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Soldaten der Bundeswehr im Camp Taloqan.

© Reuters

Nach Amoklauf: Afghanistan: Bleiben, trotz allem

Das jüngste Versagen von US-Soldaten in Afghanistan darf nicht zum Anlass für einen schnellen Abzug genommen werden. Der Westen steht in der Pflicht. Was er am dringendsten bräuchte, ist, was er am wenigsten hat: Zeit und Geduld.

Von Michael Schmidt

Die Afghanistan-Mission des Westens ist gescheitert. Der Krieg gegen religiöse Fanatiker und mörderische Extremisten ist verloren, der Kampf um die Herzen und Köpfe des Volkes nicht zu gewinnen. So erscheint es. Denn die Demokratie am Hindukusch ist nach wie vor mehr Behauptung als Realität. Menschen- und Frauenrechte drohen zur Verhandlungsmasse in Gesprächen mit den Taliban zu werden. Ein verlorenes Jahrzehnt, das tausende Soldaten und Zivilisten Gesundheit und Leben gekostet hat. Die Forderung der Stunde kann darum nur lauten: Nichts wie raus. Je früher, desto besser.

Aber stimmt das?

Man kann das so sehen. Längst gelten die internationalen Truppen eher als Besatzer denn als Helfer. Und es darf bezweifelt werden, ob der Riss, der sich zwischen dem Westen und den Afghanen aufgetan hat – durch Videobilder von US-Soldaten, die auf getötete Afghanen urinieren, durch Koranverbrennungen und durch Massaker –, überhaupt noch zu kitten ist. Man kann das so sehen.

Aber Angela Merkel sieht es nicht so.

Die Fortschritte reichten nicht, stellte die Kanzlerin jetzt fest, deshalb könne sie nicht sagen, ob die Bundeswehr wie geplant 2014 abziehen werde. Sie stellte also den vereinbarten Termin infrage, allerdings nicht, um die Armeeangehörigen früher nach Hause zu holen, sondern um ihnen zu sagen: Es könnte länger dauern. Und Merkel tut gut daran.

Das jüngste Versagen der US-Soldaten und die Proteste, die es auslöst, zum Anlass zu nehmen, der Kriegsmüdigkeit daheim nachzugeben, wäre ein Fehler. Weil es die Aufständischen stärken würde. Weil es Schmach und Schande für die Nato bedeutete, für das vermeintlich stärkste Verteidigungsbündnis der Weltgeschichte, mit unabsehbaren Folgen für dessen Abschreckungsfähigkeit. Vor allem aber, weil es einer Flucht aus der Verantwortung gleichkäme.

Jetzt abzuziehen, vorzeitig, wäre voreilig. Es hieße, das Versprechen zu brechen, das der Westen durch seine Intervention den Frauen, den Jungen, den mutig für ein anderes, besseres Afghanistan Kämpfenden gegeben hat: Ihr seid nicht allein. Der Westen steht hier im Wort – und in der Pflicht. Er sollte alles für ein großes Dennoch tun: dem Scheitern die Stirn bieten, den Extremisten entgegenstehen, für Demokratie und Rechtsstaat werben. Er sollte, wie Sisyphos, wissend um die Wahrscheinlichkeit des Misslingens, den Stein doch immer wieder den Berg hinaufrollen.

Denn das ist es, was dieser vermaledeite Krieg für die Zukunft an Lehren bereit hält, dieser Krieg, der aus berechtigter Empörung über den Terror von Al Qaida begonnen wurde und sich dann als fahrlässig optimistisch erwies, was die Chancen des Aufbaus eines modernen Staates anbelangt: Die Gestaltungsmacht des Westens ist begrenzt; alte Regime lassen sich einfacher hinwegfegen als Nationen neu gestalten; und Werte sind kein Exportgut wie viele andere.

Nicht der Versuch an sich ist falsch. Doch das könnte eine naiv ehrgeizige Politik vom nüchternen Militär lernen: Hohe Erwartungen an schnelle Lösungen vertiefen Probleme eher, als dass sie sie lösen. Kulturen wandeln sich nicht von heute auf morgen, sie widerstehen. „Der Afghane“ ist ja nicht an sich rückständig, gewalttätig, unbelehrbar. Die Afghanen sind vielmehr zu Recht zornig, weil die Nato Fehler macht und Erwartungen enttäuscht. Was der Westen am dringendsten bräuchte, ist, was er am wenigsten hat: Zeit und Geduld.

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