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Queere Trinktradition seit 1977. Das Neue, vormals Andere Ufer, in der Hauptstraße.

© Thilo Rückeis

Café Neues Ufer in Berlin-Schöneberg: Palmen, Sterne und Rosen

Das Schöneberger Café Neues Ufer war als "Anderes Ufer" einst das erste offen schwul-lesbische Café Berlins. Bis heute ist es ein Traditionslokal der queeren Szene.

Das Blumenmeer ist verschwunden. Nur ein Wachsfleck und ein Rosenblütenblatt erinnern daran, dass hier Anfang Januar ein spontaner Gedenkort für den verstorbenen David Bowie entstanden war. Wenn jetzt Blumen, Kerzen oder Karten vor seinem einstigen Wohnort in der Schöneberger Hauptstraße abgelegt werden, sammeln die Bewohner sie schnell wieder ein. Es ist ihnen ein bisschen zu viel geworden.

Viele Fans des britischen Pop-Genies, die auf den Berliner Spuren ihres Idols wandeln, gehen nach ihrem Besuch noch zwei Häuser weiter zur Nummer 157. Dort können sie einen weiteren Bowie-Ort erleben: das Café Neues Ufer, das damals noch Anderes Ufer hieß. An einem sonnigen Sommernachmittag als noch wenig Betrieb ist, kommt ein Grüppchen von ihnen herein und schaut sich neugierig um. Es sind Teilnehmer des Bowie-Stadtrundgangs, der stets hier endet. „Normalerweise fotografieren sie jeden Winkel“, sagt Frank Wacker lächelnd.

Der Chef des Cafés sitzt an einem der quadratischen Holztische im vorderen Teil seines Ladens und begrüßt den eintretenden Tourguide Philipp Stratmann. Von ihm hat er am 11. Januar vom Tod des Stars am Vortag erfahren. Er habe das erst für einen schlechten Scherz gehalten, so Wacker. Und dann stand auch schon sein Laden Kopf. „Presse, Fernsehen, Fans. Es ging drunter und drüber. Die Leute haben geweint, getanzt, gelacht, gefeiert – bis morgens um sechs.“ Er selbst stand bis zum Schluss hinter der Theke.

Im Fenster lehnt ein Plakat mit dem Motiv von Bowies letzter Platte „Blackstar“. Die Wände des Cafés ziert eine kleine Ausstellung mit Bowie-Fotos, wobei Wacker betont, dass auch schon vor dem Tod des Musikers Bilder von ihm hier hingen. Ein großes Porträt neben dem Kücheneingang ist noch mit Trauerflor geschmückt – ein beliebtes Fotomotiv.

Das erste offen schwul-lesbische Café Deutschlands

David Bowie kommt 1976 nach Berlin, im Jahr darauf eröffnet am 1. April das Andere Ufer. Der Name ist programmatisch: Die Gründerväter Gerhard Hoffmann und Reinhard von der Marwitz sind ein Paar und wollen sich nicht verstecken. Mit dem offensiven Gebrauch einer eigentlich abwertend gemeinten Formulierung, deuten sie diese quasi um. Ähnlich funktioniert die Rückeroberung der Begriffe schwul und Schwuler. Noch revolutionärer als die Namensgebung ist allerdings das Konzept des Ladens: Es gibt weder eine Klingel noch sind die Fenster mit dicken Vorhängen verhängt, das ist damals noch Standard bei Bars für Homosexuelle. Ins Andere Ufer kann man einfach hereinspazieren und auch hineinschauen – es ist das erste offen schwul-lesbische Café Deutschlands.

Natürlich können auch heterosexuelle Gäste hier Kaffee oder Bier trinken. „Sich allzu selbstvergessen küssende Heteropärchen werden jedoch trotzdem vom schwulen Personal ermahnt, ,bitte doch Rücksicht auf die anderen Gäste zu nehmen‘“, wie sich der Künstler, Musiker und Autor Wolfgang Müller in seinem Buch „Subkultur Westberlin 1979-1989“ erinnert.

Der Mitbegründer der Band Tödliche Doris arbeitet ab 1980 im Anderen Ufer – für fünf Mark Stundenlohn. Das Café läuft gut, es finden ständig wechselnde Ausstellungen statt, bei denen teilweise das gesamte Lokal umgebaut, neu gestrichen und dekoriert wird. Gerhard Hoffmann und Reinhard von der Marwitz sind regelrechte Szenemotoren, die schon die Politzeitung „Schwuchtel“ herausgebracht haben und seit 1981 auch den Albino Verlag für schwule Literatur betreiben. „Je prominenter die Autoren sind, je edler die Bücher ausgestattet werden, umso hauchzarter muss der Gouda geschnitten werden, der den Frühstückskunden im Anderen Ufer serviert wird“, schreibt Wolfgang Müller.

