zum Hauptinhalt
Klarer als diese Demonstranten auf der Anti-Legida-Demonstration in Leipzig kann man Raed Salehs Anliegen nicht zusammen fassen: Islam ist nicht gleich Islamismus!

© dpa

Islamismus-Debatte: Raed Saleh: „Terror hat keinen Gott“

Nach den Anschlägen von Paris warnt der SPD-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus von Berlin, Raed Saleh: Wer den Islamismus als Problem des Islam darstellt, spielt den Ideologen des Terrors in die Hände. Ein Gastbeitrag.

In der letzten Woche haben islamistische Terroristen den Schrecken wieder nach Europa gebracht. Die kaltblütigen Morde in unserer Partnerstadt Paris haben sich gegen die Pressefreiheit, gegen das jüdische Leben in Europa und gegen die Polizei gerichtet. Wir – die Politik, die Gesellschaft, die Religionen und die Medien – sind aufgestanden gegen den Versuch, durch Terror unsere Werte anzugreifen. 18.000 Menschen haben am Wochenende allein in Berlin ihr Mitgefühl und ihre Solidarität mit Frankreich ausgedrückt.

Unzählige Kommentatoren haben in den letzten Tagen versucht, den Terror einzuordnen und ihn irgendwie erklärbar zu machen. Einige Kommentatoren lehnten dabei die Aussage, dass diese „Fanatiker nichts mit dem Islam zu tun“ haben (Frankreichs Präsident François Hollande), ab – und argumentierten, der Islamismus sei eben doch ein Problem des Islam. Schließlich seien auch die Kreuzzüge und die Inquisition im Namen des Christentums begangen worden. So schrieb der Journalist Michael Martens etwa in der „FAZ“: „Die Inquisition hatte auch etwas mit dem Christentum zu tun.“ Ähnlich äußerte sich auch die niederländische Ex-Politikerin Ayaan Hirsi Ali.

Die Inquisition wurde theologisch begründet, der Terror nicht

Doch die historische Parallele ist keine: Die Kreuzzüge und die Inquisition wurden theologisch gerechtfertigt und von höchsten kirchlichen Autoritäten veranlasst. Beim islamistischen Terrorismus ist dies schlicht und ergreifend nicht der Fall. Die große Mehrheit islamischer Geistlicher und Theologen hat nie Terrorismus gerechtfertigt – und sich auch in der jüngsten Zeit sowohl vom IS als auch von den Terroranschlägen in Paris klar distanziert. Die meisten Opfer des islamistischen Terrors sind – global betrachtet – selbst Muslime.

Wer also nun den Islam nicht von den Islamisten trennt, spielt ungewollt den Ideologen des Terrors in die Hände. Denn diese wollen ja genau als Repräsentanten des Islam gelten. Doch Fakt ist: Es gibt keine religiöse Rechtfertigung für Mord. Terror hat keinen Gott.

Der Islam gehört zu Deutschland, Deutschland zum Islam

Andere Kommentatoren haben den Terror mit Integrationsproblemen, Benachteiligungen und einer schlechten sozialen Lage der Muslime in Europa in Verbindung gebracht. Aber auch bei dieser Erklärung ist Vorsicht angebracht. Jüngst ergab eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, dass weniger als ein Prozent der deutschen Muslime radikal-islamisch denkt. Weiter hieß es, dass auch fromme Muslime zu über 90 Prozent der Demokratie als Regierungsform zustimmen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich längst ein europäischer Islam herausgebildet hat, bei dem die Religion mit der europäischen Kultur und Tradition verschmolzen ist. Die meisten Muslime in Europa denken und leben säkular, ohne sich von ihrer Religion zu verabschieden. Diese Bürgerinnen und Bürger interessieren sich auch viel weniger für die religiösen Konfliktlinien in der arabischen Welt. Wer behauptet, Demokratie und Islam seien nicht vereinbar, der redet an der gesellschaftlichen Mitte der Migrantinnen und Migranten vorbei. Nicht nur gehört der Islam schon längst zu Deutschland. Auch Deutschland – und die europäische Lebensweise insgesamt – gehören längst zum Islam. Daran wird der Terror nichts ändern.

Das heißt nicht, dass wir keine Integrationsprobleme mehr hätten. Es heißt nur, dass diese nicht Folge einer Religion sind. Eindrucksvoll zeigt dies die Arbeit der Stadtteilmütter in Berlin: Sie erreichen oft abgeschottete Familien, werben erfolgreich für den Kitabesuch, Sprachkurse und Vorsorgeuntersuchungen. Integrationsprobleme sind die Folge von Sprach- und Bildungsdefiziten, von mangelndem Respekt vor staatlichen Autoritäten und manchmal auch von Diskriminierung einerseits und fehlender Motivation andererseits. Aber die betroffenen Gruppen sehnen sich nicht nach der Scharia, sondern nach einem Eigenheim. Deshalb richtete sich der Terror von Paris in letzter Konsequenz auch gegen die Integration von Muslimen in Europa.

