre gab es Artur-Buttons und Artur-Plakate.

Von der Kunstfigur zur Kultfigur

Damit war nicht nur eine Kunstfigur geboren, die zur Kultfigur werden sollte. Sondern Clemens-Walter schuf en passant ein neues Genre, von dem es zu diesem Zeitpunkt noch kaum Vorläufer gab: Das der Spruch-Postkarte, die heute in jedem größeren Grußpostkartenständer hängt. An den Kneipen- und Restaurantwänden sind – meist auf dem Weg zum Klo – ihre mehr oder meist weniger werblichen Zwillinge zu finden, die Gratis-Postkarten.

Andere Verlage stiegen ebenfalls auf die Artur-Masche ein. So veröffentlichte beispielsweise der Verlag Schwarze Kunst das Bild eines erwachsenen Artur, ebenfalls in kurzer Hose, mit nacktem Oberkörper und Boxerstiefeln, natürlich missmutig dreinschauend. Daneben der Spruch: „Ja Artur. Alles wird gut.“ Werner Clemens-Walter hat sich lange gegen die Plagiatoren gewehrt. Vergebens. Es waren einfach zu viele. Lieber machte er weiter. Natürlich war mit den Karten kein großes Geld zu verdienen. Aber sie machten allen Beteiligten mit ihrer sanften Ironie Spaß. Zäh rang er mit den Postkartenverlagen um neue Motive, die seine Firma „Kulturrecycling“ hervorbrachte.

Werner Clemens-Walter wurde 75 Jahre alt.
Werner Clemens-Walter wurde 75 Jahre alt.

© privat

Er wusste Ende 2018, kurz nach dem Erscheinen seiner letzten Artur-Postkarte, dass sein Ende kommen musste. Artur, den immer ein Hauch von Melancholie umwehte, wusste es auch. Er gab den Jüngeren noch mit auf den weiteren Lebensweg: „und weil du bald gemerkt hast, daß du gar nicht dieser große Wildschweinjäger, sondern nur sone kleine Currywurst bist – Bitte ergebenst denken Sie sich Ihren Senf dazu.“ So stand es auf dem Bild neben Arturs Konterfei. Zeilen des Lyrikers Peter Rühmkorf, deren Veröffentlichung sich Clemens-Walter hatte vom Rühmkorf-Archiv genehmigen lassen.

Mit dem Moped nach Marseille

In einem Klappentext zu einem seiner Bücher veralberte er sich selbst als Kosmopoliten und Frankophilen von Jugendbeinen an. Bereits vor den Elysée-Verträgen sei er mit der deutschen Variante des Mofas Vélosolex, nämlich einem Fahrrad mit Hilfsmotor, kreuz und quer durch Frankreich gefahren und habe am deutsch-französischen Schüleraustausch teilgenommen. Verbrieft ist nach Aussage seiner Witwe Roswitha Walter, dass er mit 17 Jahren mit seinem Moped in Marseille gewesen ist. Das war 1960. Eine zu diesem Zeitpunkt ziemlich ungewöhnliche Exkursion in die Fremde.

Bei anderer Gelegenheit – schon deutlich über 50 – offenbarte er sich seinen Lesern als verheiratet, ohne Religion, ohne Kinder. Er lebe unter seinem vollen Namen als flanierender Postkartenmacher in Berlin oder in einem Dorf in Südfrankreich, schreibe, beobachte den Mond und die Sterne und trinke gern roten Wein. „Er sieht sich schon seit geraumer Weile die kosmopolitischen Leute an, die dort im Süden Frankreichs, in der römischen Provence, ein Haus restauriert oder gekauft haben, wie sie so leben, und was sie hier so machen. Das ist seine Tätigkeit. Und das wird aufgeschrieben. Hymnen auf Lavendel, Katzen, Sonnenblumen, Baguette und Knoblauch kommen seltener vor.“ Dieser Beobachter hatte es auf die Gemeinschaft der Toskana-Fraktion und die ihr Zugehörigen (darunter er selbst) abgesehen. In jeder Hinsicht.

