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Frau im Bergwerk von Dimitriv/Myrnohrad

© Yevgenia Belorusets

Yevgenia Belorusets: Überleben in der Ukraine: Wie flieht man in Gedanken? Yevgenia Belorusets dokumentiert den Konflikt

Der Krieg verändert alles. Die Künstlerin Belorusets hat die Geschichten von Kohlearbeitern in der Ostukraine in einem Erzählband gesammelt.

Da ist zum Beispiel der schwarze Regenschirm. An einer Bushaltestelle in Kiew liegt er, kaputt, seine Besitzerin ist eine von denen, die vor dem Krieg in der Ostukraine in die Hauptstadt geflohen ist. Die Frau läuft jetzt verloren durch die Stadt, den alten Regenschirm verfluchend.

Der Schirm, wie auch jedes andere Objekt in Yevgenia Belorusets Erzählungen, hält die Atmosphäre in einem Land fest, dessen Bewohner seit vier Jahren mit dem Krieg leben müssen. Die Künstlerin und Autorin stammt selbst aus Kiew, ist 38 Jahre alt und möchte, wie sie sagt, “die Menschen repräsentieren, die nicht an der großen Geschichte teilnehmen können.”

Das Leben im Krieg dokumentieren

Belorusets nennt die Menschen, die im Donbass leben, “Geiseln des Krieges”. In der Kohle produzierenden Region tobt der Konflikt zwischen pro-russischen Separatisten und der ukrainischen Armee. Zwischen 2014 und 2017 war Belorusets als Fotografin dort unterwegs, sprach mit den Menschen vor Ort und sammelte das Erzählte in einem Band. Sie betont aber, dass die Geschichten fiktiv sind.

Weit entfernt vom Krieg sitzt Belorusets im Berliner Spätherbst in einem Kreuzberger Café. Sie teilt sich ihre Zeit zwischen Kiew und Berlin auf, arbeitete unter anderem mit einem Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung an der Universität der Künste und als Übersetzerin im Residenzprogramm des Literarischen Colloquium am Wannsee. Im Sommer 2019 soll ihr Buch “Happy Fallings” bei Matthes & Seitz erscheinen (der deutsche Titel steht noch nicht fest).

Nach der Asow-Krise herrscht Angst

Die Szenen im Buch sind leicht, spielerisch - und machen trotzdem die ganze Tragik des Krieges verständlich. So kämpft die Floristin aus Donetsk, die ihren Laden und die Namen der Blumen liebte, jetzt in einem Bataillon. Aus ihrem Laden wurde ein Lager für Propagandaliteratur. Die Erzählungen zeigen die Komplexität des Lebens in einer umkämpften Region.

Im persönlichen Gespräch ist Belorusets bedacht und analytisch. Wer in diesen Tagen über die Ukraine spricht, spricht immer auch über die Krise im Asowschen Meer. Belorusets schaut ihrem Gegenüber eindringlich in die Augen: „Zum ersten Mal seit Anfang der Krise habe ich richtig Angst vor einem blutigen Krieg“, sagt sie.

Im November hatte die russische Küstenwache die Meerenge von Kertsch bei der Halbinsel Krim und den Zugang zum Asowschen Meer blockiert. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko rief daraufhin mit der Unterstützung des Parlaments das Kriegsrecht aus. Es gilt zunächst bis zum 26. Dezember in zehn Regionen an der Grenze zu Russland.

Vor der Asow-Krise glaubte Belorusets noch daran, Russland würde sich im Konflikt zurückhalten. In Kiew steht zwar noch ein Denkmal für die Freundschaft zwischen den "Brüdern" Russland und Ukraine, symbolisiert durch einen Regenbogen von 60 Metern Durchmesser. Aber der Mythos der Völkerfreundschaft sei nun endgültig vorbei, sagt Belorusets. Die Menschen in den Grenzregionen fühlten sich verloren. “Es gibt so viele Falschinformationen, sie wissen einfach nicht mehr, welcher Seite sie glauben sollen.“ Sich entscheiden zu müssen, wen man für schuldig erklärt, Ukraine oder Russland, das traumatisiert.

Der Bergbau ist wichtig für die Menschen in Donetsk

Belorusets hat Menschen in den Bergbaustädten Lissichansk, Wuhlehirsk (neben Debalzeve) und Pokrovsk besucht. Alle Städte liegen in der Region Donetsk, nahe der russischen Grenze und etwa 900 Kilometer östlich von Kiew. Die Männer und Frauen mit denen sie sprach, arbeiten meist im Bergbau. Die Frauen übrigens genauso hart wie die Männer, auch wenn die Jobs unterschiedlich sind: “Alle haben am Ende des Tages Ruß im Gesicht und Kohlestaub in der Lunge“, sagt Belorusets.

