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Berlinale-Chef Dieter Kosslick auf der Pressekonferenz der Internationalen Filmfestspiele Berlin zur 66. Berlinale.

© dpa

Berlinale-Chef Dieter Kosslick im Interview: "Wir wollen klar machen, in welchen Zeiten wir leben"

Berlinale-Chef Dieter Kosslick über Flüchtlingsfilme, Geisterwelten, Meryl Streep, Spike Lee – und warum nicht mehr deutsche Filme im Wettbewerb laufen. Ein Stichwort-Interview.

Herr Kosslick, was sagen Sie ...
... zur Willkommenskultur?

80.000 Geflüchtete in Berlin, da wollen wir klarmachen, in welchen Zeiten wir leben. Wir haben mehrere Projekte gestartet: Eine Willkommensklasse besucht einen Film der Reihe Generation, wir bitten um Spenden, bieten Hospitanzen an, und ein Sterne-Koch tut sich in einem der Foodtrucks auf der Alten Potsdamer Straße mit der Initiative „Über den Tellerrand kochen“ zusammen. In Begleitung eines Paten können jeweils bis zu vier Geflüchtete eine Filmvorführung besuchen, auch dafür kooperieren wir mit Flüchtlingsinitiativen. Damit es keinen weiteren Anti-Flüchtlings-Shitstorm gibt: Auch andere sozial Benachteiligte bekommen bei der Berlinale ermäßigte Tickets, das ist schon seit Jahren so.

... zum Lampedusa-Film „Fuocoammare“ im Wettbewerb?

Der italienische Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi lebt seit einigen Jahren auf der Insel, er zeigt zwei Parallelwelten: wie die Menschen dort auf Booten ankommen und wie ein ganz normaler Junge dort aufwächst. Irgendwann erschrickt man, weil man begreift, dass dieser Junge eine Heimat hat, genau das, was die anderen verloren haben.

... zu den anderen Filmen zum Thema Migration und Vertreibung?

In „Life at Borders“ in der Generation-Reihe nehmen Jugendliche aus den Flüchtlingslagern von Kobane und Singal die Kamera selbst in die Hand. Viele Filme denken auch über die Ursachen von Migration nach. Zum Beispiel die portugiesische Bestseller-Adaption „Cartas da guerra“ im Wettbewerb, das eindringliche Porträt eines Lazarettarztes im Angolakrieg. Man ahnt, wie der Krieg Menschen traumatisiert – viel schlimmer, als die Nachrichten es zeigen können. Die Politiker sagen ja gern: Wir müssen an die Ursachen ran. Das bedeutet aber auch, nicht nur den IS oder Assad zur Verantwortung zur ziehen. Viele Länder, auch europäische, tragen eine Mit-Verantwortung. Im arabischen Raum fing das vor hundert Jahren an, wie wir vergangenes Jahr in Werner Herzogs Wettbewerbsfilm „Queen of the Desert“ sehen konnten.

... zur starken Beteiligung Frankreichs?

Vier Filme alleine im Hauptprogramm! Da lasse ich mich gerne zu dem Satz hinreißen: Es gibt eine neue Nouvelle Vague in Farbe. Hautnah an der Wirklichkeit, nonchalant wie Mia Hansen-Loves „L’avenir“ oder André Téchinés „Quand on a 17 ans“ mit genauso weiblichem Blick, dazu zwei Komödien, die sich gewaschen haben. Bei Dominik Moll geht es unter anderem um Vegetarier, was mir als Vegetarier natürlich besonders gut gefällt, auch wenn sie nur teilweise gut wegkommen. Und Gérard Depardieu kommt mit „Saint Amour“, mit derselben Truppe wie 2010 bei „Mammuth“, und genauso verrückt. Manchmal ist die Lage hoffnungslos, aber nicht ernst.

... zur schwachen Beteiligung der Deutschen?

An den Filmen liegt es nicht. Gerne hätten wir „Wild“ von Nicolette Krebitz gezeigt, aber sie hatten sich bereits für die Weltpremiere in Sundance entschieden. Das ist bei deutschen Produktionen leider ein Ausschlusskriterium. Bei „Ein Hologramm für den König“ wollten Tom Tykwer und seine Berliner Firma X-Filme den Film mit Tom Hanks gern auf dem Festival präsentieren. Aber dann wurde entschieden, dass es einen weltweit gleichzeitigen Filmstart Anfang April gibt. Schade!

... zu den Amerikanern?

Die richtige Terminierung eines Films ist in den USA ein viel härteres Geschäft als bei uns. Natürlich hätten wir die Komödie „Hail, Caesar!“ von den Coen-Brüdern gerne als Weltpremiere gezeigt, aber er startet schon diese Woche in Amerika. Aber ich wäre doch mit dem Klammerbeutel gepudert, mich nicht trotzdem darauf einzulassen. George Clooney, Tilda Swinton, Josh Brolin, Channing Tatum, sie kommen alle. Ein Film über Hollywood und das Kino – ein Super-Eröffnungsfilm!

... zu den wenigen Frauen im Programm?

Wir haben zwei Regisseurinnen im Wettbewerb, sechs im Special-Programm, im gesamten öffentlichen Programm stammen 104 Filme von Frauen bei insgesamt 394 Filmen, dazu acht von 40 Vorführungen für Fachbesucher. Letztes Jahr waren es 115, mit einem Viertel bin ich trotzdem zufrieden. Dennoch könnten es immer noch mehr sein.

