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Was uns 2011 erwarten könnte: Debatten-Führer für Deutschland

Hitler, Monarchie, Staatsoper, Feminismus, Schloss: Was uns im neuen Jahr erregen wird. Ein Überblick.

DIE ZEIT IST REIF FÜR EINEN NEUEN NAZI–STREIT!

Seit vielen Jahren gibt es in Deutschland regelmäßig Debatten oder sogenannte Skandale, in denen es um das geistige Erbe von Adolf Hitler geht, um die Naziverbrechen oder in denen irgendjemand, bei dem dies nicht naheliegt, mit den Nazis verglichen wird. Vermutlich ist es unvermeidlich. Vielleicht ist es heilsam. Jedenfalls gehört es zu unserem Kulturbetrieb und ist als Ritual nicht wegzudenken. Aus Platzgründen einige wenige Beispiele, beginnend mit dem Jahr 1980.

1980 diskutiert man über die Fernsehserie „Holocaust“. 1983 veröffentlicht der „Stern“ die angeblichen Hitler-Tagebücher, Heiner Geißler gibt dem Pazifismus eine Mitschuld an Adolf Hitler. 1984 entsteht in Frankfurt der Großkonflikt um ein angeblich antisemitisches Theaterstück des Künstlers Fassbinder. 1985: die Weizsäcker-Rede zum Jahrestag des Kriegsendes, große Debatte. Im gleichen Jahr ehrt Helmut Kohl gefallene Soldaten der Waffen-SS, Bitburg, mittelgroße Debatte. 1986: Historikerstreit! Außerdem vergleicht Kanzler Kohl den Russen Gorbatschow 1986 mit Goebbels. 1988 beginnt die Debatte um das Berliner Holocaust-Mahnmal, sie dauert elf Jahre. Ebenfalls 1988: die Jenninger-Rede.

Fünf Jahre Wiedervereinigungsdebatte.

1993: Debatte über den Film „Schindlers Liste“. 1996, die Goldhagen-Debatte, Stichwort: „Hitlers willige Vollstrecker“. 1996/97, der Streit über die Wehrmachtsausstellung. 1998, erste Walser- Debatte, der Autor Martin Walser spricht von der „Auschwitz-Keule“. 1999, Kosovo-Krieg, Joschka Fischer begründet die deutsche Kriegsbeteiligung mit den Naziverbrechen. 2001, Norman-Finkelstein-Debatte, Stichwort: Holocaust-Industrie. 2002, zweite Walser-Debatte, zum Buch „Tod eines Kritikers“. Außerdem: Möllemann-Debatte und die dritte Kohl-Debatte, Helmut Kohl vergleicht Wolfgang Thierse (SPD) mit Hermann Göring (NSDAP).

Schließlich, 2007: Eva Herman – die erste Frau, die eine Nazidebatte in Gang setzt. Aus all dem folgt, dass eine neue Hitler-Nazi-Debatte unmittelbar bevorsteht, es ist nach drei Jahren Pause an der Zeit. Vielleicht vergleicht Andrea Nahles die Ministerin Ursula von der Leyen mit Magda Goebbels, beide sind blond und kinderreich. Harald Martenstein

KARL THEODOR I. MUSS KÖNIG VON DEUTSCHLAND WERDEN!

Könnte sein, dass die Debatte des Jahres bereits nächste Woche losgeht, zum Dreikönigstreffen. Wenn die FDP sich tatsächlich durchringen sollte, ihren Vorsitzenden abzusägen. Ein Sturm der Entrüstung erhebt sich: Was, der Guido weg? Da hatten wir uns gerade soo an ihn gewöhnt!

Das ist ja die Crux der Demokratie: Kaum gewählt, sind unsere schönsten Köpfe schon wieder Geschichte. Weggekreuzt in der Wahlkabine, gemeuchelt von Parteifreunden, und sogar den gesamtadligen Richard von Weizsäcker haben sie raus gekickt damals nach zwei Amtsperioden. Her mit der Monarchie, wird es laut erschallen – es muss ja nicht gleich der Preußenkaiser von dunnemals sein, ein fescher König tut's auch. Der erste würde klar mit absoluter Mehrheit gewählt: KT („Kann Thron“) zu Guttenberg mitsamt seiner Stephanie. Wäre auch jammerschade, das schöne Paar ginge zuvor durch irgendein Skandälchen baden. Oder, o Horror, durch nochmal Rot-Grün.

