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Der an Krebs erkrankte Präsident Hugo Chávez verstarb gestern Abend. Sein Tod stürzte das venezolanische Volk in eine tiefe Trauer.

© dpa

Venezuelas Präsident ist tot: Hugo Chavez: Das Ende eines großen Patriarchen

Für viele Venezolaner lebt ihr Präsident Hugo Chávez weiter. Er war ein Mann, der durch die Gefängnistür auf die Weltbühne gelangte und vor allem durch seine Niederlagen geprägt wurde - bis hin zum Größenwahn. Doch nicht seine Gegner in Washington oder Caracas haben ihn bezwungen, sondern der Krebs. Ein Nachruf.

Hugo Chávez gewann mehr Wahlen als jeder andere Politiker und betrat die Weltbühne doch als Verlierer. Es sind die Niederlagen, die ihn prägten, die ihn so selbstbewusst und selbstherrlich machten, dass sie den Mann aus kleinen Verhältnissen in eine der umstrittensten und schillerndsten politischen Figuren der Welt verwandelten. Ohne sie ist der außerordentliche Werdegang des Hugo Chávez nicht zu verstehen, der ein ganzes Land in ein Experimentierfeld verwandelt hat. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ soll entstehen. Mit ungewissem Ausgang. Nun hat Hugo Rafael Chávez Frías die Weltbühne wieder verlassen, erneut als Verlierer. Doch nicht seine Gegner in Washington oder Caracas haben ihn bezwungen, sondern – nach langem, quälendem Kampf – der Krebs. Auch das ist bezeichnend. Anders schien ihm, der noch bis 2031 Präsident bleiben wollte und eine „Goldene Dekade“ ab 2020 versprach, nicht beizukommen zu sein. Die messianische Verehrung vieler Venezolaner wird jetzt ins Unermessliche steigen. Als sich am Dienstag kurz nach 17 Uhr die Nachricht vom Tod des Präsidenten in Caracas verbreitet, brechen viele Menschen in Tränen aus, Hunderte ziehen zum Militärhospital, in dem Chávez zuletzt behandelt wurde. Sprechchöre erklingen: „Chávez lebt, der Kampf geht weiter!“ Einer sagt: „Der Kommandant wird für mich immer lebendig bleiben.“ Eine Frau diktiert einem Reporter der spanischen Zeitung „El País“: „Chávez hat uns eine Identität gegeben. Er hat uns gelehrt, kein falsches Leben mehr zu führen und uns so zu akzeptieren, wie wir sind. Wir haben jetzt ein Vaterland.“ Es ist diese Mischung aus Militanz, liebevoller Zuneigung und reflektiertem Selbstbewusstsein, die das Verhältnis vieler, vor allem ärmerer Venezolaner zu ihrem Präsidenten geprägt hat. Doch nicht nur dieser: Christina Fernández Kirchner, die Präsidentin Argentiniens, ist nun umgehend nach Caracas gereist; ebenso José Mujica, der Staatschef Uruguays und ehemalige Guerillero, auch bekannt als „ärmster Präsident der Welt“ weil er freiwillig nur 1000 Euro im Monat verdient.

Der Gigant Brasilien hat, wie viele Länder auf dem Kontinent, eine dreitätige Staatstrauer angeordnet (gäbe es so etwas in Europa?). Präsidentin Dilma Rousseff sagte bewegt: „Chávez hinterlässt in der Geschichte und im Herzen Lateinamerikas eine Leere. Er war ein engagierter Führer und ein großzügiger Mann.“ Nur aus den USA kam das dürre Statement von Barack Obama, dass man auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit der neuen Regierung hoffe. Diese hat – von Chávez dekretiert und nicht ganz verfassungskonform – sein Vize Nicolás Maduro übernommen. Er hat Neuwahlen innerhalb von 30 Tagen angekündigt. Auch diese wird Chávez' Bewegung wahrscheinlich auf einer Welle der Anteilnahme für ihren Gründer gewinnen. Wie so viele Revolutionäre kommt dieser Hugo Chávez durch die Gefängnistür auf die Bühne. Caracas, am frühen Morgen des 4. Februar 1992: Ein unbekannter 37-jähriger Oberstleutnant unternimmt mit ein paar Gesinnungsgenossen den waghalsigen Versuch, die unbeliebte Regierung Venezuelas zu stürzen. Doch der Aufstand ist schlecht geplant. Man hat keinen Rückhalt im Militär, und die Putschisten werden nach kurzen Kämpfen überwältigt. Als ihr Anführer gibt sich ein gewisser Hugo Chávez zu erkennen. Er schlägt vor, seinen Misserfolg öffentlich einzugestehen. Per landesweiter Fernsehübertragung.

