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Chic von 1961. Nach dem Brand des alten Müggelturms von 1890 baute ein Studentenkollektiv der Kunsthochschule Weißensee einen neuen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Türme (9): Ach, wenn’s hier doch romantisch wär

Erst geht es 88 Meter den Berg hinauf, dann noch einmal 30 Meter über die Turmtreppe: Vom Müggelturm aus hat man eine herrliche Aussicht: Der Blick ungehindert über die urbanen Weiten der Hauptstadt.

Schon die Bushaltestelle! „Rübezahl“ heißt sie. Wer denkt da nicht sofort an Nächte mit Taschenlampe und Märchenbuch unter der Decke? An schattige Bergrücken, taubenetzte Wälder und Sonnenlicht, dass sich seinen Weg durchs Blätterdickicht bahnt? Hier also, in Rübezahl, steigt aus, wer zum Müggelturm will. Für einen, der aus Franken kommt, ist ein Ausflug in die Müggelberge auf jeden Fall eine Reise in die Kindheit. In das Land, das mit Mittelgebirgen gesegnet ist, wo es so selbstverständlich ist, dass sich die Landschaft wellt, hebt und senkt. Erst später, im eiszeitgeplätteten norddeutschen Tiefland, merkt der Erwachsene, wie schön das war. Und freut sich über jede Erhebung.

Nach ein paar Minuten durch den Forst schimmert linkerhand der Teufelssee im Gebüsch wie ein Gebirgssee. Hoch über ihm ragt der Turm schon auf. Und mit einem Mal steigt der Boden an, ziemlich steil sogar. 114 Meter erreichen die Müggelberge an ihrer höchsten Stelle, dem Großen Müggelberg, wo sogar ein Gipfelkreuz aufgestellt wurde. Es kann, wie so vieles in Berlin, nur ironisch gemeint sein. Ein Südtiroler oder Schweizer, selbst ein Franke würde darüber nicht mal lachen, eher verschämt zu Boden gucken.

Immerhin: Die 114 Meter sind echte, richtige Natur, nicht geschummelt wie der Teufelsberg im Grunewald, der ja bekanntlich ein künstlich aufgeschütteter Schutthaufen ist. Das Bergsteigergefühl verliert sich trotzdem schnell: Eine massive Treppe erleichtert den Weg nach oben, kraxeln muss hier niemand. Wir sind ja immer noch in der Großstadt. Nix mit Waldeinsamkeit. Ein Radler brettert heran, er ist – wie bei dieser verhaltensauffälligen Spezies üblich – in eine enge Wurstpelle mit schrillen Farbapplikationen gestopft. Nach zehn Minuten ist man schon oben.

Der Müggelturm ist nicht im eigentlichen Sinne schön, eher sieht er aus wie ein geschupptes Reptil. Das liegt an den in den Beton der Fassade gezogenen, ornamental gemeinten Vertiefungen und den viel zu großen Fenstern. Aber im Vergleich zum Zustand der Gebäude nebenan ist der Turm in blendender Verfassung. Ein Schild informiert, dass er in den 90er Jahren mit Geldern aus dem EU-Fonds für regionale Entwicklung saniert wurde. Daneben bleckt ein ruinöser, schuttstarrender Rohbau seine Zähne. Zu DDR-Zeiten war dies eine beliebte Ausflugsgaststätte, heute ist sie ähnlich gruselig wie die Abhöranlage auf dem Teufelsberg, nur viel kleiner.

Aber grün ist die Hoffnung, und grüne Netze und Bauzäune überziehen das ganze Elend, eine Sanierung scheint im Gang. Lang, kompliziert und unschön ist die Geschichte des Areals nach 1990, ein Investor aus Nordrhein-Westfalen hat die Anlage verfallen lassen, vor einigen Jahren erst konnte der Liegenschaftsfond den Kaufvertrag rückabwickeln.

Am 1. Mai gab’s Kuchen und Discomusik am Turm, seit diesem Tag ist der Köpenicker Projektentwickler Matthias Große neuer Eigentümer. Matthias – das klingt wie „Messias“, und als solchen sehen ihn viele eingefleischte Müggelturm-Fans zur Zeit: als Retter. Normalerweise baut er Einkaufszentren und Wohnungen, jetzt will er hier die alten Sichtachsen zum Alex wieder freilegen, ein Café und einen Pool eröffnen, auch standesamtliche Trauungen sollen möglich sein.

Selbst wem sich beim Stichwort „Eventgastronomie“ normalerweise die Nackenhaare aufstellen, nimmt das in Kauf, solange hier wieder Leben einkehrt. Allerdings gibt es bereits wieder Schwierigkeiten. Die Politik im Bezirk sei auf seiner Seite, sagt Große, aber nicht unbedingt die Verwaltung. Die vom Vorgänger übernommene Betriebsgenehmigung sei wirtschaftlich nicht umsetzbar und muss geändert werden. „Die Einstellung einzelner Entscheidungsträger in der Verwaltung erleichtert mir die Lösung dieser Aufgabe nicht.“ Klingt nicht nach einer raschen Lösung.

