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Rekonstruiert: die Raucherecke im Amtszimmer von Ernst Reuter, 1948.

© Michael Setzpfandt

Neue Dauerausstellung im Märkischen Museum: Eine Stunde, 20 000 Jahre

„Berlin Zeit“: Das Märkische Museum präsentiert seine neue Dauerausstellung. Dabei zeigt sich: Berlin wurde nicht erst 1237 gegründet.

Hunde-Steuermarken aus der Zeit um 1900, eine ganze Vitrine voll. Wenn es um Geldbeschaffung geht, war die Obrigkeit schon immer kreativ. Das Skelett eines Hausschweins, vor kurzem bei Bauarbeiten in der Stadtmitte gefunden. Es lag in einem Keller, dessen Holz vor 1137 geschlagen wurde. Somit beweist das Borstenvieh: Berlin wurde nicht erst 1237 gegründet, es ist älter als bislang angenommen. Eine Jukebox, aus der unentwegt Berlin-Songs dröhnen, vom „Insulanerlied“ über Conny Froboess’ Schlager „Pack’ die Badehose ein“ und die Beatpolka „In der Mokka-Milch Eisbar“ von Thomas Natschinski bis zu „Sunshine“ von DJ Motte und „Blumen aus Marzahn“ vom Aggro-Rapper Sido. Die Wand dahinter ist mit Plattencovern tapeziert. Berlin, du kannst so laut sein, so lustig und feierbiestig.

Die neue Dauerausstellung des Märkischen Museums erzählt die Geschichte Berlins von der Eiszeit bis nach dem Mauerfall, und zu ihren Höhepunkten gehören auch einige Objekte der eher unscheinbaren Art. Da hängt etwa Edvard Munchs berühmtes Ganzkörperporträt von Walter Rathenau und ein Bildnis von Antoine Pesne, das Friedrich II. als Kronprinzen zeigt. Aber interessanter ist doch ein kleines Tagebuch, in dem ein Berliner ab 1939 die alliierten Luftangriffe auf die Stadt verzeichnet hat. Weil in den knappen, eng gesetzten Aufzeichnungen die ganze Angst dieser Jahre zu spüren ist und die Erwartung des Untergangs.

Die Dauerausstellung, die mit einem Tag der Offenen Tür am Sonntag eröffnet wird, setzt auf Reduktion. Auf 1500 Quadratmetern in zwei Etagen werden 750 Exponate präsentiert. Das ist nicht viel. Eine Stunde soll dem Durchschnittsbesucher für den Rundgang genügen. Wer möchte, kann den Aufenthalt vertiefen und aufgezeichneten Gesprächen mit Zeitzeugen zuschauen. Die Tonspur des Audioguides, der den Besucher durchs Haus begleitet, ist 74 Minuten lang. So bekommt der Titel der Ausstellung eine doppelte Bedeutung: „Berlin Zeit“. „Klarheit statt Überforderung“, lautet das Credo von Paul Spies, dem Direktor der Stiftung Stadtmuseum. Als er Anfang 2016 aus den Niederlanden, wo er das Amsterdam Museum geleitet hatte, nach Berlin kam, ging es ihm von Anfang an darum, zu entrümpeln und zu beschleunigen.

Relikte der Vergangenheit

Das Märkische Museum nennt er „ein schwieriges Gebäude, ein wunderbares Gebäude“. 1904 nach Plänen von Ludwig Hoffmann errichtet, zitiert es märkische Baustile aus mehreren Jahrhunderten. 500 Bauspolien wurden in dem sakralartig wirkenden Haus wiederverwertet. Die Architektur spricht, sie fungiert schon von sich aus, so Spies, als „Virtual-Reality-Rundgang durch die Geschichte“. Es gibt große und kleine, hohe und niedrige, dunkle und helle Räume. Eine Herausforderung für moderne museologische Konzepte. Für die neue Präsentation ist durchgelüftet worden. Wo immer es ging, wurden Fenster wieder geöffnet, die hinter Hängeflächen verschwunden waren.

Die Ereignisgeschichte war für den Kurator Peter Lummel zweitrangig, er konzentriert die Erzählung in 18 Themenräumen, die jeweils mit einer Jahreszahl markiert sind. Dabei folgen er und sein Team drei Leitgedanken. Veränderung fand in Berlin immer durch Zerstörung statt, nicht nur in Kriegszeiten. Konflikte zwischen Herrschern und Bürgern wurden in Berlin heftiger und produktiver ausgetragen als andernorts. Und – „das mag abgedroschen klingen“, so Lummel – großgeworden ist Berlin als vielfältige und offene Stadt. Dafür steht etwa das Potsdamer Toleranzedikt, mit dem der Große Kurfürst 1685 um hugenottische Einwanderer warb, indem er sie von Steuern und Zöllen befreite. In der Ausstellung ist es zusammen mit einem Stillleben von 1699 zu sehen, das eine Mohrrübe mit menschenähnlichen Gliedmaßen zeigt. Mohrrüben waren erst kurz zuvor von Holländern in Brandenburg eingeführt worden.

