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Warte, bis es heller wird. Vera (Deborah Francois) trägt noch die Tiermaske von der komischen Party, Axl (Fernando Tielve) hat morgen sicher wieder alles vergessen.

© Koolfilm

Neu im Kino: "London Nights": Unordnung ist das ganze Leben

Zufälle, Finten, Verfehlungen: "London Nights" von Alexis Dos Santos ist ein hinreißender Film über ein paar Twentysomethings.

So kann man das natürlich auch machen. Keine Vornamen, keine Handynummern, eilig auf den Handrücken gekritzelt. Stattdessen: „Du sagst wann und ich sag wo.“ Auch wenn man sich dann fast verfehlt am Dienstagvormittag auf dem Broadway Market im Londoner East End, irgendwie zu viele Leute da. Aber dann den erstbesten Zug nehmen ans Meer! Kleines Hotel, Liebe am Nachmittag, und nachher – oder war’s vorher – erzählt jeder ein Geheimnis. Nur immer noch nicht die Vornamen, Zahlen, Fakten. Stattdessen eine neue Verabredung, nächstes Level: Donnerstag in Soho. Mannmannmann, das war jetzt aber doch zu allgemein.

Vera, sie ist aus Belgien und jetzt eine Zeitlang in London, macht das so. Sie lernt den Typen im „Lost & Found“ kennen – oder war’s woanders –, da hat sie gerade Schluss gemacht mit Luca. Immerhin, sie probieren Daten aus: Ich Stewardess. Du der Typ an der Kontrollschleuse. Wir irgendwer. Auch Axl, er ist aus Spanien und eine Zeitlang in London, macht das eigentlich nicht anders. Er sucht seinen englischen Vater, der ist abgehauen, da war Axl drei. Und jetzt haust Axl in dem besetzten Haus im East End und zieht sich den Business-Blazer von irgendwem an, oder war’s eine Schuluniform? Und er sagt dem Mann im Maklerbüro, der sein Vater ist: „Ich heiße Mike und studiere Betriebswirtschaft.“

Zufälle, Finten, Verfehlungen. Verlieren, Finden, Verlieren. In einem ordentlichen Film würde es jetzt oder ein bisschen später zum großen Psycho-Showdown zwischen Vater und Sohn kommen. Oder Axl und Vera, sie hat irgendwann Axls ausrangierte Matratze für sich selber aus dem Keller geholt in dem besetzten Haus im East End, würden sich verlieben, zwei verlorene Seelen in der großen fremden Stadt. „London Nights“ aber ist ein unordentlicher Film, so unordentlich wie sein Originaltitel: „Unmade Beds“. Klar sind dann eher gemachte als ungemachte Betten zu sehen, festgehalten auf Polaroids. Vera macht so Fotos in Hotelzimmern, wenn der Typ vorher noch im Bad verschwindet. Welcher Typ? Na, der Namenlose zum Beispiel.

Und unordentlich erzählt Alexis Dos Santos – er ist 36 und aus Argentinien und hat sich ziemlich lange in Europa rumgetrieben – seine Geschichte auch noch. Springt oder schwenkt oder schwankt auch hin und her zwischen Vera, übrigens der schlechtesten Buchhändlerin der Welt, Axl, dem kindlichen Komasäufer und Partylöwenbaby, und dem nicht besonders großen Unbekannten, ach ja, und einen richtigen Mike gibt es auch noch. Er arbeitet im „Lost & Found“, dem Club, der vielleicht ein bisschen überdeutlich so heißt, aber das macht nichts, solange man dort „Cherry Blossoms“ von den Tindersticks hören kann oder „Don’t Be Upset“ von Jeffrey Lewis. Oder war auch das anderswo, die Szene an der Bar, als Vera sich mit dem Namenlosen zart an das teenage feeling erinnert, ein oder zwei oder auch hunderttausend Jahre her und fünf Minuten vor ihrem ersten Kuss?

„London Nights“ spielt heute, so viel ist sicher, aber die Möbel sind vom Sperrmüll wie in den Siebzigern und das Licht ist warm wie manchmal in den Neunzigern. Es gibt auch schon mal ein Handy, aber man lässt es klingeln, die analoge Gegenwart, diese komische Sache, geht vor. Und es gibt seltsame, ziemlich eckige Geräte, die eine Art Seele haben: ein eigensinniger 45er-Plattenspieler zum Beispiel, der nur abspielt, was er selber mag, oder auch ein reichlich ausgeflipptes Preisauszeichnungstackermaschinchen, so’n Zeug eben. Auf nichts kann man sich verlassen hier in dieser Gegend von London und in diesem Film und diesem Text, aber wer will das schon?

Also: Momente. Aber was für Momente. Wenn Vera und der Namenlose, jetzt allein, die paar Zimmer aufsuchen, in denen sie zusammen waren, und dann ist da bloß ihr suchendes Streicheln über Hotelflurgeländer, als wüssten die was. Oder die letzte Feuerzeugszene zwischen Axl und Anthony, so heißt der Maklerpapa, von den lustigen Streichholzszenen mal abgesehen. Und das Happy End, sehr zufällig, das große und, wo wir schon dabei sind, zwei winzigkleine nebenbei, so klein, dass man sie fast verpasst. So jung alles. So schön. Gesehen mit der sanft mitstreunenden Kamera von Jakob Ihre, gespielt von Déborah François (Vera), Fernando Tielve (Axl), Michiel Huisman (der Namenlose) und all den tollen anderen. Ach was, gespielt.

FT Friedrichshain, Kant; OmU im Babylon Kreuzberg, Freiluftkino Insel im Cassiopeia, Hackesche Höfe und Moviemento

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