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Stilechte Kleidung ist Teil der Mission von Schellack Holmes, wenn er in der Bar Riva sein Vinyl zu Gehör bringt.

© David Heerde

Musik der Zwanziger: Am kurzen Ende der langen Theke

DJ Schellack Holmes liebt die Musik der Zwanziger. In einer Kreuzberger Bar legt er seine Platten auf. Und manchmal kommen sogar die harten Rocker von nebenan vorbei. Um zu tanzen.

Sein ständiger Begleiter ist ein Schild. Wenn Schellack Holmes seine Platten herausholt, ist das Papplogo des Labels His Master’s Voice nie weit, auf dem ein Terrier in den Trichter des Grammophons schaut. Der 32-Jährige stellt „seinen Fifi“ vor sich. Er selbst hat ebenfalls schon viele Stunden vor Abspielgeräten verbracht. Sein DJ-Partner Oliver Chwat sagt bewundernd: „Anhand der ersten Sekunden einer Schellackplatte kann er heraushören, aus welcher Zeit sie stammt, von wem sie herausgebracht wurde und welches Orchester da spielt.“

Zusammen legen die beiden Swing und Jazz in der Kreuzberger Bar Rias auf. Immer freitags sitzen sie an der kurzen Seite der langen Theke auf Barhockern, Chwat vor dem CD-Player, Holmes vor dem Plattenspieler. Zwischen ihnen ein kollegial geteiltes Mischpult, hinter ihnen Plakate aus Holmes’ Privatsammlung, etwa das Poster „Damenjazzband“: vier halb nackte Schönheiten, die sich neckisch hinter Saxofon und Pauke verstecken, aufgenommen für ein Werbeheft der Revuen von Hermann Haller im Jahr 1926, als der noch Direktor des Admiralspalastes war.

Das waren lockere Zeiten in Berlin, damals. Und Schellack Holmes, der eigentlich Christian Schönecker heißt und aus Oberfranken kommt, hält aus dem Stegreif Vorträge darüber. Gewählt drückt er sich aus, spricht bedacht und mit Detailwissen, denn seit er elf Jahre alt ist, sammelt er alte Platten. Seine Liebe begann mit einem alten Röhrenradio, einem Weltempfänger, das ihm über einen zufällig eingefangenen Sender aus „Niederländisch-Ostindien“, dem heutigen Indonesien, die Musik von Londoner Bandleadern aus den dreißiger Jahren vorstellte: Jack Hylton, Jack Payne, Ray Noble. Die „Geborgenheit und die Wärme, die organischen Instrumente“ packten ihn – das war etwas ganz anderes als die Privatsender der Neunziger und die Feuerwehrkapellen auf dem Land.

Seine erste Platte erstand er auf einem Flohmarkt in Coburg – bevor er überhaupt einen Plattenspieler besaß. Schnell wurde die Sammlung größer, inzwischen hat er aufgehört zu zählen. Zwei komplette Räume füllen seine Schätze heute. Schellack Holmes durchforstete Todesanzeigen nach um 1900 Geborenen und fragte die Verwandten nach Kisten auf dem Speicher. Bald war er ein bunter Vogel auf dem Schulhof: „Hose im Zigarettenschnitt, Umschlag von sechseinhalb Zentimetern, hoher Bund, kurzer Schoß, große Schulterpolster“, beschreibt er seine damalige Erscheinung.

Noch immer legt er großen Wert auf sein Äußeres, eine Dreißiger-Jahre-Seidenkrawatte gibt dem grauen Anzug mit Weste einen Farbakzent. „Es ist eine Lebenseinstellung, kein Hobby“, erklärt er, „Klang und Gestaltung gehören zusammen.“ Es folgt ein Vergleich des Tanz- und Musikstils Streamline Strut, der um 1935 beliebt war, als Autos nicht mehr eckig, sondern stromlinienförmiger aussahen, als alles „rundlicher und eleganter“ wurde, mit dem Charleston der Zwanziger der eher „zickig, holpriger“ daherkam, was sich eben auch in der dazugehörigen Mode niederschlug:

„Das Charlestonkleid hat eine tief sitzende Taille, war witzig, nicht figurbetont, man warf sich schnell noch eine Perlenkette um den Hals.“ Seine „geliebte Zeit“ geht nur bis 1933, „danach wurden die Arrangements glatter, langweilig, der musikalische Humor und Selbstspott ist weg“.

