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Arno Fischer: Was am Weg liegt

Der große Fotograf Arno Fischer wird mit einer Ausstellung in der Berlinischen Galerie geehrt. Der Tagesspiegel hat die Fotografen-Legende besucht.

„Schaut auf diese Stadt!“, hatte Ernst Reuter 1948 den Völkern der Welt zugerufen. Niemand hat diesen Auftrag so befolgt wie er, Arno Fischer. Wer vor seinen Berlin-Bildern steht, beginnt sofort doppelt zu sehen: Männer, Frauen, Kind und Hund sitzen Unter den Linden vor Trümmern, deren geborstener Stuck von der Herrlichkeit und Selbstgewissheit kündet, die hier in den Staub gesunken war. Es ist ein Dokumentarfoto, von 1956. Und scheint doch wie aus einem Fellini-Film desertiert.

Wie so viele seiner Bilder ist es eine vollkommene Komposition, eine hochempfindliche, hochauflösende Balance aus Bewegung und Verharren. Ein Stillleben mit Passanten. Nicht nur Städte, auch Menschen erkannten sich jäh auf seinen Fotos: Das bin ich? Ich hätte mir mich anders vorgestellt! Und trotzdem, er hat das Bild gemacht, das Marlene Dietrich von sich am liebsten hatte.

Der Mann ist eine Legende, der Vater der DDR-Fotografie, deren Wiederentdeckung längst auch ihn erreicht hat. Am Donnerstag wurde er mit dem HannahHöch-Preis für sein Lebenswerk geehrt. Dennoch gelang es Fischer bis heute, als Person beinahe unentdeckt zu bleiben. Sein Leben? Steckt in seinen Fotos. Er wohnt auch wohlverborgen, draußen zwischen Himmel und Acker, bei Gransee.

Zuerst fahren wir einkaufen. Fischer, 83 Jahre alt, braucht zwei Becher Quark. Nur damit niemand was Falsches denkt: Der Band Berlin-Fotos – es gibt kein vergleichbares Dokument – sei bloß aus Neid entstanden. Seine Zeitungskollegen wurden von ihren Redaktionen durchs ganze Land und noch viel weiter geschickt. Nur ihn, das real existierende Kuriosum eines freien Fotografen in der DDR, schickte niemand. Darum Berlin. Auch, weil das Bekannte noch lange nicht das Erkannte ist.

Arno Fischer stellt die Quarkbecher in den Kofferraum seines kleinen Wagens. Daneben liegt eine Gastronomiegroßpackung Möhren.

Wir halten vor einem unscheinbaren Bauernhaus, DDR-Bauart. Der Garten davor und dahinter ist nicht bäurisch. Es ist eher ein Dschungel. Richtig, es gibt auch den Dschungelfotografen Fischer. 1972 war er in Äquatorialguinea und brachte es fertig, dieses Land, das ihm das faszinierendste der Welt geblieben ist – „Ich war süchtig nach Regenwald“ –, alles andere als exotisch aussehen zu lassen. Auch in seinem Garten gibt es verborgene Pfade, Fischer geht voran. Sein letztes Buch heißt einfach „Der Garten“, es ist dieser hier.

Eine leise Rückkehr des Pathos findet man in dem Bildband. Lauter schmerzlich-schöne Allegorien der Vergänglichkeit, gemacht aus den Abbauprodukten von Chlorophyll, manchmal auch aus der verwitternden Armlehne einer Gartenbank. Aus Geometrie, Formenspielen und Auflösung. Und natürlich aus Licht und Schatten. Und plötzlich begreift man den Garten: Äquatorialguinea! Dschungel ist da, wo Arno Fischer ist. Ein tiefer Tierlaut dringt durch das Dickicht. Das ist Törty, erklärt Fischer und greift nach den Möhren. Da steht es schon, in ungekünstelter, gleichgültiger Überlegenheit: ein riesenhaftes Rindvieh, 1000 kg Lebendgewicht mindestens. Fischer trachtet nicht nach Törtys Fleisch. „Und Milch gibt sie ohnehin nicht.“

Fischer, der Rindviehfotograf, schon früher, in Bulgarien oder Indien. Nicht mal die Tiere auf Fischers Fotos sehen so aus, wie Tiere auf Tierfotos nun mal aussehen. Erkenne dich selbst!, sagen ihre Blicke. Immer wieder ist die Kuh Törty von ihrer Herde weggelaufen. In besonders kalten Wintern legte der Fotograf die Möhren manchmal an einer gefrorenen Ackerecke nieder und wusste, dass Törty die Gabe annehmen würde. Doch eines Wintertages nahte von der anderen Seite auch der Förster mit seinem Gewehr. Nein!, rief Arno Fischer.

Mit dem „Nein!“ nahm er gewissermaßen sich selbst in Schutz. Zwei Radikal-Individualisten. Woher hat die dumme Kuh ihren Freiheitsdrang? Das wäre fast so, als fragte man ihn, woher er das Fotografieren habe. Gelernt hat er es beim Fotografieren. Als er später die Bilder des Amerikaners Robert Frank sah, fand er sich tief bestätigt. Der Gestus war klar: Nichts Inszeniertes mehr, kein Pathos. Den Augenblick abwarten, mit dem die Wirklichkeit sich selbst verrät!

