zum Hauptinhalt
Frommes Gewimmel. Die Thorner Passionstafel, um 1480 entstanden, versetzt die Ostergeschichte nach Nordeuropa.

© Thorn/Torun, Kosciól i Parafia swietego Jakuba w Toruniu

Erst Niedergang, dann urbane Blüte: Wie sich europäische Städte im Mittelalter modernisierten

Eine große Ausstellung erzählt vom Aufstieg des Bürgertums in Europa – und davon, welche Rolle das Magdeburger Recht dabei spielte.

Beim letzten Abendmahl sitzt Jesus mit seinen Jüngern in einem holzgetäfelten Saal, durchs bleiverglaste Fenster geht der Blick auf die mit Zinnen besetzte Stadtmauer. Gegeißelt wird er an einer schlanken gotischen Säule. Unter einem Kreuzrippengewölbe, das in einen Kirchenchor passen würde, flechten ihm Schergen die Dornenkrone ins Haar. Und hinter dem Kalvarienberg, auf dem der Heiland gekreuzigt wird, erhebt sich eine Burg in prächtigem Weiß.

Die Thorner Passionstafel vereint knapp zwei Dutzend Szenen aus der Passionsgeschichte und der Osterzeit zu einem frommen Wimmelbild. Jesus bewegt sich mit seinen Anhängern und Schindern durch enge Gassen und schaukastenartige Gebäude, denen die Frontfassaden fehlen.

Das monumentale Gemälde, das um 1480 in den Niederlanden entstand und ursprünglich in der 1834 abgebrochenen Thorner Dominikanerkirche hing, gehört zu den Prunkstücken der Ausstellung „Faszination Stadt“ im Kulturhistorischen Museum Magdeburg. Geschildert werden die Leiden des Gottessohnes als gegenwärtiges Ereignis, das biblische Jerusalem ist in die Kulissen einer mittelalterlichen Stadt versetzt.

Nach dem Niedergang der antiken Städte erlebte Europa im Mittelalter eine neue urbane Blüte. Sie begann in Italien, wo Venedig, Genua und Pisa zu Handelszentren aufstiegen, aber auch im Norden des Kontinents wurden alte Städte wiederbelebt und neue gegründet. Eine besondere Rolle spielte dabei das Magdeburger Recht, welches das Verhältnis von Landesherrn und Bürgern neu ausbalancierte und von über tausend Orten vor allem in Mittel- und Osteuropa übernommen wurde.

Breslau, Krakau und Buda – westlicher Teil des heutigen Budapest – waren von den Mongolen zerstört worden und führten nach ihrem Wiederaufbau das Magdeburger Recht ein. Die Einflusssphäre reichte bis tief nach Russland hinein. „Überall östlich der Oder-Neiße-Grenze ist das Magdeburger Recht bis heute sehr viel bekannter als in Deutschland“, sagt Museumsdirektorin Gabriele Köster.

Städte existieren seit 6000 Jahren

Die Ausstellung beginnt mit dem angeblich ältesten Stadtplan der Welt, einer Tonscherbe, die um 1400 v. Chr. die Umrisse der mesopotamischen Stadt Nippur zeigt. Gleich daneben sind eine Bronzeplatte mit Auszügen aus dem römischen Stadtrecht von Lauriacum an der Donau, ein chinesischer Stadtgott aus der Ming-Dynastie und ein Personalausweis zu sehen, den die Stadt New York seit 2015 an ihre Einwohner ausgibt.

Städte existieren seit 6000 Jahren, und heute, da 55 Prozent der Weltbevölkerung in ihnen leben, sind sie vitaler denn je.

[Kulturhistorisches Museum Magdeburg, bis 2. Februar. Der Katalog kostet in der Ausstellung 28, im Buchhandel 68 €]

Große Ambitionen haben die Ausstellungsmacher, statt trockene Rechtsgeschichte zu präsentieren, wollen sie den Blick auf die ganze Stadtgesellschaft richten, Verbindungslinien in die Gegenwart ziehen, den Aufstieg des Bürgertums erklären. Dafür bieten sie auf einer Fläche von 1200 Quadratmetern 408 Exponate auf, die Leihgaben kommen aus zwölf Ländern.