"Berlin ist wie ein warmes Bad, es regt einen an"

Stilechte Kleidung ist Teil der Mission von Schellack Holmes, wenn er in der Bar Riva sein Vinyl zu Gehör bringt.
Stilechte Kleidung ist Teil der Mission von Schellack Holmes, wenn er in der Bar Riva sein Vinyl zu Gehör bringt.

© David Heerde

Nicht so viel zu tun hat er mit dem aktuellen Swing-Boom in Berlin: Tanzkurse für Lindy Hop überall, Partys von „Bohème Sauvage“, einer selbst ernannten Gesellschaft für mondäne Unterhaltung, Burlesqueshows. Klang und Lebensgefühl einer Epoche werden wiederentdeckt, sogar fürs Fernsehen. Gerade lief im ZDF die „Adlon-Saga“, eine Art historischer Werbefilm für das Hotel am Brandenburger Tor, in dem auch die Zwanziger und Dreißiger nicht zu kurz kamen.

Und es passt ja auch gut zusammen: heute Krise, damals Krise. Aber Nostalgie führt nirgendwohin. So versucht auch Schellack Holmes nicht, das Dagewesene einfach nur zu kopieren, sondern es so modern wie möglich und so klassisch wie nötig zu leben. Wenn aus dem nahe gelegenen Trinkteufel, einer Kiezkneipe, tätowierte Rocker ins Rias kommen und durch die historischen Aufnahmen zum Tanz angeregt werden, dann nennt er das „musikalisches Multikulti“. Diese Art der Freiheit trifft wohl eher das, was das Mondäne der Zwanziger darstellt, als ein richtig angelegter Pelzkragen.

„Nichts war fortschrittlicher als die Zwanziger“, sagt der Experte, der erst vor einem halben Jahr nach Berlin gezogen ist, nach Mariendorf. „Ich bin kein Musiklieferant für die Tanzszene, aber für die Interessengemeinschaft schon.“ Bisher schlug er sich mit einer Hotelausbildung herum, arbeitete in Köln als Conferencier, aber das Leben dort war ihm „zu lokal geprägt: Fußball, Karneval, Kölsch“. Berlin sei für ihn „wie so ein warmes Bad, es regt einen an, es regt einen auf“. Er lebt vor allem vom Schellack-Handel und plant gerade zusammen mit Chwat ein Bühnenprogramm mit Texten vergessener jüdischer Kabarettisten wie Paul Morgan, Fritz Grünbaum oder Willy Rosen.

Manchmal, wenn es spät wird, legt Holmes auch mal einen halbstündigen US-amerikanischen Radiomitschnitt aus dem Jahr 1937 auf oder seinen Lieblingstrompeter Arthur Briggs, den „unprätentiösen Gegenpart zu Louis Armstrong“. Und dann kommt er herüber an unseren Tisch, schlägt die Beine übereinander und erzählt uns, dass sogar Karstadt am Hermannplatz in den zwanziger Jahren unter eigenem Label Lizenzproduktionen berühmter Orchester herausbrachte.

Auf dem Unisex-Klo des Rias sagt ein Mann zu seiner Begleitung, dass er seiner Freundin jetzt James Joyce’ „Portrait of the Artist as a Young Man“ vorliest. Neben uns feiert eine griechische Frauenclique mit Tischflagge Geburtstag, weiter hinten wird aus einem anderen Anlass ein Zitronenbäumchen überreicht. Und die Flaschenreihe hinter dem Barmann leuchtet geheimnisvoll.

Jeden Freitag, ab 20 Uhr, Rias-Bar,

Manteuffelstr. 100, Kreuzberg

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