So ein Königshaus unter Karl Theodor I. hätte es in sich. Und Platz für alle, die wir Schnelllebigen ausmustern irgendwann: den Helmut und den Harald Schmidt auf der Onkel-Linie, Prinz Poldi und Prinzessin Lena, Rita Süssmuth als Queen Mum, dazu Protokolltante Senta Berger und den zärtlich „Stoiber Edmund“ gerufenen Problembär, das Haustier bei Hofe. Für alle, alle wär’ ein Plätzchen Ewigkeit frei. Und eine Briefmarke bekämen sie irgendwann auch.

Natürlich fragt Debatten-King Frank I. als erster in der „FAZ“: Wozu überhaupt noch Demokratie? Wählen fällt bekanntlich heute schon lästig. Und unser herzallerliebster Kapitalismus funktioniert doch auch ohne ganz prima, von Saudi-Arabien bis China! Die schärfste Gegenposition vertritt bis zuletzt die Linke, deren Landesverband Saar selber hätte den König stellen wollen. Und Henryk M. Broder, aber der ist eh immer dagegen.

Bleibt der Guido von der FDP: Wohin mit ihm bei Hofe, bis auch er auf der Briefmarke klebt? Na, Narr könnte er werden, der Job ist noch frei. Jan Schulz-Ojala

ALICE SCHWARZER ALS „BILD“-CHEFREDAKTEURIN!

Seit der Prozess gegen Jörg Kachelmann vor dem Mannheimer Landgericht läuft, ist auch Deutschlands selbst ernannte oberste Feministin dabei: Alice Schwarzer. Live im Gerichtssaal, als Reporterin nicht nur für „Emma“, sondern auch für „Bild“. Auf „bild.de“ erklärt Schwarzer im Umfeld von „Shakiras sexy Tanz“, Rihannas „Only Girl“ und Nokia-Werbespots („Connecting people“), warum sie das tut: Angesichts der Parteinahme von Blättern wie „Zeit“ oder „Spiegel“ pro Kachelmann sei es nötig, dass „in einem tagesaktuellen, meinungsprägenden Blatt auch die Sicht des mutmaßlichen Opfers ernst genommen wird.“

Wäre die Angelegenheit nicht so ernst, deutete sie nicht darauf hin, dass sich männliche Gewalt in der Ehe oder in Beziehungen in einer undurchdringlichen Grauzone abspielen, müsste man sagen: „Bild“ kämpft für sie! Für die Sache der Frauen! Man könnte auch sagen: keine Atempause, Feminismusdebatten werden gemacht. Was eignet sich dafür besser als der Kachelmann-Fall? Bis Ende März geht der Prozess, bis dahin darf sich Schwarzer der Aufmerksamkeit nicht nur von zwölf Millionen „Bild“–LeserInnen (ja, bitte mit großem I!) sicher sein. Dass die Debatte unabhängig vom Prozessausgang weitergeht, auch dafür hat Schwarzer vorgesorgt: Im Frühjahr soll ein Buch von ihr über den „Fall Kachelmann“ erscheinen, gewissermaßen die extendend version der „Bild“–Berichterstattung. „Der Fall Kachelmann ist also exemplarisch und vielleicht der spektakulärste Prozess des Jahrzehnts“ schreibt der Kiepenheuer & Witsch Verlag in seiner Vorschau. Exemplarisch ist aber leider auch der geschickte crossmediale Umgang Schwarzers mit dem Fall – vor der Debatte kommt die mediale Wirkung. Und vor die ach so ernst genommene Sicht des mutmaßlichen Opfers schiebt sich zuerst das Gesicht von Alice Schwarzer. Sie sei „grundsätzlich“ der Meinung, hat Schwarzer übrigens auch gesagt, „dass 12 Millionen „Bild“-LeserInnen ernst zu nehmen sind“. Da muss kein Schelm sein, wer sich vorstellt: Schwarzer will „Bild“–Chefredakteurin werden. Das wäre der Sieg des Feminismus auf ganzer Linie, von Emma über Axel. Nur die Seite-1-Mädchen würden blöd aus der Wäsche schauen. Gerrit Bartels

DAS SCHILLERTHEATER MUSS STAATSOPER BLEIBEN!