Offenbar nimmt das keiner der Gäste krumm, man kommt schließlich nicht aus kulinarischen Gründen. Der Laden wird zu einem aufregenden Subkultur-Ort, der viele Kreative anzieht. Blixa Bargeld und Gudrun Gut lernen sich hier kennen, beide stellen auch aus (laut Müller werden ihre Werke schnell wieder entfernt). Auch Rio Reiser, Nina Hagen, Tabea Blumenschein und Marianne Rosenberg kommen. Und David Bowie, der bis 1978 in Berlin wohnt. Er schaut morgens zum Kaffeetrinken vorbei, wohl auch mal auf einen Whisky oder eine Bohnensuppe. Manchmal ist sein Kumpel und Wohnungsnachbar Iggy Pop dabei. Ob die beiden hier auf dem Weg in die Hansastudios zündende Einfälle für Alben wie „Heroes“ oder „Idiot“ haben? Man weiß es nicht.

Verbürgt ist jedoch eine Anekdote, die sich nicht lange nach der Eröffnung des Anderen Ufers ereignet: Unbekannte haben die Scheibe eingeworfen, der zufällig vorbeikommende David Bowie hält mit den Kellnern Wache, bis die Glaserei eintrifft – und zahlt später deren Rechnung.

Es war brechend voll hier drin

Der heutige Chef Frank Wacker kommt 1985 zum ersten Mal ins Andere Ufer. Er ist gerade mal 20, reist aus seinem kleinen Heimatort in Niedersachsen an und besucht eine Freundin, die in Berlin studiert. Weil er die Länge der Hauptstraße unterschätzt, steigt er am Innsbrucker Platz aus und läuft dann ewig zu Fuß. „Es war brechend voll hier drin“, erinnert sich Wacker. „Ich war ziemlich überfordert und nach ein paar Minuten wieder draußen. Getrunken habe ich nichts.“

Als er drei Jahre später nach einer Banklehre zum Medizinstudium nach West-Berlin zieht, wird er Stammgast. So bemerkt er auch, dass der Laden um die Jahrtausendwende herum in schwieriges Fahrwasser gerät. Nachdem Reinhard von der Marwitz 1995 gestorben war, führt Gerhard Hoffmann das Café noch bis 1998 weiter und verkauft es dann. In der Folge wechselt mehrmals der Inhaber, doch offenbar hat keiner das richtige Händchen.

Irgendwann ist die Tür zu und drinnen Tohuwabohu: „Die Stühle lagen kreuz und quer herum, die Scheibe der Kuchentheke war eingeschlagen“, sagt Frank Wacker, der damals durchs Fenster reinspäht. Ihm tut das Chaos in seinem geliebten Café in der Seele weh. Also findet er über den Hauswart den Eigentümer heraus und bewirbt sich bei der zuständigen Brauerei. Obwohl er keine Gastronomie-Erfahrung hat, setzt er sich gegen die anderen Interessenten durch und beginnt im Januar 2003 mit den dreimonatigen Renovierungsarbeiten. Elektrik, Sanitärbereich, Beleuchtung, Mobilar – alles wird erneuert. Den Namen ändert Frank Wacker ebenfalls:  „Ich wollte dokumentieren, dass das jetzt ein Schnitt ist und signalisieren: Es geht auf zu neuen Ufern.“

Die Verbindung zur Tradition des Ortes bleibt dabei erhalten. So trägt das Neue Ufer noch immer die Palmen im blau-gelben Logo, die von einem Künstler angebrachte Metallverkleidung der Wände ist ebenso geblieben wie die Position der Theke vorne links. Man merkt dem Laden an, dass hier jemand mit ganzem Herzen bei der Sache ist. Auf allen Tischen stehen Blumen, es gibt eine gute Auswahl an Zeitschriften und Zeitungen, das Getränkeangebot ist solide und in der lange reparierten Kuchentheke thronen zwei prachtvolle Exemplare. Frank Wacker, der sich in der Übergangszeit ein paar mal vom Café-Vater Gerhard Hoffmann beraten ließ, steht selber vier bis fünf Mal in der Woche hinter der Bar. Die Arbeit macht dem schlanken, freundlichen Mann mit der schwarzen Brille immer noch Spaß.

Sein Stammpublikum ist weiterhin queer, die Regenbogenfarben an der Fassade und ein Aufkleber an der Tür deuten auf die Szenezugehörigkeit hin. Insgesamt kehre aber eine bunte Mischung bei ihm ein – von der Rentnerin bis zum Juristen, so Wacker. Und eben die Bowie-Fans. Die warteten nach dem letzten Berliner Auftritt des Starman im Jahr 2003 vergeblich, dass er zu ihrer After-Show-Party ins Ufer kommt.

Leider wird der Laden in seiner späten Berlin-Hommage „Where Are We Now?“ nicht erwähnt. Immerhin sieht man im Video zu dem melancholischen Song die Fassade seines einstigen Wohnhauses. Dort enthüllt nun der Regierende Bürgermeister Michael Müller am 22. August um 11 Uhr eine Gedenktafel für den Musiker und Schauspieler. Ein paar frische Blumen werden sicher zu diesem Anlass auch wieder abgelegt werden – und anschließend geht’s auf ein Getränk ins Neue Ufer.

Alle Folgen aus unserer Serie "Berliner Ufer" lesen Sie hier.

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