... zum Acht-Stunden-Film von Lav Diaz?
Der längste Film je im Wettbewerb, ich gebe zu, das ist mutig. Aber wir zeigen seit zwei Jahren auch Serien, und es gibt ja das Phänomen des Binge Viewing, des Suchtguckens: Freitagabend bis Montagfrüh eine Staffel nach der anderen. Da sind acht Stunden doch nichts! Roter Teppich morgens um 9 Uhr, das gab’s auch noch nie. Es geht in Lav Diaz’ Film „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ um Kolonialismus, auch das ist eine frühe Ursache für Migration. Die Spanier landeten 1521 auf den Philippinen, im Film sieht man auch den Clash zwischen dem Katholizismus der Spanier und der Spiritualität der Philippinen. Es braucht Zeit, das zu erzählen. Ein Geister-Film, im undurchdringlichen Urwald, der Wahnsinn. Auch die Revolution gegen die Konquistadoren ist Thema, der Unabhängigkeitskampf Ende des 19. Jahrhunderts.

Kosslick über den Teddy und die Oscar-Debatte

Berlinale-Chef Dieter Kosslick auf der Pressekonferenz der Internationalen Filmfestspiele Berlin zur 66. Berlinale.
Berlinale-Chef Dieter Kosslick auf der Pressekonferenz der Internationalen Filmfestspiele Berlin zur 66. Berlinale.

© dpa

Herr Kosslick, was sagen Sie ...

… zur Debatte über den Rassismus und die Oscar-Academy?

Wir haben Spike Lee mit seiner Hip-Hop-Oper „Chi-raq“ über Waffen und Gewalt in der schwarzen Community in den USA im Programm, er ist ja einer der Wortführer des Oscar-Protests. Spike Lee kommt mit seinen Hauptdarstellern, ebenso Don Cheadle mit seinem Film über Miles Davis. Es ist hoffentlich eine bewusstseinsschärfende Debatte, denn leider stimmt es ja, dass auch Kunst und Kultur vor Diskriminierung nicht gefeit sind.

… zu 30 Jahre Teddy Award?

Als der Teddy erfunden wurde, gab es noch den Paragrafen 175. Damals konnten Schwule ins Gefängnis kommen, bloß weil sie schwul waren. Meine Generation hat das noch so gelernt: Wir nannten sie 175er – die blanke Diskriminierung. Und mitten in dieser Eiszeit haben Manfred Salzgeber und Wieland Speck vom Panorama erstmals den Teddy verliehen, übrigens an Pedro Alomodóvar und Gus van Sant, die kannte damals kein Mensch. Leider hat sich auch dieses Thema nicht erledigt: In vielen Weltregionen werden Schwule und Lesben bis heute verfolgt und hingerichtet. Der Kampf um sexuelle Diversifikation hat auch zutiefst mit dem Kampf um Menschenrechte zu tun.

… zu den Filmen über die Todesstrafe?

Im Forum zeigen wir einen Film, der originär aus Saudi-Arabien stammt. Ich war letzten Sommer dort und habe den Regisseur Mahmoud Sabbagh getroffen, ein mutiger Mann. Einige Monate später wurden dort 47 Menschen hingerichtet, darunter hohe schiitische Geistliche und Regimekritiker. Die Todesstrafe ist in drei Panorama-Filmen Thema. Es gibt die Todesstrafe immer noch, weltweit in über 50 Ländern.

… zu Meryl Streep als Jury-Präsidentin?

Als sie 2012 den Goldenen Ehren-Bären erhielt, war die Hölle los. So viele Ovationen, an einem grauen Wintertag! Und Richard von Weizsäcker sagte zu ihr, Maggie Thatcher sei in Wahrheit noch viel schlimmer gewesen als ihre „Iron Lady“ im Film. Es war ein toller Abend, Meryl Streep meinte dann, sie wolle gerne mal länger nach Berlin kommen. Irgendwann fasste ich mir ein Herz, sie zu fragen, ob sie Jury-Präsidentin werden will, und sie sagte zu! Manchmal sind die kompliziertesten Dinge ganz einfach.

… zum Goldenen Ehren-Bären für Michael Ballhaus?

Er ist einer der ganz großen Meister seines Fachs, hat die Kamerabewegung revolutioniert und mit zwei der weltweit bedeutendsten Autorenfilmer zusammengearbeitet, mit Fassbinder und Scorsese. Auch der Berlinale hat er unvergessliche Bilder beschert, z. B. die subjektive Perspektive einer Billardkugel in „The Color of Money“.

… zur altmodischen Institution eines Filmfestivals in Zeiten mobiler Bilder?

Wir sind immerhin so mobil, dass man die mit unserem World Cinema Fund koproduzierten Filme für drei Euro downloaden kann. Und wir verkaufen erstmals keinen Katalog mehr, sondern bieten Filminfos über Broschüren und unsere App an. Aber es soll bitte nicht so enden, dass eines Tages alle Leute nur noch zippend und zappend durch die Welt laufen, mit Papp-Kaffeebecher in der einen Hand und Smartphone samt Berlinale-Film in der anderen. Essen auf Rädern beim Berlinale Street Food, ja. Filme auf Rädern, das gibt’s bei uns nicht. Zur Berlinale muss man schon selber kommen, auch im Kiez.

… zum Besonderen dieses Jahrgangs?
Die 66. Berlinale kommt der Wirklichkeit hoffentlich besonders nahe, mit Raum für die Themen, die die Welt bewegen. Wir mischen uns sein, engagieren uns. Gesellschaftliche Verantwortung und roter Teppich, das ist es.

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