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Gauck als Präsident: Mit einer Fackel durchs Land

Die Bundesrepublik bekommt mit Joachim Gauck einen Präsidenten, den die Wende zum Politiker gemacht hat.

Nur auf den ersten Blick ist diese Kandidatur eine schlichte Korrektur. Sicher, Joachim Gauck wird nun, was er schon vor zwei Jahren hätte werden können. Aber wenn er jetzt doch noch ins Schloss Bellevue einzieht, geschieht mehr: Uns holt, fast unverhoffterweise, der deutsche Herbst von 1989 ein und damit die Vereinigung, die unser Nachkriegsschicksal so glückhaft gewendet hat. Das lenkt den Blick darauf, dass die Botschaft dieser Ereignisse auch nach zwei Jahrzehnten noch besteht - und dass sie nur zum Teil eingelöst ist.

Denn der große Impuls von ostdeutscher Selbstbefreiung und deutsch-deutscher Vereinigung hat zwar unzweifelhaft Epoche gemacht. Er hat das Land und seine Menschen in einem Maße verändert, über das wir uns kaum noch Rechenschaft geben. Aber wahr ist auch, dass wir, Staat und Gesellschaft, diesem großen historischen Anstoß - und nicht zuletzt dem Erbe der friedlichen Revolution und des Willens zur Einheit - vieles schuldig geblieben sind, im Osten wie im Westen. Die Hoffnung, die Richard von Weizsäcker am 3. Oktober 1990 in seiner Rede beim Vereinigungsstaatsakt aufpflanzte - dass sich der „gewachsene Verfassungspatriotismus“ der alten Bundesrepublik und die „erlebte menschliche Solidarität“ in der DDR zusammenfänden -, ist verblasst. Sie ist nicht wirklich zu einer motivierenden Kraft geworden.

Da ist es ein bedeutender Vorgang, wenn die Bundesrepublik einen Präsidenten bekommt, den die Wende zum Politiker gemacht hat. Denn Gauck ist nicht stehen geblieben bei dem Aufbegehren, das damals Geschichte machte. Er hat das Erbe von 1989/90 umgesetzt in ein engagiertes, bewusstes und gewolltes Leben mit dieser Republik. In einer beispielhaften Identifikation mit ihr ist er zu einem inspirierenden und überzeugenden Wanderprediger von Demokratie und Freiheit geworden. Mit dieser Kandidatur ist auch nicht nur ein Ostdeutscher dabei, Staatsoberhaupt zu werden. Denn das ist er geblieben - ein halbes Leben schüttelt man nicht ab -, doch Gauck zeigt uns, wie man auf ostdeutsche – und, unüberhörbar, norddeutsch-mecklenburgische – Weise Gesamtdeutscher sein kann.

Das alles steckt in dem Bild der Freiheit, das Gauck wie eine Fackel durchs Land trägt. Liegt der Grund für die Resonanz, die er damit gewonnen hat, darin, dass man ihr anmerkt, dass es sich da nicht um eine Frucht vom Baume der Theorie handelt, erst recht nicht um eine Spielart des wutbürgerlichen Protestes? Auch mit dem Freiheitsbegriff der heutigen FDP hat sie vermutlich weniger zu tun als diese annimmt, auch wenn sie seiner Kandidatur den letzten Schubs gegeben hat. Vor allem unverkennbar, dass diese Freiheit das Resultat gelebten Lebens ist - der Erfahrung der Existenz in der Diktatur wie ihres Abwerfens, wie, nicht zuletzt, der Öffnung für die Werte und Prinzipien von Demokratie und westlicher Lebensweise.

Ist das die Wurzel der Unabhängigkeit, die er ausstrahlt? Und die ihn - vor allem nach seiner ersten Präsidenten-Kandidatur - zu einer Gestalt mit erstaunlicher öffentlicher Wirkung gemacht hat? In seinem Lob der Freiheit spürten viele auch eine Freiheit gegenüber den Zwängen des Politikbetriebs, wie sie in einer durchmedialisierten Welt selten geworden ist. Und eine Hoffnung für unsere Demokratie, für deren Begründung man vielleicht - der Anlass legt es nahe - ein Wort des ersten Bundespräsidenten heranziehen darf: Die Freiheit der vielen, so Theodor Heuss, ist das Ergebnis der Freiheit der Einzelnen.

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