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Hochwasser an der Elbe: Das Versinken der Kindheit in der Flut

Annett Gröschner ist in Magdeburg aufgewachsen, die Wohnung ihrer Eltern lag auf einer Elbe-Insel. Als die Pegel nun bedrohlich stiegen, fuhr die Berliner Schriftstellerin an den Ort ihrer Kindheit und schrieb ihre Beobachtungen auf.

Für die meisten von uns existiert so etwas wie eine Kindheitsinsel. Ein elysischer Ort, der sich immer weiter von uns entfernt, je älter wir werden. Ich hatte das Glück, dass Imagination und Realität zusammenfielen. Ich bin auf einer Insel in der Elbe aufgewachsen, mitten in Magdeburg, zwischen dem westlichen Ufer der Stromelbe – bei den Inselbewohnern auch „Stadt“ genannt –, und Ostelbien am östlichen Ufer der Alten Elbe. Der Werder, aus Großem und Kleinem Werder bestehend, ist ein kaum fünf Kilometer langes künstliches Gebilde, durch Wasserbaukunst zurechtmodelliert, links die Stromelbe für den Schiffsverkehr, rechts die Alte Elbe, dazwischen ein alter Elbarm im Rotehornpark, der im Norden zur Zollelbe mit dem Winterhafen wird und der die Gabe hat, sich in bestimmte Situationen an seine frühere Mächtigkeit zu erinnern. In der Mitte der Insel zehn Straßen mit 3000 Bewohnern.

Dass es vor der Bebauung mit Mietshäusern und Villen hier die verwunschenen Gärten des Seidenfabrikanten und Kunstliebhabers Bachmann gab, in denen Friedrich Gottlieb Klopstock vor genau 250 Jahren lustwandelnd seinen Messias geschrieben haben soll, und wo auch Anna Louise Karsch, die preußische Sappho, zu Gast war, dass auf der Insel die Bassmechanik für das Akkordeon und das Speiseöl für Deutschland entwickelt worden sind, 1927 von Johannes Göderitz das noch heute existierende erste Fertigteil-Montagehaus errichtet wurde und Mies van der Rohe einen luftigen, aber wegen seiner Emigration nicht mehr verwirklichten Glasbau für das Werkbundmitglied Margarete Hubbe entworfen hat, das hält man in der Stadt nicht für besonders erwähnenswert. Glückliche Insel hat Klopstock den Werder genannt. Daran möchte ich heute, angesichts einer möglichen Katastrophe, gern glauben. Aber die Insel hat schon beim letzten großen Hochwasser 2002 so verdammt viel Glück gehabt.

Seit im 19. Jahrhundert die ersten Wohnhäuser auf dem Werder errichtet wurden, hat man mit der Möglichkeit der Überschwemmung gelebt. Tiefe Keller gab es nicht, nur Souterrains. Erst nach der Wende und mit dem Furor der Überheblichkeit des Siegers in allen Gewichtsklassen, wurden die ersten Tiefgaragen gebaut. Als Kind fand ich es faszinierend, wenn vor unserem Wohnzimmerfenster das Wasser Zentimeter um Zentimeter stieg. Ich wünschte mir, wir würden mit dem Schlauchboot direkt aus der vierten Etage abgeholt. Nie aber war die Insel untergegangen, überspült oder auf den bewohnten Teilen auch nur überschwemmt worden, denn es gab seit 1875 das Pretziener Wehr, das die Stadt mit seinem Umflutkanal vor den Fluten schützt. Seit seiner Eröffnung ist es 63 Mal gezogen und der Werder so vor einer Überflutung geschützt worden.

Das Jahrhundert der Hochwasser scheint begonnen zu haben

In diesem Sommer wohne ich seit 30 Jahren in Berlin. Ich liebe die Stadt, ich bin hier zu Hause. Aber die Elbe habe ich immer vermisst, denn die Spree oder die Havel „Fluss“ zu nennen, ist für ein Elbekind irgendwie albern. Seit meiner Kindheit übt Hochwasser auf mich eine Faszination aus. Immer, wenn der Pegel über fünf Meter steigt, muss ich zurück auf die Insel, als könnte ich ihr mit meiner Anwesenheit irgendwie beistehen. Im Sommer 2002 hatte ich einen Tag lang Sandsäcke gefüllt und an der Zollstraße abgelegt, aber am Ende hatten nur noch die großen holländischen Big Bags ein Absaufen des Werders verhindert.

Diesmal scheinen mir die Bewohner, vielleicht aus Routine, vielleicht aus besserer Informiertheit durch das Internet, gelassener zu sein als vor elf Jahren. Am Mittwoch standen meine Schwester und ich mit vielen anderen an der Zollstraße. Hinter den Sandsackwällen hatte ein reges öffentliches Leben begonnen, das es sonst hier so nicht gibt. Die Leute machten Picknick auf den öffentlichen Plätzen, halfen sich gegenseitig beim Ausräumen der Erdgeschosse oder standen zusammen und redeten über das Wasser.

Es machte kaum Geräusche, im Gegenteil, schrecklich still schoss es an uns vorbei. Auf der anderen Uferseite sang eine Nachtigall, und ab und an kam die Feuerwehr und kontrollierte die Sandsackhaufen. Nebenan, im „Theater an der Angel“, sollten eigentlich die Proben zur alljährlichen Sommerproduktion beginnen, aber zuerst hatte das Ensemble die Requisiten aus dem Souterrain unters Dach schleppen müssen. Der Kartenverkauf für das Stück mit dem ahnungsvollen Titel „Sommertraumschiff und Sinkspiel“ ist vorerst ausgesetzt, geprobt wird trotzdem.

Seit Donnerstagabend, als der Höchstpegel von 6,72 Metern aus dem Jahr 2002 überschritten wurde, sickert das Wasser durch die Sandsäcke auf der Insel, und der Pegel steigt und steigt. Mit einem halben Meter mehr wird gerechnet. Vor allem die Alte Elbe, in normalen Zeiten fast ausgetrocknet, ist zu einem mächtigen Strom angeschwollen und bedroht die Ostseite der Insel.

„Ist denn die Elbe immer noch dieselbe, fragt sich der Dom und wundert sich“, hieß es in einem sozialistischen Magdeburger Kinderlied, das mich bis heute peinlich berührt, wenn ich es zufällig höre. Die Frage muss man inzwischen mit „Nein“ beantworten. Von den zehn höchsten Pegelständen der letzten 100 Jahre wurden in den letzten elf Jahren allein fünf gemessen.

Wäre sie eine Person, könnte man behaupten, die Elbe rächt sich für die Jahrzehnte, in denen sie die Industrieabwässer von der tschechischen Quelle bis nach Hamburg transportierte. Weil sie in den siebziger Jahren in Magdeburg so dreckig war, dass sie die Kühlkreisläufe verstopft hätte, wurde das geplante dritte Kernkraftwerk der DDR nicht kurz hinter Magdeburg, sondern 70 Kilometer nördlich hinter Stendal errichtet. Aber die Lage ist komplexer. Was vor elf Jahren, zwei Jahre nach dem Beginn des neuen Jahrhunderts, so vollmundig als Jahrhunderthochwasser bezeichnet wurde, war wohl etwas Tiefgreifenderes: Der Beginn des Jahrhunderts der Hochwasser in Mitteleuropa.

Annett Gröschner lebt seit 1983 in Berlin. Ihr 2000 erschienener Roman „Moskauer Eis“ spielt über weite Strecken auf dem Magdeburger Werder. Auch „Mit der Linie 4 um die Welt“ (2012) hat seinen Ursprung dort.

Annett Gröschner

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