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Gutnachbarschaftlich. In „Take This Waltz“ kommt Margot (Michelle Williams) Daniel (Luke Kirby) näher.

© Michael Gibson

Toronto International Film Festival: Und Mutti kriegt den Schreiner ab

Liebe, Friede, Eierkuchen: Beim Filmfest in Toronto leben die Männer ihre Krisen aus. Oscar-Kandidaten sind diesmal nicht in Sicht.

Nein, so einfach lässt sich die Krise, die große amerikanische und europäische und globale Verunsicherung, derzeit nicht festmachen im Kino. Eine Inflation etwa von US-Finanzcrash-Thrillern im Stil von „Wall Street“ oder „Margin Call“? Fehlanzeige. Totales Desinteresse der Filmeinkäufer, deren Blackberrys gemeinhin bereits während der Leinwandpremiere wichtiger Titel zu glühen beginnen? Ebenso wenig; die Kauflust gilt als insgesamt solide. Oder der Mangel an zündenden Oscar-Aspiranten? Das schon eher.

Soeben ist das 36. Filmfest von Toronto zu Ende gegangen, und ein heißer Oscar-Kandidat, den die Veranstaltung, man denke an „Slumdog Millionär“ oder „The King’s Speech“, mittlerweile fast traditionell generiert, war nicht dabei. Zwar machten die Amerikaner auf dem für sie neben Cannes wichtigsten Filmfest ordentliche Geschäfte, aber ein Jubeljahrgang sieht anders aus. Sogar der klassische US-Genrefilm hat einen Knacks, und er zeigt seine Defekte offensiv vor. Die Krise ist hier vor allem eine Krise der Helden: Beschädigte Charaktere, wohin man blickt. Selbst die guten alten family values sind auf dem Rückzug. Von der Krise infiziert oder nur ihr Spiegel, lösen auch private Bindungsstrukturen sich auf. Wer da die Familie noch als Festung inszeniert, und sei es für ein Ruckzuck-Happy-End, ist von gestern.

Am besten kommt in diesem Panoptikum gerupfter Gestalten noch Billy Beane weg, der Manager der Oakland Athletics im Baseballdrama „Moneyball“. Als einer, der teure, inzwischen schwache Spieler schon mal aus der Kabine feuert, um für geringe Gehälter unterschätzte Spieler einzukaufen, geht er locker als Modellheld unserer unsicheren Epoche durch. Unterstützt von einem jungen Statistikfreak, führt er sein unterklassiges Team sogar bis zum Rekord von 20 – sporthistorisch verbürgten – Siegen in Folge. Brad Pitt, cool und durchaus melancholisch, und Jonah Hill, so eiskalt wie loyal, deklinieren die amerikanische Legende vom Nobody, der an die Spitze kommt, zeitgemäß durch: Wer klug spart, siegt.

Was in diesem auch für Baseball-Laien gewinnbringenden Sportfilm von Bennett Miller („Capote“) besonders verblüfft, ist der Blick für die Psychologie der Figuren, vor allem für Beanes in Einsamkeit wurzelnder Zielstrebigkeit. Fast ein Vater-Sohn-Verhältnis entwickelt sich zwischen dem Manager und seinem unentbehrlichen Nerd, aber es bleibt von beiderseitiger beruflicher Vorsicht geprägt. Andererseits hat der geschiedene Beane eine zwölfjährige Tochter, die ihm bei ihren seltenen Begegnungen etwas zur Gitarre singt: Wenn dann eine Freude über Pitts Gesicht geht, bleibt das schön unsentimental. Und als die Boston Red Sox dem erfolgreichen Strategen einen sensationell bezahlten Job anbieten und er nein sagt – heißt das nun, dass Billy Beane ein Loser ist?

Auch Oren Moverman („The Messenger“) weiß, wie man einem reichlich ausgeleuchteten Kinoschauplatz zu neuem Glanz verhilft. Woody Harrelson gibt in dem Los-Angeles-Copfilm „Rampart“ einen bösen Bullen namens Dave Brown, der sich durch extreme Brutalität im Einsatz immer mehr isoliert und schließlich interne Untersuchungen heraufbeschwört. Bemerkenswerter aber noch als Daves beruflicher Niedergang ist sein ruinöses Privatleben. Mit zwei Schwestern hat er zwei Töchter, und als er aus der fragilen Patchworkfamilienheimat rausfliegt, geht ihm der letzte Halt verloren. Die stärkste – und schmerzhaft lang ausgespielte – Szene ist der Besuch seiner Töchter in dem Hotelzimmer, das er fortan bewohnt: Sie bringen ihm ein paar Hemden, und es gibt ein hilfloses Herumstehen, aber nichts mehr zu reden.

