zum Hauptinhalt

Reportage aus Tobruk: Im Osten Libyens ist Gaddafi schon Geschichte

Unser Korrespondent Martin Gehlen ist in Libyen eingereist. Hier seine erste Reportage aus Tobruk - einer Stadt, die sich von Gaddafi befreit hat.

Idris Kamiss ist Meteorologe. „Ich bin fünfzig Jahre alt. Vierzig Jahre habe ich auf diesen Tag gewartet“, ruft er inmitten der brodelnden Menge. Auf die Frage nach seiner politischen Wettervorhersage für Libyen zögert er keine Sekunde – es gibt noch einen schweren Sturm, sagt er. „Und dann scheint die Sonne.“ Hinter ihm zieht ein junger Schüler durch die Menge mit dem Plakat „Schach matt für den König der Könige Afrikas“. Gut eine Woche ist vergangen seit dem ersten „Tag des Zorns“ gegen Muammar al-Gaddafi, dem „Führer der Führer Arabiens, König der Könige Afrikas und Imam aller Muslime“ – wie er sich selbst zu titulieren pflegt. Und die Stadt Tobruk feiert. Für ihre 160.000 Einwohner ist Gaddafis Regime bereits Geschichte. In der 1500 Kilometer entfernten Hauptstadt Tripolis dagegen lässt der blindwütige Despot weiter auf Männer, Frauen und Kinder schießen.

Auf dem ehemaligen Königsplatz im Zentrum von Tobruk dagegen braucht man sich nur ein Mal im Kreis zu drehen – und hat den gesamten Aufstand des Volkes vor Augen. So liegen vor dem Haus der Revolutionären Volkskomitees noch die Splitter von Gaddafis Grünbuch. Bilder von Demonstranten, die am ersten „Tag des Zorns“ die Betonskulptur vom Sockel stürzten, gingen um die ganze Welt. Auf dem Dach der völlig ausgebrannten Polizeistation tanzen Menschen und haben wieder die alte Landesflagge aus Zeiten der Monarchie aufgezogen. Der Hof liegt voll mit ausgebrannten Autos, alle Haftzellen und Büros im Inneren sind nur noch schwarze Löcher. Unter Gejohle und Gewehrsalven wird an der Außenwand eine Gaddafi-Puppe hochgezogen. Das Gebäude der Bankzentrale dagegen thront unbeschädigt über der Menge - genauso wie gegenüber am Rande des kleinen Mittelmeerhafens die Ölraffinerie der Stadt. Junge Leute hatten Tag und Nacht vor der hölzernen Flügeltür der Bank campiert, um eine Plünderung zu verhindern. Und ein Offizier verweigerte den Befehl aus Tripolis, die Ölanlage in ein Inferno zu verwandeln.

„Gaddafi, hau ab“ flattert als Banderole an dem Minarett der Hauptmoschee. Autos mit jubilierenden jungen Männern kreisen als lärmende Konvois. Und in dem Gewühl schreien sich die Menschen vier Jahrzehnte Frust und Unterdrückung aus dem Leib. Sie überschlagen sich mit ihren Klagen über das Regime, keiner kann den anderen ausreden lassen. Jeder will seine Verachtung zu Protokoll geben. „Er hat uns Ratten genannt, er soll zum Teufel gehen“, rufen sie. „Wir sind ein reiches Land und eine armes Volk – wie kann das sein“, geht ein anderer dazwischen. „Es gab keine Freiheit, keine guten Kliniken, Schulen oder Universitäten“, deklamiert ein Dritter. Etwas Negatives über den großen „Bruder Führer“ zu sagen, sei tabu gewesen. Wer es dennoch tat, riskierte Prügel und Folter durch Gaddafis Revolutionswächter.

Willkommen in freien Teil Libyens grüßen die neuen blutjungen Revolutionäre bereits an der Grenze. Der ganze Osten des Riesenlandes, fünfmal so groß wie Deutschland, ist inzwischen von Muammar al-Gaddafi abgefallen. Direkt hinter der Grenzstation bieten zwei Männer den Besuchern Kekse und Wasser an. Mit ihren betagten russischen MI-8 Hubschraubern hatten sie die Demonstranten angreifen sollen – da sind sie desertiert. Bereitwillig nennen die beiden Ex-Piloten ihre Namen und Handynummern. Einige Tage schon halten sie sich nahe der Grenze zu Ägypten auf, um notfalls schnell auf der andere Seite unterzutauchen. „Gaddafi ist ein Nachkomme Hitlers“, meint der eine in makellosem Englisch, die graue Fliegerjacke der Luftwaffe trägt er noch. Dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel die 75 Minuten lange TV-Tirade des fauchenden Beduinenobersts „fürchterlich“ fand und mit Sanktionen droht, haben er und viele hier mitbekommen und dankbar registriert.

Junge Kerle in Jeans und rasch requirierten Armeejacken bemannen jetzt die libyschen Grenzposten zu Ägypten. Einer hat sich eine Schirmmütze aufgesetzt und salutiert burlesk. Einreisestempel gibt es keine mehr, die haben die regulären Wächter auf ihrer Flucht mitgenommen. Nur die Pässe wollen sie noch einmal sehen, dann geht es im Kleinbus mit halsbrecherischem Tempo in das 150 Kilometer entfernte Tobruk. Unterwegs postiert sind immer wieder Straßensperren der Aufständischen, ihre Disziplin und Freundlichkeit erinnert an die Selbstorganisation der Protestierer vor zwei Wochen auf dem Tahrir-Platz in Kairo.

