zum Hauptinhalt
Hand aufs Herz. Recep Tayyip Erdogan spricht anlässlich des 50. Jahrestages des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens.

© Reuters

Kontrapunkt: Was Erdogan und Sarrazin gemeinsam haben

Alles feiert, aber einer faselt von den "Genen". Anna Sauerbrey über frappierende Ähnlichkeiten im Denken des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und Thilo Sarrazins.

Von Anna Sauerbrey

Es hätte so schön sein können. Zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei kuscheln sich die Menschen eng aneinander. Deutsche mit deutschen Eltern, Deutsche mit türkischen (Groß-) Eltern, in Deutschland lebende Türken, hach, alle eins. Gemeinsam haben wir gewirtschaftswundert, Fremdenfeindlichkeit ertragen und überwunden, Gartenzwerge und Döner schätzen gelernt. Zur Feier des Tages wurde das Wort „Gastarbeiter“ endgültig aus dem Duden der politisch korrekten Sprache gestrichen. Und Thilo Sarrazin musste während der großen Sause abseits des Lagerfeuers sitzen, gefesselt und geknebelt wie der gallische Barde Troubadix.

Abseits? Geknebelt? Ist da nicht eine Stimme zu hören, die von „Genen“ faselt, vom Primat der „eigenen Sprache“, vom Bewahren der eigenen Kultur? Es ist nicht Sarrazin, der da die feierliche Harmonie mit schiefen Tönen stört, sondern der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Doch die Ähnlichkeit im Denken ist frappant.

Sarrazin hat den Vorwurf, sein Buch sei biologistisch, es reduziere die Menschen auf ihre genetischen Anlagen und spreche ihnen ein individuelles Potenzial ab, zwar bestritten. Doch im umstrittensten Kapitel seines Buches, jenem über „Demografie und Bevölkerungspolitik“, schreibt er vom „Volk in seiner kulturellen und physischen Eigenart“ und sinniert über dessen demografische Zukunft. „Wer dem Umstand, dass es eine deutsche Sprache und Kultur gibt, keinen eigenen Wert zumisst“, schreibt Sarrazin, „dem kann es auch gleichgültig sein, ob es künftig Menschen gibt, die diese Sprache und Kultur weitertragen.“ Er macht sich Gedanken zur Verringerung der durchschnittlichen Intelligenz durch die unterschiedlichen Geburtenraten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Kurz: Er denkt den Menschen von der Herkunft her.

Lesen Sie auf Seite 2, was dafür spricht, das auch Erdogan der Sarrazin'sche Kulturdarwinismus nicht fremd ist.

Vieles spricht dafür, dass auch Erdogan Sarrazins Determinismus und Kulturdarwinismus nicht fremd sind. „Unsere Menschen sind offen und loyal. Dies ist in unseren Genen“, gab er am Mittwoch in einem Interview zu Protokoll. Und: Ein Kind türkischer Eltern in Deutschland müsse zuerst die „eigene“ Sprache gut können. Ähnlich kennt man das schon von ihm. Schon in seiner bislang umstrittensten Rede in Deutschland, jener, die er 2008 in Köln hielt, ließ Erdogan diese Sichtweise durchblicken. Türkisch zu lernen sei das „natürliche Recht“ von Kindern türkischstämmiger Eltern. Seine deutsch-türkischen Zuhörer sprach er als seine „Brüder und Schwestern“ an. Er warnte vor der „Assimilation“, vor einer selbst-auslöschenden Anpassung an die Umwelt. Der Mensch mit türkischen Wurzeln, der zu „deutsch“ wird, so könnte man Erdogan lesen, schafft sich ab, wie sich nach Sarrazin die deutsche Gesellschaft abschafft, die zu viele Einwanderer aufnimmt.

Erdogans erneuter Auftritt als Partyschreck ist deshalb nicht nur politisch unklug und ermüdend. Der türkische Ministerpräsident bestärkt diejenigen, die er als seine Landsleute versteht, in ihrer Angst, ihre Identität zu verlieren. Doch die Idee, dass sich selbst aufgibt, wer sich an seiner Zukunft orientiert, nicht an seiner Herkunft, verstellt den Weg aus der sozialen Misere vieler Gastarbeiter-Nachfahren: den Weg des Pragmatismus und der Bildung. Wer Sarrazin und Erdogan folgt, bestärkt ein Klima der Resignation. Wer sich als vorherbestimmt begreift, handelt nicht. Das ist umso schlimmer, da Studien immer wieder belegen, dass es nicht ausschlaggebend für den schulischen Erfolg von Kindern aus Migrantenfamilien ist, welchen Bildungsstand ihre Eltern haben. Sondern welchen Wert die Eltern der Bildung zumessen, also welche Chancen sie für ihre Kinder sehen.

Es gibt kein „natürliches Recht“ darauf, die Sprache der Urahnen zu erlernen. Aber es gibt eines, an der Gesellschaft des Landes, in dem man lebt, teilzuhaben. Und das kann nur, wer nicht sprach-los ist. Knebeln sollten wir nur wenige: die Barden, die den Ton nicht treffen. Ab unter den Baum.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false