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Archaische Landschaft. „Leviathan“ spielt an der Barentsee. Ein starker Film, in Deutschland hat er keinen Verleih.

© p-a/dpa

Favoriten für den Europäischen Filmpreis: Der weite Kontinent

Wenn am Samstag in Riga die Europäischen Filmpreise vergeben werden, sind die großen Filmnationen schon aus dem Rennen. Die Favoriten unter den Nominierten kommen aus Skandinavien und Osteuropa.

Wenn das mal keine Premiere ist in über einem Vierteljahrhundert Europäischer Filmpreis: Zur Verleihung am 13. Dezember in Riga ist kein einziges Werk aus den großen altwesteuropäischen Produktionsländern als bester Film nominiert. Die fünf Titel kommen aus Skandinavien (Lars von Triers dänisches „Nymphomaniac“-Doppel und „Höhere Gewalt“ des Schweden Ruben Östlund), aus Altosteuropa („Leviathan“ des Russen Andrej Swjaginzew und, aus Polen, Pawel Pawlikowskis „Ida“) sowie mit Nuri Bilge Ceylans „Winterschlaf“ aus der Türkei.

Nichts also mit Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien, die zusammen – und in dieser Reihenfolge – die knappe Hälfte der über 3000 Akademiemitglieder stellen und insofern im Nominierungsverfahren, sofern sie denn national gestimmt wären, einiges für ihre jeweiligen Filmlandsleute hätten tun können. Immerhin setzten sich in den letzten zehn Jahren achtmal Filme aus diesen Ländern durch – drei aus Deutschland, je zwei aus Frankreich und Italien sowie einer aus Großbritannien. Wenn nun diesmal aus diesen Regionen gar nichts an der Shortlistspitze gelandet ist, so bedeutet das durchaus eine kleine Revolution – zumal die großen Fünf im Auswahlzeitraum Sommer 2013 bis Sommer 2014 viel Achtbares auf die Festivals und ins Kino gebracht hatten.

Kein Ken Loach, kein Wes Anderson, kein Olivier Assayas

Allerhand Großmeister hatten diesmal bereits auf der 50 Titel umfassenden Vorauswahlliste das Nachsehen, die von den 20 mitgliederstärksten Ländern jeweils mit einem nationalen Vorschlag bestückt wird – die 30 restlichen Titel werden von einer Fachjury hinzugefügt. Kein Ken Loach („Jimmy’s Hall“), kein Wes Anderson („The Grand Budapest Hotel“), kein Olivier Assayas („Die Wolken von Sils Maria“). Mike Leighs „Mr. Turner“ und „Zwei Tage, eine Nacht“ der Dardenne-Brüder schafften es zumindest mit Schauspieler-Nominierungen – für Timothy Spall und Marion Cotillard – in die Finalrunde. Nicht so Edgar Reitz’ „Die andere Heimat“, der deutsche Kandidat in der Vorauswahl; andere durchaus konkurrenzfähige deutsche Filme wie „Kreuzweg“ von Dietrich Brüggemann oder Philipp Grönings „Frau des Polizisten“ tauchen dort gar nicht erst auf.

Aber wozu jammern, schon gar mit Blick auf nationalen Proporz, wenn es um die Besten Europas geht? Und wenn das Kino aus den fragilen Rändern des Kontinents derzeit dem Rest Europas am meisten zu sagen hat? Schon die Nominierungen in den fünf Kernkategorien Bester Film, Regie, Drehbuch, Schauspielerin und Schauspieler (die Preise in sechs Nebenkategorien von Kamera bis Kostümbild werden vorab von einer Jury vergeben) sind hierfür ein beeindruckendes Votum. Denn alle Filmakademiemitglieder – sie erhalten die Filme per Video-on-Demand – bestimmen sie in geheimer Wahl, ebenso wie die am Sonnabend zu kürenden Sieger in den Topdisziplinen.

Europäischer Wille am Werk

Da ist also ein übergreifend sensibler europäischer Wille am Werk – mit den Worten der Academy-Geschäftsführerin Marion Döring das „gute Zeichen, dass unsere Mitglieder nicht national wählen“. Von der Qualität dieses Befunds können sich auch die deutschen Kinogänger überzeugen; vier der fünf Bewerber um den Hauptpreis sind, mit wechselndem Erfolg, hierzulande bereits angelaufen. Den Anfang machte Lars von Triers skandalumwittertes Sexsüchtigen- und Masochistinnen-Doppel „Nymphomaniac“ mit Charlotte Gainsbourg. Auffallend ist dabei übrigens, dass der angesichts des Reizthemas eher mittlere Kassenerfolg in Deutschland (200 000 Zuschauern für beide Filme) das Echo in der europäischen Cineasten-Hochburg Frankreich noch spürbar übertraf.

Umgekehrt erging es dem polnischen Kandidaten: Das im Frühjahr gestartete formstrenge Schwarz-Weiß-Kleinod „Ida“ um eine junge Nonne und ihr Familiengeheimnis aus der Nazizeit lockte in Deutschland nur 18 000 Zuschauer, in Frankreich waren es eine halbe Million; mit insgesamt fünf Nominierungen darf der Film zumindest numerisch als Favorit gelten. Auch „Höhere Gewalt“, vor drei Wochen gestartet, läuft hierzulande mit eher mageren Besucherzahlen. Ruben Östlund erzählt darin, Ingmar Bergman nacheifernd, von der unaufhaltsamen Dekonstruktion einer schwedischen Kleinfamilie während eines Skiurlaubs in den französischen Alpen.

"Winterschlaf" hat gute Chancen auf die Trophäe

Schon möglich allerdings, dass die beiden starken Bewerber aus der äußersten, derzeit auch politisch hoch bewegten Peripherie Europas das Gewinnspiel unter sich ausmachen – mit ihrem metaphorisch durchdringenden und gesellschaftliche Defekte schonungslos ausleuchtenden Blick auf ihre Heimat. Im türkischen Dreistundenfilm „Winterschlaf“, seit Donnerstag in den deutschen Kinos, macht es sich ein intellektueller, eitler Patriarch in seiner Ehe und in der kappadokischen Dorfnachbarschaft, über der er als Hotelbesitzer wie ein Lehnsherr thront, grässlich bequem.

Und das Russland in „Leviathan“ – kein Kinostart einstweilen bei uns, ebenso wenig in Russland – scheint vom titelgebenden Seeungeheuer nahezu zerfetzt. Alkoholsucht, Machismo, Waffenwahn, Gewalt und Korruption zerfressen und zerstören die nachbarschaftlichen, freundschaftlichen und familiären Beziehungen in einem Dorf am Polarkreis. Ein Befund, der sich wohl stellvertretend für das ganze riesige Land lesen lässt.

Im Mai gewann „Winterschlaf“ in Cannes die Goldene Palme, „Leviathan“ nur den Drehbuchpreis. Ob es diesmal bei der Vergabe der gesamteuropäischen Trophäe wieder so kommt wie im vergangenen Jahr? Bei der Filmpreis-Gala in Berlin musste sich der französische Cannes-Sieger „Blau ist eine warme Farbe“ dem italienischen Drama „La grande bellezza“ geschlagen geben, der im Wettbewerb um die Goldene Palme leer ausgegangen war. Ausgleichende Gerechtigkeit nennt man das – in Sachen Europa auch sonst eine feine Sache.

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