Alles hier in der Ostprovinz Cyrenaika allerdings wirkt ärmlicher als im reichen Westen der Provinz Tripolitana, wo Gaddafi jetzt die Reste seiner Anhänger um sich schart – die Revolutionären Komitees, die loyalen Teile der Armee sowie die politischen und finanzielle Profiteure seines Regimes. Jahrzehntelang wurde der Osten vernachlässigt. Das Land ist karg und sandig, die Arbeitslosigkeit liegt teilweise über 30 Prozent, manchmal sieht man einige Dutzend Schafe am Rand der zweispurigen Straße grasen, die immer wieder gähnende und lebensgefährliche Schlaglöcher hat.

Tagsüber wirkt Tobruk eigentlich wieder relativ normal. Die Geschäfte sind offen, die Menschen arbeiten, der Verkehr fließt. Nur die durchfahrenden hochbeladenen und voll gequetschen Minibusse erinnern daran, dass in anderen Teilen des Landes weiter gekämpft und gestorben sind. Zehntausende ägyptische Arbeiter sind inzwischen auf der Flucht. Ihren ganzen Hausrat schleppen sie mit zurück in die Heimat - Teppiche, Lampen, Wolldecken, Gaskocher und Kleinmöbel. Fünf Kilometer hinter dem Schlagbaum zu Libyen hat Ägyptens Roter Halbmond ein Notlazarett errichtet, um verletzten Flüchtlingen sofort helfen zu können. Die Armee orderte hunderte großer und kleiner Busse herbei, die in langen Schlangen auf die erschöpften Passagiere von drüben warten.

Ähnliche Szenen gibt es aber auch in Tripolis. Der kleine und total veraltete Flughafen wird von den Fliehenden belagert, am Fährhafen herrschen Tumult und Chaos. Die EU will in den nächsten Tagen zehntausend Bürger per Luftbrücke evakuieren, asiatische Nationen sogar 100.000 Menschen, die auf den Großbaustellen des Landes geackert hatten. China und Russland holen 30.000 ab, die meisten bauen an Gaddafis Eisenbahn, die einmal von der tunesischen bis zur ägyptischen Grenze gehen soll. Und die Türkei, ganz groß im libyschen Baugeschäft, holt einen Großteil seiner 5000 Ingeniere und Facharbeiter ab. Die Ölproduktion des Landes, zu 95 Prozent Einnahmequelle des Regimes, ist nahe dem Zusammenbruch. Weltweit schnellen die Preise für Rohöl nach oben. Die einzige Gaspipeline zur früheren Kolonialmacht Italien ist gekappt. Und in Rom befürchtet man nach einem Sturz Gaddafis eine Fluchtwelle aus Libyen von „biblischen Ausmaßen“.

Doch noch hat der selbst ernannte Revolutionsführer nicht aufgegeben. Bis zum letzten Tropfen Blut werde er kämpfen, drohte er. Sich selbst ernannte der 68-Jährige kurzerhand zum „Revolutionsführer für immer“. Die Aufständischen beschimpfte er als Ratten und Drogensüchtige. „Haus um Haus“ und „Meter um Meter“ werde man von ihnen säubern. Und wieder ließ er Hubschrauber und Kampfjets Angriffe auf die eigenen Bürger fliegen, während das Staatsfernsehen stundenlang und unverdrossen ein Häuflein Regimeanhänger zeigte, die Fahnen schwenkend über den Grünen Platz in Tripolis zogen.

Mehr als tausend Menschen sind in den acht Tagen des Aufstands bisher ums Leben gekommen, die meisten gestorben durch Scharfschützen oder die gefürchteten afrikanischen Söldner, die Gaddafi aus Tschad, Nigeria und Mali einfliegen ließ. Allein in den letzten 48 Stunden seien über 4000 weitere dieser eilig angeheuerten Todesschwadrone mit Militärtransportern ins Land geschafft worden, berichtete ein Luftwaffenoffizier aus Benghazi. „Darum hat sich die Armee dann auch gegen das Regime gestellt.“ 130 Soldaten bezahlten dafür mit dem Leben allein in Benghazi, die als Epizentrum des Volksaufstandes gilt. Sie wurden in den Kasernen hingerichtet, weil sie nicht auf ihre Landsleute feuern wollten.

Im 500 Kilometer entfernten Tobruk saß Salma Faradsh in dem dramatischen Moment mit am Tisch, als der Militärkommandeur Gaddafis Befehl aus Tripolis erhielt, sofort auf alle Demonstranten in der Stadt schießen zu lassen. Perfekt geschminkt trägt die 31-Jährige ihre beige Offiziersuniform im Rang eines Hauptmanns, als sie auf dem ehemaligen Königplatz bei der Frauendemo mitmischt. Ihr Chef habe den Befehl verweigert, Gaddafi daraufhin ein Killerkommando auf ihn angesetzt, sagt sie. Und heute? „Er lebt, hier ist niemand gestorben und ich bin weiter in der Armee.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false