Das wichtigste Kriterium: Es mussten Menschen zu sehen sein

Längst hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits andere Kunstfiguren zu Artur, der Ikone der Kindheit in der frühen Bundesrepublik, gesellt. Unablässig sammelte er alte Bilder und Postkarten. Das wichtigste Sammelkriterium: Es mussten nur Menschen darauf zu sehen sein. Werner Clemens-Walter begann sein Vexierspiel mit alten Fotos – den visuellen Versatzstücken der Wirklichkeit und scheinbarer Authentizität – mit einer wohl dosierten Künstlichkeit einer Sprache aus verformten Sprachhülsen in Büchern auf die Spitze zu treiben. Er erdachte „Die einzig wahre Geschichte von Artur & Artur. Nur die Mutigen entkommen“ und „Menschen wie wir werden überall gebraucht. Die einzig wahre Geschichte von Zora, Artur & Artur“, beides in Buchfirm erschienen.

Clemens-Walter war ein Alt-Achtundsechziger, ein politischer Mensch durch und durch. In den Neunzigern schrieb er zeitweise für die taz, bis es ihm zu langweilig wurde. Er mochte keine Verpflichtungen. Eines seiner beliebtesten Postkartenmotive aus dieser Zeit war eine Birne, daneben der Spruch: „Ein kleiner Dreh nach links bringt jede Birne aus der Fassung.“ Damit war, natürlich, Langzeitkanzler Helmut Kohl gemeint. Die Kombination von Spruch und Motiv hätte auch von Klaus Staeck stammen können, der ebenfalls Furore mit seinen Postkarten machte. Nur waren dessen Werke eher politische Kampfansagen als feinsinnige Menschenliebe, die Clemens-Walter seinen Forschungsgegenständen meist entgegenbrachte.

„Er hatte Lust auf Leute“

Wie sein Vater, der Dorfschullehrer war, war Clemens-Walter beamteter Pädagoge. Es zog ihn zwar immer wieder hinaus. Ins gedanklich und räumlich Freie. Auch wollte er einmal auswandern nach Neuseeland, war mit seiner Frau einige Zeit in Algerien, um für die Kinder deutscher Industrieller eine Schule aufzubauen, erkundete das Land in jeder freien Minute, durchquerte die Wüste Libyens. Lebte also wild und gefährlich, so gut es ging. In den letzten Jahren reiste er mit seiner Frau viel.

„Werner war kein Possenreißer, sondern ein guter Unterhalter“, sagt seine Frau rückblickend. Zuletzt wollte er Lesezeichen mit seiner Kleinkunst bereichern. Er erzählte keine Witze und klopfte sich dabei auf die Schenkel – konnte aber ihm zuvor völlig unbekannte Menschen mit zwei, drei Bemerkungen öffnen. Es genügte ein kleiner Dreh nach links. „Er hatte Lust auf Leute.“ Das Unternehmen Discordia vertreibt nun die Restbestände an Postkarten. Es wird nichts mehr nachgedruckt. Werner Clemens-Walters Zeit ist vorbei.

Zwölf Newsletter, zwölf Bezirke: Unsere Leute-Newsletter aus allen Berliner Bezirken können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de

Lesen Sie mehr im Tagesspiegel

- Die Postkarten der Kreuzberger Firma "Inkognito" sind schräg und ungewöhnlich, mit intelligentem Humor, wie Geschäftsführerin Lidwien Steenbrink sagt. Dabei war sie nur durch einen Zufall auf den Chefsessel gerutscht - und es gab eine Zeit, in der es sehr düster für die Firma aussah: Lesen Sie hier mehr dazu.

- Die Mauerstadt zog Künstler, Individualisten, Selbstentdecker an: Die Ausstellung „Berlinzulage“ im Künstlerhaus Bethanien erinnert an das Jahrzehnt vor dem Mauerfall – und was davon geblieben ist.

Zur Startseite