Fischers Art, die Welt zu sehen, strich mit jeder Aufnahme die bis eben gültige Bilderwelt durch. Statt großer Gesten das Beiläufige, das Subjektive, das leicht zu Übersehende als Ereignis. Egal ob es ein blindes Mädchen auf einem Rummelplatz war oder die Taube im leeren Fenster einer Ruine neben einem steinernen Adler mit Hakenkreuz. Mehrdeutigkeiten statt Eindeutigkeiten. Straßenfotografie. Großstadtstraßenfotografie. Und immer wieder diese fellinihafte Ordnung in der Unordnung der menschlichen Dinge.

Selbst wo Fischer Massen fotografierte, zerfielen sie vor seinem Blick in nichtrevolutionäre Fellini-Kleingruppen. Immer scheinen die Menschen, so herausgelöst aus dem Zeitstrom, auf sich selbst zurückgeworfen. Ganz bei sich. Die Mächtigen in ihren Posen interessierten ihn nie, die sind nie ganz bei sich. Die Zukunft sei die Wahrheit des Heute? Aber welcher Fotograf fotografiert schon das Morgen? Solche Einsichten sind nicht verhandelbar, wenn man, kaum zwanzig Jahre alt, aus einem großen Krieg zurückkommt in seine zerbombte Heimatstadt und weiß, dass man ein Verschonter ist. 1945. So viel Ende und so viel Anfang waren nie.

Das Leben ist kein gerader Weg. Es ist eher das, was am Weg liegt. Wenn das, was am Weg liegt, auf das eigene Talent trifft, ist man wohl ein Glückskind. Zuerst begegnete Fischer die Bildhauerei. Hätte ihm die Westberliner Hochschule der Künste ein Stipendium gegeben, wäre er wohl Bildhauer geblieben. Aber sie gab ihm keins: Er habe schon im Osten studiert. So kehrte er zurück nach Weißensee, wo der Formalismusverdacht gerade den einzigen Fotografieprofessor zu Fall brachte. Ließ sich mit Licht und Schatten nicht viel leichter modellieren? Fischer nahm den vakanten Posten ein, als Oberassistent mit Lehrauftrag. Sein Kontakt zur Fotografie hatte sich bisher auf das Entwickeln von Röntgenbildern beschränkt, „bei mir an der Ecke, weil ich Geld brauchte“. Aber nun mussten alle Studenten die Grundlagen der Fotografie bei ihm erlernen. Vielleicht wurde er deshalb ein so außergewöhnlicher Lehrer, später in Leipzig und noch heute an der Berliner Ostkreuz-Schule für Fotografie. Wegen der Einsicht, dass Fotografie eigentlich nicht lehrbar ist.

Man muss nicht 83 Jahre alt sein, um die steile Treppe in Fischers Haus als Zumutung zu empfinden. Fischer muss über diese Treppe, draußen wartet das Rindvieh, vor ihm sitzt der Schäferhundmischling, den er eben erst aus dem Tierheim geholt hat. Er legt die Fotobände seiner Schüler auf den Tisch, der erste ist von seiner Frau Sibylle Bergemann. Auf einem der Fotos ganz vorn hängen Marx und Engels in der Luft.

Sie zeigen nicht die Entsorgung eines Denkmals, sondern seine Errichtung Anfang der Achtziger. Fischer war mitverantwortlich für die Fotostrecke auf den Stahlstelen am Marx-Engels-Forum, im Lochkartenlook. Andere würden jetzt eine Erklärung versuchen, aber Fischers Gesicht zeigt rückhaltlose Begeisterung. Und schon ist er bei einem Raubüberfall 1978 in New York. Dort sollten sie nach Fotos aus der Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung suchen, für die Stelen in Berlin. „Move and you are dead!“, hörte er die Stimmen der Diebe, dieser Abgesandten der amerikanischen Arbeiterbewegung auf Abwegen. Es klang ihm wie „Über allen Gipfeln ist Ruh‘ …“, so friedlich, so sanft, so weit weg, vor allem nach diesemTritt ins Kreuz, den er manchmal heute noch fühlt. Die Fotofahnder aus Berlin hatten in der falschen Etage aus dem Fahrstuhl geschaut, wo die, unter deren Stiefeln sie jetzt lagen, gerade ein Werbebüro ausraubten.

Fischer ist ein grandioser Erzähler, draußen dringen tiefe klagende Laute aus Törtys freiheitlicher Rinderseele durch die Oktobernebel, aber wir sind in New York 1978. Licht-, Farb- und Zeitverhältnisse – Fischer vergisst nichts. „Move and you are dead!“ Sein Fazit: Er liebt New York. Es kommt gleich nach Äquatorialguinea.

Der Bildband „Situation Berlin“ mit Fotos aus beiden Teilen der Stadt, im Frühjahr 1961 angekündigt, erschien 42 Jahre später. Denn nach dem Mauerbau, so lautete der Befund der DDR, gäbe es keine „Situation Berlin“ mehr. Und: Sollte man das große Fernweh der DDR-Bürger wirklich mit einem Buch kitzeln? „New York“ erschien erst 1988. Heiner Müller schrieb zu den Fotos: „Bevor man stirbt, sollte man New York gesehen haben, einen der großen Irrtümer der Menschheit.“ Fischers Fotos behaupteten das Gegenteil.

Nach dem Mauerfall standen viele DDR-Fotografen unter Staatskunstverdacht. Zu der Zeit, als die neue Kanzlerin der Leipziger Hochschule für Graphik und Buchkunst den Studenten die plötzliche Abwesenheit ihres Lehrers erklärte – man habe ein neues Gesellschaftssystem und neues Geld, also bekäme man auch neue Professoren – , fand Fischers erste Ausstellung nach 1990 statt: in New York.

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