Erklärungsmuster für den Terror sind haltlos

Die Radikalen wollen die Deutungshoheit nicht dem Alltag, dem praktischen Leben überlassen, sondern ihre Ideologie über alles stellen. Damit dürfen sie nicht durchkommen – auch nicht über den Umweg der Islamophobie, die durch den Terror zweifellos neue Nahrung erhalten hat. In den letzten Tagen bekomme ich viele Anrufe von muslimischen Freunden, aber auch von anderen Migranten, die Angst haben, für den Terror in Mithaftung genommen zu werden. Frauen, die ein Kopftuch tragen, berichten mir von Beschimpfungen und Pöbeleien. Ein anderer Migrant fragte mich: Kann ich abends noch mit meiner Frau über den Ku’damm laufen oder wird das zu gefährlich? Ich möchte nicht, dass sich Berlinerinnen und Berliner auf öffentlichen Plätzen, abends in der Bahn oder auch im Café mit Misstrauen begegnen. Und genau das will die Mehrheit in unserer Gesellschaft auch nicht.

Der Versuch der Rechtspopulisten, aus dem Terror Profit zu schlagen, ist beispielsweise in Dresden zumindest am vergangenen Samstag eindrucksvoll gescheitert. 35 000 Bürgerinnen und Bürger demonstrierten dort gegen die selbst ernannten Patrioten des Abendlands – das waren doppelt so viele Demonstranten wie bei den Pegida-Demos zuvor. Anders als die Rechtspopulisten, die von einer „Lügenpresse“ sprechen, haben sich die Gegendemonstranten übrigens klar an die Seite von Journalistinnen und Journalisten gestellt und die Pressefreiheit verteidigt. Viele Erklärungsmuster für den Terror laufen ins Leere, auch ich kann ihn nicht erklären. Aber vielleicht sollten wir uns nicht damit aufhalten, die verirrten Köpfe der Radikalen zu verstehen, sondern uns auf uns selbst zu besinnen.

Raed Saleh, 37, ist Chef der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Im Westjordanland geboren, wuchs Saleh in Spandau auf. Er engagiert sich unter anderem für Integration.
Raed Saleh, 37, ist Chef der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Im Westjordanland geboren, wuchs Saleh in Spandau auf. Er engagiert sich unter anderem für Integration.

© Mike Wolff

Es braucht Entschlossenheit, Wachsamkeit und ein demokratisches Miteinander

Die letzten Tage haben gezeigt: Unsere Gesellschaft will sich nicht spalten lassen. Sie hat den getöteten französischen Polizisten mit muslimischem Hintergrund genauso betrauert wie die Opfer in einem jüdischen Supermarkt. Sie hat, wie es Malte Lehming im Tagesspiegel formuliert hat, die „gemeinsame Wiederentdeckung der Meinungsfreiheit und der Religionsfreiheit“ begonnen. Kein Kriegs- und kein Rachegeschrei, kein Untergraben unserer Bürgerrechte durch einen neuen „Patriot Act“, sondern ein entschlossener Kampf gegen die Feinde der offenen Gesellschaft – das ist es, was wir jetzt brauchen. Denn Gefahren gibt es auch bei uns.

Etwa 7000 Salafisten leben in Deutschland, davon haben sich einige dem gewaltbereiten Islamismus verschrieben. Etwa 230 Gefährder soll es nach Angaben der Sicherheitsorgane geben. Im Verhältnis zu den vier Millionen deutschen Muslimen mag das eine kleine Zahl sein – aber wenige Extremisten reichen offenbar, um unser friedliches Zusammenleben zu bedrohen. Darum brauchen wir Wachsamkeit und eine gute Zusammenarbeit von Polizei, Verfassungsschutz, Verbänden und religiösen Gemeinden.

Natürlich sind die muslimischen Gemeinden nicht schuld am Terror, doch bei der Prävention haben sie eine Verantwortung zur Wachsamkeit, gemeinsam mit der ganzen Gesellschaft. Dazu sind sie bereit, wie beispielsweise die Äußerungen des Vorsitzenden der Sehitlik-Moschee, Ender Cetin, gezeigt haben. Auch die positiven Reaktionen auf meinen Vorstoß zu einem Staatsvertrag mit den muslimischen Verbänden in Berlin sind für mich ein gutes Zeichen: Die Gemeinden wollen das demokratische Miteinander von Staat und Gesellschaft, sie wollen teilhaben. Ein Staatsvertrag könnte die Prävention und den Austausch zwischen Staat und den muslimischen Gemeinden stärken. Es gibt sie also, die Antworten auf den Terror. Sie mögen kompliziert und langwierig sein, aber das ist immer so in einer offenen Demokratie.

Die Art und Weise, wie wir Europäer mit dem Terror umgegangen sind, die Solidarität, die Besonnenheit und das Mitgefühl über alle Grenzen zwischen Ländern, Religionen oder Völker hinweg: All das macht mir in den letzten Tagen mehr Hoffnung als Angst.

Raed Saleh

Zur Startseite