Dann lieber schnell in den Turm selbst rein. Eintritt zwei Euro. Das Treppenhaus fühlt sich schmutzig an. Graffiti, Schriftzüge, Tags überall. Unbekannte Hände haben Liebhabervitrinen aufgehängt, sie erzählen, so gut es geht, die Geschichte des Bauwerks. Notgedrungen geht ihr Blick aus der hässlichen Gegenwart zurück ins Damals, „als alles noch schön war“, wie unter einem gelbstichigen Foto von 1961 steht. Schicke rote Busse aus DDR-Produktion, Trauben von Menschen auf der Terrasse.

Eigentlich ist der Turm viel älter als die DDR, der Köpenicker Wäscherei-Unternehmer Carl Spindler (ja, der, nach dem Spindlersfeld benannt ist!) ließ den ersten Müggelturm, der eigentlich auch schon der zweite war, 1890 in Holzbauweise errichten. Irgendwie russisch sah er aus, wie eine sibirische Holzkirche mit spitz zulaufendem Dach. Ähnlich dem eine Felsformation vortäuschenden Wasserfall im Kreuzberger Viktoriapark war auch der Müggelturm Ausdruck der Sehnsucht eines aufstrebenden Bürgertums nach aufregenderen, „romantischeren“ Landschaftsformen als sie Berlin bieten konnte. Damals gab es noch kein Easyjet, mit dem man sein Fernweh billig hätte stillen können, aber man wusste sich zu helfen und baute das, was fehlte, einfach nach. Den Krieg überlebte der alte Turm, nicht aber den Brand von 1958 – dabei sollte doch einfach nur das Restaurant erweitert werden. Drei Jahre später stand der Nachfolger, entworfen von einem Studentenkollektiv der Kunsthochschule Weißensee.

Beim Aufstieg erweist sich, wie sinnig die großen Fenster dann doch sind. Mit jeder Etage weitet sich der Blick. 30 Meter ist der Turm hoch, der kleine Müggelberg, auf dem er errichtet wurde, zählt 88 Meter, ganz oben steht man also auf immerhin 118 Metern, für Berliner Verhältnisse spektakulär. In den Müggelbergen wird die Berliner Geografie doch ein wenig aufregend, der Höhenzug besteht aus eiszeitlichen Ablagerungen, die völlig isoliert im Berliner Urstromtal liegen, ohne Verbindung zu den Hängen des Teltow oder des Barnim. Im Süden leuchtet die Dahme, auf der anderen Seite der Müggelsee, man kann die Müggelberge vollständig, unter Zuhilfenahme diverser Kanäle, auf dem Wasserweg umrunden. Im Westen liegt wie hingezuckert, die Innenstadt, der Teufelsberg, Potsdam.

Die Spitze des Müggelturms ist ein guter Ort zum Glücklichsein. Hanns Zischler schießt einem in den Kopf. Berlin sei zu groß für Berlin, schreibt er, mangels historischer Tiefe wuchert die Stadt ungezähmt in die Fläche, nichts hält sie auf, nichts definiert sie. Hier oben sieht man, dass es doch Bezüge gibt, dass auch eine Stadt wie Berlin, die ohne prägnante Elemente wie Küste, Berge oder große Flüsse auskommen muss, eingeordnet ist in ein System. Man bekommt ein Gefühl für Geografie. Im Südwesten eine Ahnung vom Fläming, hinter dem ja schon die träge Elbe ihre Bahn zieht. Im Nordosten Polen, und spiegelt sich in den Wolken nicht schon die Ostsee? Im Süden hockt das Tropical Island wie eine Schildkröte, von da ist es nicht mehr weit zur sächsischen Grenze.

Wieder unten, eine kurze Plauderei mit András Milak. Seit 1996 betreibt er hier einen Imbiss, er wohnt im Ortsteil Wendenschloss ganz in der Nähe. Der Müggelturm ist, vor allem nachts, auch eine Einladung zum Vandalismus, zwei Mal schon verlor der furchtlose Ungar durch Brandstiftung alles – und trotzdem macht er weiter. Warum? „Ich liebe diesen Ort“, sagt er lapidar, aber man kann sich denken, welche Geschichten in diesem Satz mitschwingen. Außerdem könne er das seinen Stammgästen nicht antun, einfach zu schließen. Milak hat eine eigene Webseite (www.imbiss-am- mueggelturm.de), Bezirkspolitiker setzen sich für ihn ein, im neuen Gastronomiekonzept soll auch er seinen festen Platz finden. Wird schon werden hier oben, irgendwie, denkt man beim Abstieg. Der Kampfradler hat sich inzwischen verzogen. Nach viel zu kurzer Zeit ist der Fuß des Berges erreicht. Willkommen in der Ebene. Da ist auch schon der Bus.

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