Väter und die ihnen so fremden Töchter – sollte das ein neues Subgenre des US-Mainstreamkinos sein? Mit der kaum verhüllten Botschaft, dass derart familien- und gefühlsentwurzelte Männer auch polit- und gesellschaftskrisentechnisch nichts mehr stemmen? Alexander Payne nähert sich dem Syndrom in „The Descendants“ unter anderem auf komödiantische Art. Der Anwalt Matt King, gespielt vom Hollywood-Alphatier George Clooney, muss sich, weil seine Frau nach einem Speedboat-Unfall im Koma liegt, plötzlich um seine beiden Töchter kümmern. Und als er erfährt, dass die Gattin eine Affäre hatte und sich sogar scheiden lassen wollte, ist das auch nicht gerade Balsam für sein gemäßigtes Machoselbstbewusstsein.

Die Geschichte spielt auf Hawaii – folglich regierte in Toronto allgemeines Entzücken darüber, George Clooney einen ganzen Film lang in wechselnden Hawaiihemden zu sehen. Doch so wunderbar Alexander Payne die tragikomische Banalität des Lebens einst in „About Schmidt“ und „Sideways“ eingefangen hat, sein neuer Film leidet zusehends daran, dass er alles will: die Rührung über die Sterbende in der Klinik und die Lächerlichkeit gewisser Krankenhaussituationen. Die Albernheit des nachgetragenen Hahnenkampfs zwischen den Rivalen und die Ergriffenheit darüber. Satire oder Tränenzieher – das bleibt hier die Frage.

„The Descendants“ fordert immerhin zu gewissen Deutungsnöten heraus, was man von Bruce Beresfords „Peace, Love & Misunderstanding“ nicht behaupten kann. Die dramaturgisch hübsche Frage, was passiert, wenn halbwüchsige New Yorker Kids einer in Scheidung lebenden Anwältin für ein paar Wochen zur Hippieoma nach Woodstock kommen, lässt hier nur eine Antwort zu: Alles wird gut. Jane Fonda gibt den bald nervtötend gutherzigen Althippie, Catherine Keener ihre verhärmte Tochter, die sich jahrzehntelang von der Mama abgewendet hatte. Am Ende der lauen Familienzusammenführung kriegt jedes Nachwuchstöpfchen sein Deckelchen und Mutti den örtlichen Schreiner ab. Zur Satire hätte das Material getaugt, aber hier ist alles nur schrecklich lieb gemeint.

Auch „Friends With Kids“, Jennifer Westfeldts Debüt, lebt von einer komödiantisch und sogar gesellschaftsexperimentell reizvollen Ausgangssituation. Jason (Adam Scott) und Julie (Westfeldt) sind einander seit Jahren beste Freunde. Einerseits genervt von zwei befreundeten Ehepaaren, die zu gereizten Jungeltern mutieren, andererseits nicht grundsätzlich fortpflanzungsabgeneigt, beschließen sie eine kameradschaftliche Elternschaft ohne Liebe: Jeder kümmert sich zur Hälfte um das gemeinsame Kind und führt ansonsten sein Datingleben weiter. Selbstbetrug oder Chance? Eine Zeitlang schaut der Film der Versuchsanordnung mit schöner Neugier zu. Das tränenreiche Happy-End allerdings ist nur mit einer Überdosis Popcorn zu ertragen.

Der stärkste Beitrag unter diesen tastenden Suchbewegungen kam nicht aus den USA, sondern aus Toronto selbst: Die 32-jährige Schauspielerin Sarah Polley hat „Take This Waltz“, ihre zweite Regiearbeit nach „Away From Her“ („An ihrer Seite“), in ihrer Heimatstadt gedreht. Sie erkundet zart und genau die Defekte einer eigentlich glücklichen Ehe. Margot (Michelle Williams), die Schriftstellerin werden will, aber wenig dafür tut, hat sich mit dem dauermunteren Kochbuchautorehemann Lou (Seth Rogen) allzu häuslich in einem kindlich-verspielten Universum eingerichtet. Als ein junger Maler (Luke Kirby), der zum Geldverdienen Rikscha fährt, in ihrer Nachbarschaft einzieht, beginnt sehr langsam die Dekonstruktion eines Missverständnisses von Liebe.

Keine Affäre im üblichen Sinn ergibt sich hier und überhaupt keine Geschichte, die man so schon im Kino gesehen hat. Wie aber Margot, herausgefordert durch ein ihr unvertrautes Gefühl, ihre Hingerissenheit zu kanalisieren versucht, und wie aus einer augenblicksschönen Schwebe langsam eine Schieflage wird, das ist atemberaubend anzusehen. Wenn der Oscar nicht so eine laute Veranstaltung wäre: Michelle Williams, bereits zweimal nominiert, hätte ihn verdient.

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