Die Geheimnisse von Köpenick

Begrüßt wird der Besucher von einer gigantischen comicartigen Berlin-Karte, in die Bildschirme eingelassen sind. Da erzählt eine BVG-Fahrerin der U-Bahnlinie 1 aus ihrem Alltag, der Rapper Romero führt in die Geheimnisse von Köpenick ein, und Paul Spies kehrt den Holländer heraus, indem er auf dem Fahrrad durch die Stadt fährt. Es folgen weitaus seriösere Objekte. Stadtgründungsurkunden, behängt mit Siegeln. Ein Modell und ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert, als das Stadtschloss noch ein Renaissancebau war. Helme, Dolche, frühe Handfeuerwaffen. Die lebensgroße Figur eines Pestarztes, eine Neuschöpfung, erinnert an einen Außerirdischen. Sein Gesicht steckt in einem eisernen Schnabel, der einen essiggetränkten Schwamm und Kräuter enthält. Die Augen blicken durch kleine gläserne Öffnungen.

In manchen Arrangements verdichtet sich eine ganze Epoche. Königin Luise ist auf einem Porträt von 1812 als Verkörperung preußischer Unbeugsamkeit vor dem Brandenburger Tor platziert. Ihr gegenüber reitet Napoleon auf einem Kupferstich durch das Tor, gefolgt von den Marschkolonnen seiner Soldaten, die das besiegte Land besetzen. Etwas weiter steht ein Pferdekopf von Johann Gottfried Schadow, der einst zur Quadriga gehörte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er das einzige Relikt, das von ihr übriggeblieben war. Die Quadriga, die heute auf dem Brandenburger Tor steht, ist nach Gipsabgüssen nachgefertigt worden.

Kennedy in Schöneberg

Geschichte vergeht nicht, manchmal kehrt sie überraschend zurück. Eines der beeindruckensten Ausstellungsstücke ist ein Mauerrest, der auf dem Tempelhofer Feld ausgegraben wurde. Er stammt vom Columbia-Haus, in dem die Nationalsozialisten 1933 ein Konzentrationslager eingerichtet hatten. Schlagringe und Totschläger sind zu sehen sowie ein Video, das von der Shoah Foundation zur Verfügung gestellt wurde. Paul Koby, ein ehemaliger Häftling, erzählt von seinen Torturen. „Sie haben mich nicht verhört, sie haben mich gleich gefoltert.“ Er wurde an den Armen aufgehängt, mit einer Peitsche traktiert. Die Chronologie endet nach dem Mauerfall. Fensterhohe Transparente zeigen mit MPs bewaffnete Grenzsoldaten, Panzer am Checkpoint Charlie, Kennedy in Schöneberg. Auf einem Bildschirm laufen Jubelbilder von der Grenzöffnung. Die letzten Vitrinen sind leer. Hier sollen Besucher mit Filzstiften ihre Berlin-Gedanken hinterlassen.

Die Dauerausstellung ist zunächst für eine Übergangszeit konzipiert. Denn das Märkische Museum wird Ende 2019, Anfang 2020 für eine umfassende Sanierung geschlossen. Gleichzeitig soll das Marinehaus, das am Köllnischen Park gleich gegenüber dem Hoffmann-Bau liegt, zu einem museumspädagogischen Zentrum umgebaut werden. Stadt und Land haben bereits 65 Millionen Euro für die Baumaßnahmen bereit gestellt.

Ungeduld als Tugend

Die Arbeiten könnten Ende 2023, Anfang 2024 abgeschlossen sein. Paul Spies ist 58 Jahre alt, er hofft die Wiedereröffnung „noch vor meiner Pensionierung“ zu erleben. Allerdings wisse man nie, welche Probleme bei einem Altbau aufträten, wenn man erst einmal bis zum Keller gelangt sei. Die Dauerausstellung könnte eventuell während der Sanierung an einem anderen Ort gezeigt werden, etwa im Ephraim-Palais, das die Stiftung Stadtmuseum derzeit mit Wechselausstellungen bespielt. „Meine Rolle ist immer Dampf zu machen“, sagt Spies. Er ist ungeduldig, auch im eigenen Interesse.

Märkisches Museum, „Berlin Zeit“, Eröffnung am Sonntag, 10 Juni, 14 - 22 Uhr. Dann Di–So 10–18 Uhr

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