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Rechtsextremismus: Die 90 vergessenen Opfer

Die Statistik über rechtsextreme Morde seit 1990 ist lückenhaft – 90 Todesopfer sind in den offiziellen Angaben nicht aufgeführt. Mit dieser Diskrepanz beschäftigt sich nun auch das Parlament.

Von Frank Jansen

Berlin - Die enorme Diskrepanz zwischen der offiziellen Zahl der Todesopfer rechter Gewalt und dem erschreckenden Ergebnis einer Recherche von Tagesspiegel und „Zeit“ beschäftigt nun Bundestag und Bundesregierung. Die Zeitungen kamen im September 2010 auf 137 Todesopfer, die Regierung spricht bis heute, gestützt auf die Angaben der Polizeien der Länder, von lediglich 47 Toten. Die Linksfraktion hat in der vergangenen Woche eine detaillierte Große Anfrage gestellt, in der alle 90 Todesopfer aufgelistet sind, die in den Angaben der Regierung nicht auftauchen. So will die Fraktion beispielsweise wissen, warum der Dreifachmord ungenannt bleibt, den der Neonazi Thomas A. im Oktober 2003 in Overath (Nordrhein-Westfalen) beging.

Der Täter erschoss mit einer Pumpgun den Anwalt Hartmut Nickel, dessen Tochter Alja sowie Nickels Ehefrau Mechthild Bucksteeg. Am Tag danach schrieb A. in einem Flugblatt, die „Befreiung des Reichsgebietes“ und die „Verfolgung der Hochverräter“ hätten begonnen. Das Landgericht Köln verurteilte A. zu lebenslanger Haft und ordnete Sicherungsverwahrung an – wegen der Gefahr, dass der Täter „den bewaffneten Kampf nach seiner Haftentlassung fortzusetzen gedenkt“. Doch selbst dieser braune Gewaltexzess ist bis heute nicht als rechtes Tötungsverbrechen eingestuft. Genauso wenig wie ein weiterer Dreifachmord aus dem Jahr 2003: Im Dezember erstach in Heidenheim (Baden-Württemberg) ein rechtsextremer Skinhead die jungen Spätaussiedler Viktor Filimonov, Waldemar Ickert und Aleksander Schleicher. In der offiziellen Statistik steht dazu nichts.

Im Februar dieses Jahres hatte auch die Linksfraktion im sächsischen Parlament die Landesregierung nach den Todesopfern rechter Gewalt befragt, die im Freistaat seit der Wiedervereinigung zu beklagen waren. Die Fraktion zählte aus der Liste von Tagesspiegel und „Zeit“ elf Tote auf, die sächsische Polizei hatte nur fünf als Opfer rechter Gewalt registriert. Und dabei blieb es. Der Vorwurf einer willkürlichen Einordnung entbehre „jeglicher Grundlage“, schrieb Innenminister Markus Ulbig (CDU) in seiner Antwort.

Das Bundesinnenministerium sieht bisher auch keinen „Aktualisierungsbedarf“, wie es jetzt in einer Stellungnahme zu Fragen des Tagesspiegels heißt. „Polizeiliche Fachgremien“ in Bund und Ländern hätten die „Thematik Todesfälle infolge rechter Gewalt“ nach den Zeitungsberichten vom September 2010 untersucht. Das Ergebnis: Eine Antwort der Regierung aus dem Jahr 2009 auf eine Große Anfrage der Linksfraktion zu rechtsextremen Tötungsdelikten habe das Thema „umfassend aufgearbeitet“. Die Fraktion hatte damals aber keine Einzelfälle genannt, sondern pauschal nach rechten Tötungsverbrechen seit 1990 gefragt. Dennoch zeigte sich schon da, dass die offizielle Zahl einer Korrektur bedarf. Zwei Länder meldeten aus den neunziger Jahren vier weitere Todesopfer.

Nach den Zeitungsberichten vom September 2010 war die Empörung groß. Das „Auseinanderklaffen“ der Zahlen sei „skandalös“, sagte die Sprecherin der Grünen-Fraktion für Strategien gegen Rechtsextremismus, Monika Lazar. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) warf der Regierung vor, ihre Angaben zu Todesopfern rechter Gewalt seien „immer unglaubwürdig“ gewesen, „egal welche Partei gerade das Sagen hatte“. Auch Politiker von Union, SPD und FDP sahen Fragebedarf. Doch nur die Linkspartei unternahm etwas, um zu klären, warum in den offiziellen Statistiken 90 Todesopfer rechter Gewalt fehlen.

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