zum Hauptinhalt
Wie Alice im Wunderland wandelt der Besucher in der schwarzen Zone Marcel Wanders'.

© dpa

Retrospektive auf Designer Marcel Wanders: Meister der Ein-Minuten-Skulptur

Er ist ein Virtuose der Form und des Materials: Das Amsterdamer Stedelijk Museum widmet dem Designer Marcel Wanders eine große Retrospektive - theatralisch inszeniert.

Als Marcel Wanders im Amsterdamer Stedelijk Museum die kleine Bühne betritt, werden die Smartphones hochgerissen. Begeistert fotografiert das Publikum den niederländischen Designert. Der 50-Jährige in schwarzem Anzug mit Schlaghosen und schwarz-weiß-karierten Schuhen ist ein Star. In der ersten Designausstellung seit der Wiedereröffnung 2012 widmet das Stedelijk Wanders auf 1300 Quadratmetern seinem Schaffen der vergangenen 25 Jahre eine große Retrospektive. Die Ausstellung „Pinned up“ zeigt Wanders aufgespießt wie einen Schmetterling – freigegeben zur Analyse. Dass es dieses Motiv auch als Anstecknadel im Museumsshop zu kaufen gibt, ist typisch für den Designer. „Pinned up“ ist keine chronologische, sondern eine theatralische Inszenierung des Phänomens Wanders.

Schon am Eingang muss sich der Besucher entscheiden: Will er nach links in die schwarze Zone zu den ernsteren, theatralischeren Objekten oder nach rechts in die weiße Zone des Produktdesigns? Ein dritter Bereich ist dem Art Director Wanders gewidmet. Der Designer erzählt gerne Geschichten mit seinen Objekten – etwa mit der riesigen Hängelampe „Skygarden“, deren innerer weißer Schirm mit filigranen Stuckelementen verziert ist und die so im Neubau die geliebte Altbaudecke ersetzt. Ein Tisch mit dünnen Holzbeinen erinnert an klassische Möbel, er stammt aus der Serie „Neue Antiquitäten“, denn nichts altert nach Wanders' Auffassung so schnell wie das Neue. Die Patchwork-Teller an der Wand, jeweils mit verschiedenen Dekorfragmenten verziert, und die „Neuen Antiquitäten“ versteht Wanders als Protest gegen ein industriell vorgefertigtes Design. Er produziert auch gegen die Dominanz der Moderne: „Für die Moderne war die Vergangenheit irrelevant. Was bedeutet es für morgen, was wir heute tun?“

Hart gefüllte Eier im Kondom

Wanders experimentiert mit der Tradition, mit Archetypen. Die Replik einer Ming-Vase macht aus etwas Altem etwas Neues und feiert im rauen Porzellan die Schönheit des Imperfekten. Eine halbe Lampenschirmsilhouette aus Holz ergänzt der Kopf unwillkürlich zur ganzen Form, er stiehlt die Form gewissermaßen aus dem Kopf des Betrachters. Der entwirft Möbel, Lampen, Gebrauchsgegenstände und Schmuck wie das „Rainbownecklace“ (2007) mit Perlen aus Glas, Delfter Fayence, einer Viagra-Pille und Nierensteinen.

Wanders kann alles gebrauchen, selbst den gescannten Auswurf eines Niesers. „Airborne Snotty“ („Rotz aus der Luft“) heißen die Unikate menschlicher Sekrete, die zigfach vergrößert ihre formvollendete Schönheit zeigen. Dieser organischen Momentaufnahme ist ihre Herkunft nicht anzusehen: Man muss die Geschichte schon kennen. Genauso ist es bei der Eiervase. Wanders füllte dafür hart gekochte Eier in ein Kondom und schuf so die Form für eine Porzellanvase.

Klassiker im Schnelldurchgang: jede Skulptur ein Unikat

Ganz anders geht der Designer bei „One Minute Delft Blue“ (2006) vor. Aus der traditionellen Delfter Manufaktur De Porceleyne Fles nimmt er sich unbemalte Klassiker – Vasen, Flaschen und kleine Skulpturen – und gestaltet sie mit blauer Farbe innerhalb einer Minute. Ebenfalls in einer Minute entstehen die „One Minute Sculptures“ (2004). Beim Tonmodellieren mit seiner Tochter kam ihm die Idee zu diesen abstrakten kleinen Skulpturen, jede ein Unikat, jede gebrannt und anschließend vergoldet, manchmal auch mannshoch vergrößert.