Es ist Chávez' erster großer Auftritt und die Geburtsstunde des frei sprechenden Orators. Als Präsident wird er Jahre später seinen US-Amtskollegen George Bush vor der UN-Vollversammlung einen Teufel nennen und nach Schwefel schnuppern. Er wird den Papst angreifen: „Christus braucht keinen Botschafter, Christus ist im Volk.“ Er wird den Venezolanern in seiner allsonntäglichen Fernsehshow „Aló Presidente“ in stundenlangen Monologen seine Politik erklären, wenn nötig auch singend. Als er einmal auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre spricht, beginnt er seine Rede mit einer minutenlangen Ode: an die wunderbaren Berge, Flüsse, Wälder, Tiere und Menschen Südamerikas. In Europa stempelt man Chávez wegen dieses Stils schnell als irren Populisten ab. Doch das ist ein Missverständnis. Chávez versucht den Lateinamerikanern ein neues, ein südliches Bewusstsein einzupflanzen. Sie sollen stolz darauf sein, wer sie sind, sich nicht mehr klein machen und nicht mehr neidisch nach Norden schielen. Und Chávez weiß, wie man die großen Mythen wirksam in den politischen Diskurs einflicht: Wenn er seinen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ darlegt, beginnt er mit Jesus und landet über Thomas Jefferson, Simon Bolívar, Rosa Luxemburg und Ché Guevara schließlich bei sich selbst.

An jenem Februarmorgen 1992 aber tritt zunächst ein übernächtigter Fallschirmspringer vor 20 Millionen gespannte Venezolaner an den Fernsehgeräten. Seine Tarnuniform sitzt makellos, ebenso das rote Barett auf dem massigen Schädel. Und der Mann klingt nicht reumütig: „Als Erstes möchte ich dem venezolanischen Volk einen guten Tag wünschen“, setzt er an. Gefasst bedankt er sich bei seinen Kameraden. Sie alle gehören der kleinen, von Chávez gegründeten „Revolutionären Bolivarischen Armee“ an, einem Zusammenschluss linker Offiziere innerhalb des Militärs. Und sie alles sind entsetzt darüber, dass das Heer drei Jahre zuvor ausgesandt wurde, um einen Hungeraufstand niederzuschießen. Mindestens 400 Venezolaner waren im so genannten „Caracazo“ ums Leben gekommen. „Das Land muss sich auf den Weg in ein besseres Schicksal machen“, fordert Chávez nun. Und schickt hinterher: „Wir sind gescheitert, vorerst.“ Die Ansprache dauert nur kurz, doch sie macht den comandante mit einem Schlag berühmt. Schon am nächsten Tag tauchen „Viva Chávez!“-Graffiti in den Straßen von Caracas auf und sein Look wird Mode. Heute tragen Vierjährige in Venezuela rote Baretts. Es ist auch der Beginn einer militanten Bewegung. Die Studenten, die in dieser Woche in Caracas gegen die revolutionäre Bildungspolitik der Regierung mit einem Zeltlager protestierten, flohen Hals über Kopf nach Bekanntwerden von Chávez' Tod. Sie fürchteten die Wut seiner Anhänger.

Die USA sind geschockt: Chavez macht ernst

Der Nährboden für Chávez' Aufstieg ist die soziale Ungleichheit in Venezuela. Seit dem Ende der achtziger Jahre leidet die arme Bevölkerungsmehrheit unter den Strukturanpassungsprogrammen der internationalen Finanzinstitutionen. Sie haben die Preise für Nahrungsmittel und den öffentlichen Nahverkehr ins Unbezahlbare getrieben. Zwar ist Venezuela eine der größten Erdölfördernationen der Welt. Doch die Einnahmen aus dem Export fließen in die Taschen der weißen Oligarchie.

