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Fotografie: Rein in die gute Stube

Normalerweise stehen sie im Stall oder auf einer Wiese. Doch der Fotograf Jon Naiman machte Nutztiere zu Models – und inszenierte sie in den Wohnzimmern ihrer Besitzer. Ein irritierender Blick auf ländliches Leben.

Vom quirligen New Yorker Stadtteil Brooklyn in die beschauliche Schweiz, das ist ein Umzug mit Kulturschock. Der Amerikaner Jon Naiman hat ihn vor acht Jahren vollzogen, der Liebe wegen. Heute lebt er mit seiner Ehefrau und seinen zwei Söhnen in Biel. Die neue Heimat erschien ihm zu Beginn „fremd, aber schön“. Naiman wunderte sich zum Beispiel, dass selbst mitten in der Hauptstadt Bern Schafe grasen. „In diesem Land ist es schwer, zehn Minuten lang keine Tiere zu sehen“, sagt er, „so viele von ihnen gibt es hier.“

So kam der Fotograf auf die Idee, die Halter von Tieren gemeinsam mit ihren Pferden, Kälbern, Schafen und Hühnern zu porträtieren – und zwar nicht im Stall, sondern in ihren Wohnungen. Der 47-Jährige inszenierte die Nutz- als Haustiere, die Sofalandschaft als Streichelzoo. Naiman unterlief auf diese Weise die Erwartungen und schuf auf seinen Bildern eine bizarre persönliche Atmosphäre zwischen den Haltern und ihren Tieren. Es wirkt nun einmal surreal, wenn ein mannshohes Pferd – als sei es ins Foto hineinmontiert – im Wohnzimmer steht und auf den Teppich äpfelt (Foto rechte Seite).

Im Februar 2005 begann Naiman mit dem Projekt, nun ist der dazugehörige Fotoband „Familiar Territory“ (siehe Kasten rechts) erschienen. Sieben Jahre lang schaltete der Fotograf Suchanzeigen in der Zeitung, hörte sich im Bekanntenkreis um und stieß so auf Bauern in allen Landesteilen. Nebenbei erzählt Naiman mit seinen Bildern auf diese Weise, wie Landwirte in der Schweiz wohnen.

Wenn Naiman zum Fotografieren unter seinem schwarzen Umhang verschwand, dann rebellierten die Tiere schon mal: Einmal hörte er einen lauten Knall und dachte, eine seiner Lampen sei zersprungen. Es waren die Fotomodelle, zwei Ziegen, die mit den Hörnern aufeinander losgegangen waren. Eine wurde daraufhin aus dem Bild verbannt. Ein anderes Mal stieß ein Esel ein Mädchen um, ein Stuhl ging zu Bruch. „Der war schon kaputt“, beruhigte man Naiman höflich.

„The fish I never caught“, die entgangene Chance, sagt Naiman, das war ein Eringer Rind mit mächtigen Hörnern, das sogar an Kampfwettbewerben teilnahm. Als Naiman beim Halter ankam, stellte sich heraus, dass der die Idee hinter den Fotos nicht ganz verstanden hatte – und die Kuh partout nicht ins Wohnzimmer lassen wollte.

Nicht so wie der bärtige Mann, der sich in den eigenen vier Wänden mit nacktem Oberkörper und Ziege ablichten ließ (Foto rechte Seite). Das Bild zeigte Jon Naiman 2008 bei einer Ausstellung im Berliner USM Showroom. Im Riesenformat von 1,80 mal 2,25 Meter hing es im Schaufenster des Ausstellungsraums, als zufällig der Porträtierte mit seinem Sohn vorbeilief. Der Mann war zu Besuch in der Stadt und sei „verrückt geworden“, als er das Bild gesehen habe, so Naiman. Ein positiver Schock sei das gewesen.

Auf einem anderen Lieblingsbild Naimans streichelt ein Junge mit Basecap und T-Shirt sein Schaf, während die Mutter im Hintergrund die Zeitung liest. Die Szene suggeriert Alltäglichkeit, obwohl ganz offensichtlich ein Tier am falschen Ort steht.

Naiman arbeitet mit einer Großbildkamera, dadurch sind die Fotos extrem scharf und zeigen viele Details, in denen sich der Betrachter verlieren soll. „Die Bilder erzählen Geschichten“, sagt Naiman, und zwar solche von normalen Menschen in nicht ganz so normalen Situationen. Deshalb bat er seine Fotomodelle, ihre Alltagskleidung anzuziehen, sich bloß nicht herauszuputzen. So irritiert das Tier als Moment der Verfremdung umso stärker.

Als Naiman sein Buch kürzlich in Biel präsentierte, kamen auch einige der Porträtierten vorbei. Da wurde ihm klar, wie lange er an dem Projekt gearbeitet hatte: Aus siebenjährigen Kindern waren Teenager geworden.

Kaspar Heinrich

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