„Wer denkt, dass die Oberfläche oberflächlich ist, dessen Augen beweisen nur, dass sein Hirn nicht gut funktioniert."

Herr über die Knoten: Designer Marcel Wanders.
Herr über die Knoten: Designer Marcel Wanders.

© dpa

Ein eigener Raum ist der Haut der Objekte gewidmet, die für Wanders oft identisch mit der Konstruktionsweise ist. „Wer denkt, dass die Oberfläche oberflächlich ist, dessen Augen beweisen nur, dass sein Hirn nicht gut funktioniert." So entwarf er für Droog Design 1997 einen Stuhl aus gehäkelter Spitze, ein Verfahren, dass er später auf Lampen und andere Objekte im Raum übertrug. Es gibt wohl nichts, womit sich Wanders nicht beschäftigt hat, sei es die Oberfläche von japanischem Kosmetikpuder oder die Gravur von Essbesteck und Töpfen.

Natürlich darf in der Ausstellung der „Knotted Chair“ (1995/96) nicht fehlen, mit dem Wanders der internationale Durchbruch gelang. Er besteht aus Kohlenstofffasern, die mit Aramid ummantelt sind, einem Kunstgewebe, das für kugelsichere Westen benutzt wird. Ausgeführt wurde die Arbeit in Macramé-Technik, das Geflecht dann an vier Punkten aufgehängt und in Epoxidharz getaucht. So entstand eine Struktur, die eigentlich gar nicht halten kann, dank der Materialien aber zehnmal stärker ist als Stahl.

Experimente sind ohnehin Wanders' Stärke. So päsentiert er in im Stedelijk ertsmals den Prototypen des „Carbon Balloon Chair“ (2013), der aus langen Luftballons gefertigt ist, wie man sie vom Jahrmarkt zum Figurenknoten kennt – und mit Hilfe von Harz hergestellt wird. Der Stuhl wiegt nur 800 Gramm.

Interior Design: Marcel Wanders gestaltet auch Räume

Wie Alice im Wunderland wandelt der Besucher in der schwarzen Zone zwischen den überdimensionierten Lampen, betrachtet den sich drehenden Kopf mit Tulpenhaaren, der das Entrée eines Immobilienprojektes in der Türkei schmücken wird. Virtuelle düstere Videos vermitteln eine Traumwelt, bei der die Grenze zwischen Design, Theater und Film verschwimmen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch eine sphärisch-mystische Musik, die immer wieder bedrohlich anschwillt und einen mitunter dramatischen Soundtrack zu den überdimensionierten Objekten liefert.

Der niederländische Designerstar ist längst bei der Raumgestaltung angekommen, entwirft Interieurs von Hotels und hat 2012 mit dem Hotel Andaz in Amsterdam ein ganzes Wanders-Reich geschaffen. Mit dunklen, schweren Möbeln, übergroßen Lampen, Tapeten und Objekten im Delfter-Blau-Stil. In den letzten Jahren wurde er spielerischer, auch nachdenklicher: „Besteht das Konzept Zukunft noch in einer Kultur, in der eine zusammenhängende Vision davon verschwunden ist?“, fragt er auf einer Wand.

"Modern ist morgen schon alt"

Wanders will die Menschen verblüffen. „Wir dürfen von alten Dingen träumen, denn modern ist morgen schon alt“, sagt er. Tradition ist ihm wichtig, ebenso Nachhaltigkeit. Er mag Emotionen und Träume, der Mensch sei nicht nur rational. „Die Funktionalität der Dinge ist wichtig, aber sie ist nur die Basis, auf der alles andere aufbaut“, lautet seine These. Wanders ist ein Virtuose der Form, des Materials und der zündenden Idee. Ein Geschichtenerzähler, der sein Publikum immer wieder aufs Neue verzaubert.
Stedelijk Museum, Amsterdam, bis 15. 6.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false