Es gärt also im Land. Und Chávez, der schon bald aus dem Gefängnis entlassen wird und durchs Land tourt, verspricht etwas Ungeheuerliches: Das Erdöl soll allen Venezolanern zugute kommen, den Slumbewohnern, den Kleinbauern, den Ureinwohnern. Chávez ist Mestize. Er sieht aus wie einer aus dem Volk, und er spricht auch so. Geboren wird er am 28. Juli 1954 in Sabaneta, einem Dorf im Südwesten des Landes. Seine Eltern sind Dorfschullehrer. Sie geben Hugo bald zur Großmutter, was ihn noch jahrelang ärgern wird. Mit 17 Jahren meldet er sich zur Militärakademie, wo er die Schriften Simón Bolívars studiert, der Südamerika im 19. Jahrhundert von der spanischen Kolonialherrschaft befreite. Chávez verehrt ihn als Visionär eines geeinten Lateinamerikas und als Kämpfer für die Armen. Es werden auch die Schwerpunkte seiner Politik. 1997 gründet Chávez die „Bewegung Fünfte Republik“ und wird ein Jahr später mit 56 Prozent der Stimmen Präsident.

Die US-Regierung und die venezolanische Elite sind geschockt. Umso mehr als Chávez ernst macht und unter anderem eine Agrarreform erlässt. Am 11. April 2002 kommt es zum Putsch gegen ihn. Daran beteiligt: die Oligarchie, private Fernsehstationen, die US-Regierung. Doch was macht Chávez? Er verwandelt den Coup zu seinem zweiten großen, aus einer Niederlage geborenen Sieg. Er weigert sich einfach, abzutreten. Zur Hilfe kommen ihm die Armen. Sie strömen zu Zehntausenden von den Hügeln zum Präsidentenpalast hinab und vertreiben die Putschisten, als diese gerade die Vereidigung des Chefs des Unternehmerverbandes zum neuen Staatsoberhaupt feiern. Chávez' Rückkehr ist triumphal. Und er hat verstanden, wer seine Feinde sind. Er radikalisiert seinen Kurs – insbesondere nachdem er auch noch einen zweimonatigen politischen Streik der Erdölarbeiter übersteht.

Im Westen betrachtet man Chávez linksnationalistische Politik von Beginn an mit Ablehnung. Wie gerufen kommt da seine Weigerung, die Lizenz derFernsehstation RCTV zu verlängern. Viele Medien bezeichnen ihn fortan als „Diktator“ (während tatsächliche Putschisten in Honduras oder Paraguay weiterhin als Präsidenten durchgehen). Dabei erhielte auch in Deutschland kein Sender eine Lizenz, der als Propagandazentrale für einen Militärputsch diente. Ebenso wenig lässt sich ein demokratisch stärker legitimierter Regierungschef finden. Chávez ist in vier sauberen Urnengängen zum Präsidenten gewählt worden, zuletzt im Oktober 2012 mit 55 Prozent der Stimmen. Er schlug 1999 eine neue Verfassung vor, der 71 Prozent der Wähler zustimmten.

Er überstand ein Referendum zu seiner Abwahl, gewann zudem mit seiner Bewegung zahlreiche Parlaments- und Regionalwahlen. Er war so an den Sieg gewöhnt, dass er nicht mehr verlieren konnte. Als die Venezolaner 2007 einen Verfassungszusatz ablehnten, der seine unbegrenzte Wiederwahl ermöglicht hätte, ließ er den Urnengang 2009 wiederholen – und siegte. Ebenso hat er den obersten Gerichtshof mit seinen Parteileuten besetzt und ein ungutes Klima der Gefolgschaft in den staatlichen Institutionen etabliert.

Ein Mann der Widersprüche.

Es sind die Widersprüche, die an Chávez so irritieren. Und die sein revolutionäres Projekt gefährden. Chávez wollte immer das Maximale, versuchte unmögliche Spagate, war oft auf Krawall aus. Auf der einen Seite nahm er die Rolle des lateinamerikanischen Caudillos ein, des starken Manns. Er feuerte seine Minister vor laufenden Kameras, sprach von sich in der dritten Person. Und er kümmerte sich um alles persönlich: vom Kauf russischer Kampfjets über die Nationalisierung von Gasförderanlagen bis zum Bau von Häusern im hinterletzten Dorf. Gleichzeitig aber wollte er eine partizipative Demokratie aufbauen und die Venezolaner zu mehr Eigeninitiative ermutigen. Wie das funktionieren sollte bei einem Führer, der einen von jeder Hauswand anschaut, blieb unklar. Als Anfang Januar die Feier zu seiner Vereidigung ohne ihn in Caracas stattfand, schworen Hunderttausende: „Yo soy Chávez!“ – Ich bin Chávez!