Noch einmal soll der Glanz der drei Ottonen-Ausstellungen, mit denen das Haus von 2001 bis 2012 für Aufsehen sorgte, in das Museum zurückkehren. So wurden alle vier erhaltenen Bilderhandschriften des Sachsenspiegels zusammengebracht, ausgeliehen aus Wolfenbüttel, Dresden, Heidelberg und Oldenburg.

In einer Illustration reicht Jesus vom Himmelsthron ein Schwert, Symbol des Rechts über Leben und Tod, an Papst und Kaiser herab. Ein paar Räume weiter liegen das Zeremonialschwert eines Stadtrichters und ein Richtschwert in einer Vitrine.

In der Hohlkehle des Richtschwerts, das aus Leutschau in der heutigen Slowakei stammt, auch Blutrinne genannt, ist zu lesen: „Wenn ich dis Schwerdt thue auffheben / So wunsch ich dem armen sunder das ewige leben.“

Stoßseufzer eines Henkers. Der Richter wachte über die Einhaltung der Prozessregeln, doch gefällt wurde das Urteil von Schöffen. Verhandelt wurde bis in die frühe Neuzeit unter freiem Himmel, oft in Nähe einer Rolandsfigur.

Fast drei Meter breit ist die Schöffenbank aus dem 13. Jahrhundert, die einst in der Berliner Gerichtslaube stand. Später wurde sie zur „Armesünderbank“, auf der Angeklagte im Rathausflur auf ihre Verhandlung warteten. Heute gehört die Bank dem Berliner Stadtmuseum und gilt als ältestes Sitzmöbel im deutschsprachigen Raum.

Das Magdeburger Recht stärkte die Unabhängigkeit der Schöffen, indem es sie vom Stadtrat trennte. Darin kann man eine Vorform der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative sehen.

Überhaupt wirkt einiges an dem Recht aus Magdeburg bereits überraschend modern. Die Nachfolger der elf auf Lebenszeit bestimmten Schöffen wurden von den Schöffen selbst gewählt. Schriftliche Aufzeichnungen erhielten Beweiskraft, die Aussagen von Tatzeugen wurden wichtiger als der Beistand von Eidhelfern.

Töchter und Söhne sollten gleichberechtigt erben. Sippenhaft wurde abgeschafft. Verkäufer hafteten für ihre Waren, in ökonomisch verbundenen Gesellschaften herrschte Rechnungslegungspflicht.

Auch einem Trinkgefäß in Phallusform begegnet man

Mit ihrem enzyklopädischen Ansatz gleicht die Ausstellung einem Füllhorn, sie verliert sich in Details. In zehn Kapiteln werden alle Aspekte mittelalterlichen Städtelebens abgearbeitet. Ratsherrschaft und Öffentlichkeit kommen genauso vor wie Wehranlagen und religiöse Vielfalt, Einwanderung, Textilhandel und Bergbau.

Vieles ist interessant, manches sehenswert, anderes – ein Trinkgefäß in Phallusform – bloß kurios.

Zu den Preziosen gehört eine geschweifte Fiale vom Altar der Krakauer Marienkirche, dazu Abgüsse der Figurenköpfe, die von Veit Stoß stammen. Sie zeigen grimmig schauende Propheten. Auf einem Portalbogen kämpfen zwei drachenartige Eidechsen miteinander, Heiligenfiguren, gotische Möbel und Renaissancetüren zeugen vom Reichtum der Patrizier.

Magdeburg, einst eine der prachtvollsten deutschen Städte, wurde zweimal zerstört, im Dreißigjährigen Krieg und am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Auf dem Gelände des Heilig-Geist-Spitals, das um 1200 gegründet wurde und zu den ältesten Sozialeinrichtungen Europas zählt, sind zwei Dutzend Krückstöcke ausgegraben worden. Ganz nach den Bedürfnissen ihrer Besitzer geformt, sind sie kurz oder lang, gerade oder gebogen, mit Griff oder eiserner Spitze versehen. Ihre Schlichtheit überstrahlt den Reichtum vieler anderer Schaustücke.

Zur Startseite