Kohle ist wichtig für die Region, die Städte hier sind rund um Bergwerke und Eisenbahnschienen entstanden. Ihnen hing der sowjetische Mythos der Arbeiterstadt an. Einst bot die Arbeit Erfüllung: Einwohner konnten darauf hoffen, nach der Arbeit im Bergwerk eine weitere Ausbildung zu machen - oder einen Universitätsabschluss. Damit ist nun Schluss, die universitären Verbindungen zwischen den Städten der Ostukraine und Kiew sind größtenteils gekappt.

Fliehen, wenn auch nur in Gedanken

Viele Menschen aus den Regionen müssen für Brotjobs nach Kiew ziehen oder noch weiter in den Westen auswandern, nach Polen. Doch nicht alle können sich das leisten und viele scheuen sich davor, ihre Häuser aufzugeben, oft ihr einziges Eigentum. Also suchen sie nach anderen Auswegen aus dieser Situation, über die nicht in Donetsk oder Lugansk, sondern in Kiew, Minsk und Moskau entschieden wird.

Die Künstlerin Yevgenia Belorusets
Die Künstlerin Yevgenia Belorusets

© Juri Kruchak

Auf der Suche nach diesen Auswegen, traf sich Belorusets mit den Kohlearbeitern. Sie ließ ihre Gesprächspartner reden. „Mir war es wichtig, sie erzählen zu lassen und zu hören, wie sie sich selbst sehen.“ Sie fing die Geschichten und Fantasien ein, die sie sich selbst und anderen erzählten, um innerlich aus ihrer Situation zu fliehen. “Die Frauen haben viel offener mit mir geredet als die Männer. Sie fühlen sich nicht so wichtig und haben nicht so eine große Angst um die Wirkung ihrer Worte.“ Sie hätten ihr viele ungelöste Probleme offenbart, die die Ukraine habe. Dazu gehört, dass Binnenflüchtlinge und Menschen, die in oder nahe den Kriegsgebieten leben, sich nicht genügend von der Regierung geschützt fühlen.

Die Solidarität mit Binnenflüchtlingen schwindet

„Es gab mal eine große Solidarität mit den Binnenflüchtlingen“, sagt Belorusets. Doch diese steht nun durch die populistische Ideologie des Krieges in Frage, die die Bewohner in den besetzten Gebieten zu prorussischen Separatisten erklärt. Belorusets kritisiert die politische Propaganda der Regierung, die an rechtsextreme Tendenzen anknüpfe. Für die kommende Präsidentschaftswahl lautet Poroschenkos Slogan: “Armee. Sprache. Glauben.” Natürlich geht es um die ukrainische Sprache und den ukrainisch-orthodoxen Glauben.

„Ich war immer kritisch gegenüber der ukrainischen Regierung“, sagt Belorusets. Die Arbeit im Donbass habe sie noch kritischer gemacht, weil sie gesehen hat, was dort alles nichts funktioniere. Seit 2014 regiert Petro Poroschenko, er war nach der europafreundlichen Maidan-Revolution vom Winter 2013/14 zum Präsidenten gewählt worden. Der milliardenschwere Oligarch versprach große Reformen, sagte der Korruption den Kampf an und wollte das Wahlsystem fairer gestalten. Doch die Veränderungen kommen nur langsam voran. Internationaler Währungsfonds und Europäische Union machen Druck, zum Beispiel soll noch vor Ende des Jahres ein Gerichtshof für Korruptionsfälle eingerichtet werden. An einen EU-Beitritt glaubt Belorusets im Moment nicht. Aber sie hofft, dass er irgendwann kommt.

Klare Haltung von Deutschland gewünscht

Jetzt wünscht sie sich, dass die im Friedensprozess zwischen der Ukraine und Russland involvierten Länder - Frankreich und Deutschland - eine klare Haltung annehmen. Wie viele Ukrainer glaubt Belorusets daran, dass ganz pragmatische, ökonomische Gründe eine Eskalation von russischer Seite verhindern könnten. Die neue Gaspipeline „Nord Stream 2“ ist ein wichtiger Faktor. Sollte es diese alternative Energieversorgung geben, hätten die Russen weniger Skrupel, die Ukraine anzugreifen. Aktuell wird russisches Gas neben der Ostseepipeline auch durch die Ukraine nach Europa geliefert.

Die Ausrufung des Kriegsrechts erklärt Belorusets mit den kommenden Wahlen. Der Slogan des Präsidenten zeigt schon, dass er sich stark zeigen will. Sie hofft, dass es wirklich bei den 30 Tagen bleibt und dass den Menschen die Grundrechte erhalten bleiben.

Aber ein Krieg verändert alles. Auch wenn der Konflikt schon seit Jahren besteht, würde jetzt all das, worüber sie nachdenkt und die Grundlage ihrer Arbeit darstellt – die soziale Absicherung, die Arbeitsbedingungen der Menschen im Donbass, die Einhaltung der Menschenrechte – zu banal. „Ich kann mich nicht mehr darauf konzentrieren, was mich ursprünglich beschäftigte. Wenn es Krieg gibt, geht es um Leben und Tod.“

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