Im April versetzt ein spektakulärer archäologischer Fund die Hauptstadt in Aufregung: Bei Ausschachtungsarbeiten an der Staatsoper wird eine Thing-Stätte entdeckt, die beweist, dass Berlin bereits lange vor der ersten urkundlichen Erwähnung eine Kulturmetropole war. Analysen zeigen, dass sich der altgermanische Versammlungsplatz bis unter den Bebelplatz erstreckte. Sofortiger Baustopp, das Abgeordnetenhaus fordert ein öffentlich zugängliches Ausgrabungsfeld mit Dokumentationszentrum. Das wiederum ruft Micha Ullmann auf den Plan, der sein Mahnmal zur Bücherverbrennung retten will. Um die verschiedenen zeitgeschichtlichen Ebenen durchschaubar zu machen, wird eine Komplettverglasung des Platzes wie auch des Staatsopern-Parketts erwogen, dann aber aus Kostengründen verworfen. Nachdem die frisch vereidigte Kultursenatorin Renate Künast in einem Tagesspiegel-Interview die Frage gestellt hat, ob Berlin überhaupt drei Opernhäuser braucht, zerbricht die neue rot-grüne Landesregierung. André Schmitz, dem neuen Vorsitzenden der SPD-Parlamentsfraktion, gelingt es noch am selben Tag, mit den Stimmen der West-Berliner CDU einen Beschluss durchzupeitschen, der vorsieht, den Staatsopern-Standort Unter den Linden komplett aufzugeben. Dafür wird Paulicks Rokoko-Saal originalgetreu ins Schillertheater eingebaut, einschließlich eines vierten Ranges und einer Dachterrasse. Auch die historische Säulenfassade soll an der Bismarckstraße aufgestellt werden. Generalmusikdirektor Daniel Barenboim verlängert sich daraufhin seinen Vertrag bis St. Nimmerlein. Frederik Hanssen

DIE SCHLOSS-DEBATTE NIMMT EINE ÜBERRASCHENDE WENDUNG!

Debatten sind wie Feuerwerkskörper. Sie zünden oder zünden nicht, sie trotzen jeder Krise, kommen immer wieder. Einziger Unterschied: Wir basteln sie selbst, Debatten werden nicht in China hergestellt. Berlins Schlossfreunde müssen sich auf eine stürmische Zeit einstellen. Erst bricht Euphorie aus, weil das Projekt doch schon Ende 2011 im Rohbau stehen wird. Allerdings gibt es erneut eine Debatte um die Fassade. Die alten Teile, das wird ein denkmalpflegerisches Gutachten ergeben, eignen sich nicht für die jetzt jedes Jahr zu erwartenden harten Berliner Winter. Die Putten schlottern, die Barockpracht platzt im Frost. Angela Merkel erkennt, dass sie keine Chance auf Wiederwahl hat und entdeckt ihr Ostherz. Auf ihre Anregung hin wird das Schloss mit einer wärmenden Palast-der-Republik-Außenhaut verkleidet, nach dem Vorbild der Schlossattrappe, die einst der Boddien-Förderkreis in der Mitte der Hauptstadt aufgestellt hat. Der Senat lässt daraufhin das Zentrum fluten, das hat eine erbitterte Debatte über Liegeplätze, Luxusjachten und die Höchstgeschwindigkeit auf innerstädtischen Wasserwegen zur Folge. Der Dom ist nicht mehr trockenen Fußes zu erreichen, was ein gewisses Venedig-Gefühl vermittelt. Die Tourismusbranche ist dafür, die Traditionsverbände schäumen. Der Bundestag beschließt, dass gesellschaftliche Debatten generell nur noch im Plenarsaal abgehalten werden – mit einer festgelegten Zahl von Rednern und vor leeren Sitzreihen, wie in dem hohen Hause üblich. Der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien lobt einen Wettbewerb für ein nationales Debatten-Denkmal aus. Es soll seinen Platz am Alex haben, dort, wo einst die S-Bahn fuhr. Rüdiger Schaper

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