Man könnte sich stundenlang Anekdoten erzählen: Wie Chávez auf einem Gipfeltreffen Spaniens Ex-Premier Aznar einen Faschisten nennt – und der spanische König ihm rät, „die Klappe“ zu halten. Wie er sich von Naomi Campbell interviewen lässt oder Barack Obama ein Exemplar der „Offenen Adern Lateinamerikas“ schenkt (auf Spanisch, das Buch stieg bei Amazon sofort auf Platz eins). Dass er Sean Penn, Diego Maradona und Harry Belafonte zu seinen Freunden zählte.

Genauso endlos könnte man sich über die Folgen von 14 Jahren Chávez streiten. Er, der politische Autodidakt, wollte ein ganzes Land ad hoc umkrempeln. Das Ergebnis ist dementsprechend paradox.

Chávez goldene Regierungsjahre dauerten von 2004 bis 2008, als die Öleinnahmen sprudelten. Mit ihnen finanzierte er die „Misiones“: Nachbarschaftszentren, in denen Lesen und Schreiben gelehrt wird und die medizinische Versorgung kostenlos ist. Die Einschulung von Kindern fördert die Regierung mit gratis Mahlzeiten, außerdem öffnete sie Staatsläden mit billigen Grundnahrungsmitteln. Das positive Ergebnis: Zwischen 1998 und 2008 sank in Venezuela der Anteil der Armen von 60 auf 27 Prozent. Der Analphabetismus wurde beseitigt und Millionen von Menschen gingen erstmals zum Arzt. Das negative: Man gewöhnte sich an erdölfinanzierte Regierungsgeschenke; Bürokratie und Korruption infizierten die Programme.

Zudem versäumte es Chávez, neben dem Öl weitere Industrien aufzubauen. Weil alles mit Petrodollars importiert werden kann, wird in Venezuela nichts mehr produziert. Es ist zeitweise einfacher, in Caracas Whisky zu kaufen als Milch. Mal fehlt Reis, dann Mehl, dann Butter. Chavez` Rezept: Die Regierung lässt unter großem Tamtam die Lagerhäuser privater Unternehmen öffnen. Hinzu gesellt sich eine galoppierende Inflation. Doch weder mit ihr noch mit der extrem hohen Kriminalität oder der ausufernden Vetternwirtschaft bringen die Chavisten ihren Führer in Verbindung. Er steht über den Dingen, ähnlich wie sein Vorbild Fidel Castro in Kuba, wo er sich zuletzt zu langwierigen Operationen aufhielt.

Im Rest des Kontinents betrachtete man Chávez mit gemischten Gefühlen. Er war der radikalste Vertreter der neuen Linken und stahl Sozialdemokraten wie Lula da Silva die Show. Dass „dieser Chávez nervt“, stöhnte der Brasilianer. Die US-Regierung sah in Chávez unterdessen eine „Gefahr für die Region“. Dabei war er vor allem eine Gefahr für die Hegemonie der USA. Chávez strebte „La Gran Patria Latinoamericana“ an. Er gründete mit Ecuador, Kuba, Bolivien und Nikaragua den Wirtschaftsverbund ALBA, der auf dem Tauschhandel beruht: venezolanisches Öl gegen kubanische Augenärzte. Außerdem hat er sein Land in den Wirtschaftsraum Mercosur mit Argentinien, Brasilien und Uruguay geführt. Kleine karibische Nationen sowie Slums in den USA beliefert er mit günstigem Öl. Gleichzeitig hat er sich jedoch auch mit Gestalten wie Ahmadinedschad und Alexander Lukaschenko verbrüdert, weil diese vom „bösen Imperium“ USA bedroht werden. Genau wie er. Chávez' Weltbild ist schwarzweiß: „Sozialismus oder Tod!“

Von Napoleon, sagte Chávez einmal, habe er gelernt, dass es die historische Stunde, die strategische Minute und die taktische Sekunde gebe. Nun hat seine Zeit nicht einmal mehr gereicht, um seine vierte Amtsperiode auszufüllen. Er hinterlässt vier Kinder von zwei Frauen und 30 Millionen Venezolaner, die nicht wissen, wie es weitergehen wird. „Wir sind nicht perfekt, aber wir haben Demokratie“, sagte Hugo Chávez einmal. Das zumindest ist nicht so leicht zu bestreiten.

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